R. Wecker u.a. (Hrsg.): Eugenik und Sexualität

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Titel
Eugenik und Sexualität. Die Regulierung reproduktiven Verhaltens in der Schweiz, 1900–1960


Autor(en)
Wecker, Regina; Braunschweig, Sabine; Imboden, Gabriela; Ritter, Hans Jakob
Erschienen
Zürich 2013: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
201 S.
Preis
€ 31,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Mischa Gallati, Institut für Populäre Kulturen, Universität Zürich

In den letzten Jahren mehrten sich die Publikationen, welche sich mit Eugenik in verschiedensten Kontexten auseinandersetzten, und die deren Verständnis als rein reaktionäres, wenn nicht gar nationalsozialistisches Projekt zu relativieren halfen.1 Vielfach förderten die Untersuchungen hingegen mannigfaltige Widersprüche zu Tage, etwa zwischen diskursivem Totalitätsanspruch der Eugeniker und konkreter, ambivalenter Praxis (beispielsweise in der Fürsorge), zwischen Zwangscharakter und der in einigen Ländern, etwa der Schweiz, stets geforderten „Freiwilligkeit“ eugenischer Maßnahmen. Die nun vorliegende Publikation von Regina Wecker, Sabine Braunschweig, Gabriela Imboden und Hans Jakob Ritter zu Eugenik und Sexualität in der Schweiz zwischen 1900 und 1960 knüpft an den Forschungsstand nahtlos an und fügt ihm eine überaus wichtige Nuance hinzu, wenn die Autor/-innen ihre Ergebnisse wie folgt zusammenfassen: „Eugenik – Wissenschaft, Handlungsmuster und Ideologie zugleich – war in der Schweiz nicht trotz, sondern wegen ihrer Ambivalenzen und Widersprüche so einflussreich und nachhaltig.“ (S. 163)

Auch wenn die Autor/-innen die Entwicklung in der gesamten Schweiz zwischen 1900 und 1960 im Auge haben, argumentieren sie mittels einer regionalen Perspektive, indem sie hauptsächlich mit Akten der Basler Psychiatrie arbeiten. Die induktive Verallgemeinerung auf den nationalen Raum gelingt dabei im Großen und Ganzen gut, auch dank umsichtigen Verweisen auf weitere Studien, die andere Regionen und Länder beleuchten. Mitunter ist aber nicht immer klar, wie groß die Reichweite der Aussagen tatsächlich ist.

Eugenik und Sexualität – auch lange nach Michel Foucaults Überlegungen zur Sexualität schwingt nach wie vor ein vermeintlich antagonistisches Verhältnis dieser beiden Begriffe nach (und das Spiel mit diesen Begriffen gibt, dies nebenbei, dem Titel der Publikation wohl auch den nötigen drive): Hier die „gute“, da „natürliche“ Sexualität, deren freie Entfaltung erwünscht ist, und die immer wieder von neuem erkämpft werden muss, da die „böse“ Sozialtechnologie und Pseudowissenschaft Eugenik, welche Sexualität zur Reproduktionsfunktion eines imaginierten „Volkskörpers“ degradiert und diese daher in einem repressiven Sinn zu kanalisieren und unterdrücken versucht. Dabei lassen sich beide Begriffe durchaus zusammen denken, waren doch sowohl Sexualreform als auch Eugenik Kinder der gesellschaftlichen Modernisierungsphase um 1900, und beide forderten die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung. Die aus dieser grundlegenden Feststellung entwickelte Fragestellung des Bandes dreht sich daher um den Einfluss eugenischer Diskurse und Praktiken auf einen weniger repressiven Umgang mit individuell unterschiedlichen sexuellen Verhaltensweisen.

So interessant sich das Setting des Bandes anlässt, eines kann damit nicht eingelöst werden: Wir erfahren letztlich wenig darüber, wie Sexualität, verstanden nicht als Antipode zur repressiven Eugenik, sondern durchaus konstitutiv von dieser (und anderen kulturellen Normen und Vorstellungen) geprägt, von den Menschen (mit und ohne psychiatrischen Zugriff) ge- und erlebt wurde. Auch wenn insbesondere in den aus psychiatrischen Akten gewonnen Fallbeispielen durchaus Aussagen gemacht werden, die interessante Rückschlüsse auf gelebte Sexualität und eigensinniges Handeln zulassen: Die Akteurinnen und Akteure bleiben merkwürdig blass, ihr Handeln wenig konturiert, was die Gefahr in sich birgt, den psychiatrischen Blick auf Sexualität als Diskurs weiter zu tradieren.

Hans Jakob Ritter und Gabriela Imboden widmen sich in zwei Kapiteln psychiatrischen Gutachten zur „Ehefähigkeit“ einerseits und zu Abtreibungen und Sterilisationen andererseits. Auffallendstes Ergebnis ihrer Analyse dieser oft im eugenischen Kontext beschriebenen Maßnahmen ist, dass in den Gutachten kaum explizit eugenische Argumentationen zu finden sind, stattdessen ein sozialhygienischer Bezugsrahmen vorherrschend blieb. Dies sei geradezu konstitutiv für die Situation in der Schweiz, wo Eugenik als gesellschaftliches Paradigma zwar weitgehend unbestritten gewesen, auf einer individuellen Ebene der psychiatrischen Entscheidungen (und der Handlungslegitimation) jedoch kaum eingesetzt worden sei.

