1948 im Gedächtnisdiskurs der israelischen Gesellschaft

: Remembering Palestine in 1948. Beyond National Narratives. New York 2011 : Cambridge University Press, ISBN 978-0-5211-9447-1 266 S. £55.00 / € 71,80

: Co-Memory and Melancholia. Israelis Memorialising the Palestinian Nakba. Manchester 2010 : Manchester University Press, ISBN 978-0-7190-8170-5 256 S. £ 65.00 / € 80,41

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cornelia Siebeck, Berlin

Das öffentliche Gedächtnis an den Krieg von 1948 (‚Unabhängigkeitskrieg‘) ist in Israel ein schwer umkämpftes Terrain. Dabei geht es weniger um historische Fakten als um deren narrative Interpretation und normative Bewertung. Jeweilige Deutungen korrespondieren charakteristischerweise mit den politischen Standpunkten und Zukunftsvisionen derer, die sie vornehmen – zumal unter den Bedingungen des anhaltenden und seit vielen Jahren festgefahrenen israelisch-palästinensischen Konflikts.

Im Zentrum der gedächtnispolitischen Auseinandersetzung stehen Flucht und Vertreibung eines Großteils der arabischen Bevölkerung während des Krieges bzw. die Verhinderung von deren Rückkehr in den zwischenzeitlich gegründeten jüdischen Nationalstaat. Mittelbar drehen sich diese Debatten immer auch um die historische und gegenwärtige Legitimität des zionistischen Projekts. Die Etablierung und/oder Aufrechterhaltung eines ethnonational definierten Staats auf dem Gebiet des historischen Palästina wird von politisch marginalen, öffentlich aber durchaus wahrnehmbaren Teilen der israelischen Gesellschaft mal mehr, mal weniger radikal in Frage gestellt.1

War das Gedenken an die palästinensische Nakba (arab. ‚Katastrophe‘) von 1948 jahrzehntelang eine Privatangelegenheit so genannter ‚interner Flüchtlinge‘, die am Jahrestag der israelischen Staatsgründung ihre (meist zerstörten) Herkunftsorte besuchten, so initiieren palästinensische NGOs dort seit den 1990er-Jahren öffentliche Demonstrationen.2 2002 wiederum gründeten jüdische Israelis die Initiative Zochrot, welche es sich zur Aufgabe gemacht hat, die ‚Nakba auf Hebräisch‘ zu thematisieren. Den Gedächtnisaktivist/innen gilt die gewaltsame Zerstörung palästinensischer Lebenswelten als ‚ground zero‘ des israelisch-palästinensischen Konflikts; mit ihrer Arbeit wollen sie nicht nur das zionistische Narrativ konterkarieren, sondern auch für die Anerkennung eines ‚Recht auf Rückkehr‘ der Flüchtlinge von 1948 werben.3

Auf diese gedächtnispolitische Dissidenz hat die israelische Regierung in den letzten Jahren mit Repressionsversuchen reagiert. 2009 untersagte der Erziehungsminister die Verwendung des Begriffs ‚Nakba‘ in Schulbüchern.4 2011 wurde eine Änderung des Haushaltsrechtes verabschiedet, die als so genanntes Nakbagesetz zuvor monatelang kontrovers debattiert worden war: Das Finanzministerium kann nun staatliche Zuschüsse an Organisationen und Institutionen kürzen, wenn diese den Tag der israelischen Staatsgründung (‚Unabhängigkeitstag‘) als ‚Tag der Trauer‘ begehen.5 Eine studentische Nakba-Gedenkveranstaltung an der Tel Aviver Universität im vergangenen Mai wurde nicht nur von heftigen Protesten begleitet, sondern zog auch Diskussionen über Möglichkeiten nach sich, solche Manifestationen zukünftig zu verbieten.6

Die beiden Monographien, die im Folgenden vorgestellt werden sollen, bewegen sich beide inmitten dieses gedächtnispolitischen Minenfeldes. Ihre Autorinnen geben sich dabei beide als involvierte Subjekte zu erkennen und sprechen in politischer Absicht, allerdings auf höchst unterschiedliche Weise.

Die Soziologin Ronit Lentin problematisiert in „Co-Memory and Melancholia“ den jüdisch-israelischen Nakba-Gedächtnisdiskurs insbesondere der nichtzionistischen Linken. Sie selbst präsentiert sich als israelische Jüdin im (irischen) ‚Exil‘ und überzeugte Antizionistin. Die israelische Mehrheitsgesellschaft charakterisiert sie im Kontext des Palästinakonflikts als Täter/innenkollektiv. In Anlehnung an ein von C. G. Jung mit Blick auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft formuliertes Konzept attestiert sie jüdischen Israelis eine ‚psychologische Kollektivschuld‘.7 Die Auseinandersetzung der israelischen Linken mit der Nakba deutet sie vor diesem Hintergrund und im Rückgriff auf die deutsche ‚Exildebatte‘ nach 1945 als eine Art ‚innere Emigration‘ und Flucht vor der eigenen Verstrickung in historisches und gegenwärtiges Unrecht.

Lentins Text ist autoethnographisch inspiriert und dementsprechend von subjektiv-biographischen Reflexionen durchsetzt, in denen sie ihre lebensgeschichtliche und politische Verstrickung in ihren Forschungsgegenstand zu reflektieren versucht.8 Aus ihrer eigenen Sozialisationserfahrung, allerlei publizierten Texten und recht spärlichen Interviewfragmenten, die sich aus jüdisch-israelischer Perspektive mit der untergegangenen arabischen Lebenswelt auseinander setzen, destilliert Lentin eine ‚Melancholie‘, die sie mit Freud als ‚narzisstisch‘ bezeichnet: Notorisch werde von der Tatsache der Zerstörung und Vertreibung abgelenkt, indem moralische Dilemmata und Nostalgiegefühle der Verantwortlichen problematisiert würden. Anstatt sich mit der eigenen Täterschaft zu konfrontieren, trauere man um seine ‚verlorene Unschuld‘. Dieses Muster entdeckt Lentin nicht zuletzt auch im Diskurs der erwähnten Initiative Zochrot: die dort organisierten Aktivist/innen eigneten sich die palästinensische Erfahrung vor allem zum Zwecke melancholischer Selbstbespiegelung und persönlicher Läuterung an; sie blieben dabei in ebenjenem hegemonialen Diskurs verhaftet, den sie zu unterminieren glaubten.

Die Produktion von öffentlichem Gedächtnis ist als äußerst komplexe soziopolitische Praxis zu denken. Mit ihrem kollektivpsychoanalytischen Ansatz kann Lentin die Überdeterminiertheit und Polyvalenz der von ihr fokussierten Gedächtnisdiskurse und -praktiken meines Erachtens nicht fassen.9 Zudem amalgamiert sie ihren Forschungsgegenstand derart mit ihren eigenen ideologischen und normativen Perspektiven, dass er dahinter letztendlich verschwindet. Man erfährt bei der Lektüre ihres Buches jedenfalls sehr viel mehr über Lentins recht disparate theoretische Affinitäten, ihren moralischen Rigorismus, ihre emotionale Betroffenheit und ihr politisches Selbstverständnis als über empirische Realitäten jüdisch-israelischer Nakba-Diskurse. Angesichts einer solchen Selbstreferenzialität ist dem Soziologen Paul Atkinson uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er Autoethnograph/innen zu bedenken gibt: „[T]he personal is political, but the personal does not exhaust or subsume all aspects of the political.“10