Die Maßnahmen wurden dabei überaus deutlich geschlechtsspezifisch eingesetzt: Während die Ehefähigkeit vor allem an Männern begutachtet wurde (wobei deren Partnerinnen häufig in die Untersuchung einbezogen wurden), und Eheverbote, die nach dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) von 1912 ausgesprochen werden konnten, vor allem gegenüber Männern ausgesprochen wurden, zielten Sterilisationen in überwiegendem Masse auf Frauen.

In den 1930er-Jahren wird eine zunehmende Verbindung der Maßnahmen Eheverbot und Sterilisation konstatiert, indem die Einwilligung in eine Ehe vermehrt an die Forderung einer vorgängigen Sterilisation (der Frau) gekoppelt wurde. Während die Ehe nach wie vor als einziger Ort legitimer Sexualität definiert wurde, hielt mit der Propagierung der so genannten „sterilen“ Ehe durch Psychiatrie und Fürsorge die Vorstellung Einzug, dass Sexualität zur menschlichen Existenz gehöre und ein Ausschluss aus dem Kreis der Reproduktionsfähigen nicht mit deren Verbot einhergehen dürfe. Eugenische Vorstellungen waren also durchaus mitbeteiligt am grundlegenden Wandel der gesellschaftlichen Vorstellungen über Sexualität, die neu als Bedürfnis definiert wurde, dessen Befriedigung keinem Menschen von Staates wegen vorenthalten werden könne, und deren Beschränkung ein Eingriff in die individuelle Freiheit bedeute.

Im Unterschied zur Sterilisation, die als psychiatrisch indizierte Maßnahme vor allem Frauen traf, hatte sich die Kastration im 20. Jahrhundert als strafähnliche Maßnahme gegenüber männlichen Sexualstraftätern als eigenes, neben der Eugenik bestehendes Dispositiv etabliert, wie Gabriela Imboden in ihrem Beitrag zur Kastration als „Regulierung“ gefährlicher männlicher Sexualität herausarbeitet. Die Operation wurde dabei von den Behörden als kostengünstige Alternative zur Anstaltsverwahrung betrachtet und auch so eingesetzt.

Einen etwas anderen Zugang zur Thematik wählte Sabine Braunschweig, die Sexualität im Pflegealltag der psychiatrischen Klinik thematisierte. Sexuelle Kontakte wurden dabei sowohl unter Patientinnen und Patienten, unter Pflegenden, aber auch in der konkreten Pflegesituation als nicht erwünscht problematisiert und möglichst unterbunden: mittels (zuerst für Männer allmählich gelockertem) Berufszölibat für Pflegende, der baulichen Trennung von Männer- und Frauentrakten, der sexualkundlichen Schulung des Personals, aber auch scharfen Sanktionen bei Übergriffen. Deutlich wird dabei, wie im Laufe des 20. Jahrhunderts Sexualität von der Fortpflanzung getrennt und als somatisch-psychisches Bedürfnis definiert wurde. Psychiatrische Einflussnahme (und durch diese vermittelte strafrechtliche Verfolgung) wurde demnach erst nötig, wenn dieser Trieb nicht maßvoll und innerhalb gewisser Schranken (Ehe, Alter, Privatheit, Heteronorm) ausgelebt wurde.

Regina Wecker verlässt in ihrem Kapitel die teilweise sehr quellennahe Arbeitsweise der übrigen Texte des Bandes und versucht, die Begriffe Geschlecht, Eugenik und Sexualität aus einer noch etwas breiteren Perspektive zu betrachten und miteinander zu verknüpfen. Mitunter schafft diese nachgelagerte Synthese einige Redundanzen, doch gelingen ihr wohl gerade auch deswegen einige aufschlussreiche Erkenntnisse zu geschlechtsspezifischen Unterschieden der zunächst „geschlechtsneutralen“ Eugenik, etwa zur von Ärzten wiederholt beklagten Vermischung der Diskurse über die Sterilisation und die Kastration. Während diese nämlich für die Frauen eine „sterilisationsfördernde“ Wirkung hatte, wirkte die oft anzutreffende Konfusion für Männer genau umgekehrt, nämlich geradezu „sterilisationsverhindernd“. Interessant sind insbesondere auch die Ausführungen zur Diskussion eugenischer Standpunkte innerhalb der frühen Schweizer Frauenbewegung, die zeigen, dass die Vorstellung einer rein „männlichen“ Eugenik zumindest relativiert werden muss.

Auch wenn der nicht nur im Titel offenbar werdende Anspruch des Bandes, Eugenik und Sexualität in der Schweiz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verstehen, angesichts der regionalen Verortung und des doch sehr spezifischen Quellenkorpus nicht gänzlich eingelöst werden kann, vermag die Publikation wichtige Lücken in der Forschungslandschaft zur Eugenik und dem psychiatrischen Blick auf die Sexualität zu schließen und bietet insgesamt eine sehr anregende Lektüre.

Anmerkung:
1 Vgl. z.B. Regina Wecker u.a. (Hrsg.), Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik? Internationale Debatte zur Geschichte der Eugenik im 20. Jahrhundert, Wien 2009.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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