Die Sozialanthropologin Efrat Ben Ze’ev wiederum hat mit „Remembering Palestine in 1948“ eine Studie vorgelegt, die basierend auf Oral-History-Interviews nach Erinnerungen divergenter Akteur/innen und Akteursgruppen fragt, um deren subjektive und kollektive Erfahrungs- und Erwartungshorizonte jenseits der allseits bekannten nationalen Meistererzählungen auszuloten. Auch sie gibt sich in Bezug auf ihren Forschungsgegenstand als involvierte Autorin zu erkennen. Wiederholt reflektiert sie ihre spezifische Rolle und Wirkung als jüdisch-israelische Forscherin in einem Feld, das durch den anhaltenden Konflikt und asymmetrische Machtverhältnisse konstituiert ist. Den zehnjährigen Forschungsprozess, den ihr Buch zusammenfasst, beschreibt sie als Reise, auf der sie in ihrer unmittelbaren Umgebung physische und mentale Landschaften erkundete, die ihr als zionistisch sozialisierte israelische Jüdin zuvor verborgen geblieben waren.

Einleitend stellt Ben Ze’ev Überlegungen zu sozialem Gedächtnis an und erklärt ihre Methodologie. Sie bietet einen kurzen historischen Überblick zum Krieg von 1948 und resümiert die Historiographiegeschichte zum Thema. Ausführlich widmet sie sich dann der zeitgenössischen kartographischen Praxis, die sie als Mittel der Redefinition und Kontrolle der politisch-ideologischen Landschaft durch britische Mandatsmacht und zionistische Bewegung fasst. Ben Ze’ev macht deutlich, dass die palästinensische Gesellschaft, die zionistische Bewegung und die britischen Beamten den Raum, in dem sie sich bewegten, jeweils sehr unterschiedlich imaginierten. Dabei waren Briten und Juden sich insofern näher, als dass sie einen systematisierend-bürokratischen und sicherheitspolitischen Zugriff pflegten, der zumal der ländlichen arabischen Bevölkerung Palästinas damals vergleichsweise fern lag.

Es folgen Kapitel zu palästinensischen, jüdischen und britischen Erinnerungsdiskursen an die Ereignisse rund um 1948. Als Grundlage dienen Ben Ze’ev hier narrative Interviews mit ehemaligen palästinensischen Dorfbewohner/innen, die heute als ‚interne Flüchtlinge‘ in Israel leben, mit Veteran/innen der prästaatlichen zionistischen Elitetruppe Palmach und mit ehemaligen britischen Polizisten, die zur Mandatszeit in Palästina eingesetzt waren. Dabei will sie diese Gruppen nicht als ‚repräsentativ‘ für jeweilige Bevölkerungen verstanden wissen, betont aber deren Signifikanz: die palästinensische Landbevölkerung und die Palmach hätten in den jeweiligen nationalen Erzählungen einen ikonischen Status inne, die britischen Polizisten repräsentierten die Mandatsmacht on the ground. Deren Oral Histories komplementiert Ben Ze’ev mit weiteren Quellen, Geschichtsschreibung und teilnehmenden Beobachtungen, so begleitete sie etwa Palästinenser/innen auf deren kommemorativen Ausflügen zu ihren zerstörten Heimatdörfern.

Eindrücklich zeigt sie, dass die von ihr untersuchten Gruppen die sie einst umgebenden Ereignisse aus völlig unterschiedlichen Selbst- und Weltverständnissen heraus interpretierten und sie entsprechend unterschiedlich erinnern – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund ihrer seither grundverschiedenen Wahrnehmungen politischer Realitäten und kollektiver Existenzbedingungen vor Ort. Aber auch innerhalb der jeweiligen Kollektive sind die Erinnerungen durchaus dissonant, wobei Ben Ze’ev vor allem Genderaspekte hervorhebt. Immer wieder weist sie darauf hin, dass die von ihr erhobenen jüdischen und palästinensischen Erzählungen keineswegs in den übergeordneten nationalen Narrativen aufgehen, sondern diese nicht selten kritisch reflektieren, implizit in Frage stellen oder sogar konterkarieren.

Diese Erkenntnisse mögen für Oral Historians trivial klingen. Im Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts jedoch sind sie das nicht. Zwar geht es in diesem wie in vielen anderen Konflikten auf der Welt in erster Linie um Leben, Land und materielle Ressourcen, aber es stehen sich eben zugleich auch zwei hegemoniale Erzählungen dichotom gegenüber. Vor diesem Hintergrund hat es durchaus subversives Potenzial, „to go beyond them, to show the ways smaller groups of people composed different stories, different understandings of what happened to them […], to go back to the voices that have been to a degree drowned by political and politicized agendas“ (S. 188).

In einem Ausblick plädiert Ben Ze’ev dafür, den von ihr begonnenen Weg weiter zu verfolgen und die Geschichte von 1948 auf eine Weise zu rekonstruieren, die der Unübersichtlichkeit und Komplexität zeitgenössischer Realitäten und den vielfältigen Erfahrungs- und Erwartungshorizonten der damaligen Bevölkerung vor Ort gerecht werde. Der akademische Diskurs würde zweifellos von weiteren Forschungen profitieren, die den Krieg von 1948 nicht nur parteilich und a posteriori, sondern auch als vielgestaltige und vielsinnige Erfahrungs- und Erinnerungsgeschichte rekonstruieren. So könnte das eingangs geschilderte gedächtnispolitische Minenfeld vielleicht ein wenig entschärft und rehumanisiert werden, könnte die Nullsummenlogik unterminiert werden, die einen Großteil der Historiographie zum israelisch-palästinensischen Konflikt prägt.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa das Plädoyer des ehemaligen stellvertretenden Bürgermeisters von Jerusalem Meron Benvenisti für eine binationale Lösung des Konflikts: Jerusalem-born thinker Meron Benvenisti has a message for Israelis: Stop whining, in: Haaretz, 11.10.2012 <http://www.haaretz.com/misc/article-print-page/jerusalem-born-thinker-meron-benvenisti-has-a-message-for-israelis-stop-whining.premium-1.469447?trailingPath=2.169%2C2.216%2C2.218%2C> (01.03.2013); oder das so genannte ‚Olga Dokument‘, in dem sich jüdisch-israelische Akademiker/innen und Aktivist/innen 2004 für eine Anerkennung des an Palästinenser/innen begangenen historischen Unrechts und das ‚Rückkehrrecht‘ ausgesprochen haben
<http://www.nimn.org/Perspectives/israeli_voices/000233.php>, (01.03.2013).
2 Vgl. Katja Hermann, Palästina in Israel. Selbstorganisation und politische Partizipation der palästinensischen Minderheit in Israel, Berlin 2008, 253ff. Die palästinensische Minderheit macht etwa 20 Prozent der israelischen Bevölkerung aus. Davon gelten ein Viertel als ‚interne Flüchtlinge‘, die nach dem Krieg von 1948 nicht in ihre Herkunftsorte zurückkehren durften (vgl. ebd. S. 245ff.).
3 Vgl. die Website der Initiative <www.zochrot.org> (22.02.2013).
4 Vgl. Israel bans use of Palestinian term ‚nakba‘ in textbooks, in: Haaretz, 22.07.2009 <http://www.haaretz.com/news/israel-bans-use-of-palestinian-term-nakba-in-textbooks-1.280515>, (02.03.2013).
5 Es handelt sich dabei um die abgemilderte Version einer Gesetzesinitiative von Abgeordneten der ultranationalistischen Partei ‚Israel Beitenu‘, die das Begehen des Unabhängigkeitstages als ‚Tag der Trauer‘ ursprünglich mit bis zu drei Jahren Haft bestraft wissen wollten. Vgl. Adalah – The Legal Center for Arab Minority Rights in Israel, Association for Civil Rights in Israel u.a., Excerpts from the Petition to the Supreme Court against the Nakba Law, 04.05.2011 <http://adalah.org/upfiles/Excerpts%20from%20Nakba%20Petition%20English%20Final.pdf> (01.03.2013).
6 Vgl. Association for Civil Rights in Israel: Freedom of Expression in Universities must be Protected, 14.05.2012
<http://www.acri.org.il/en/2012/05/14/knesset-debates-nakba-day-event/> (01.03.2012). Einen Eindruck von der Veranstaltung vermittelt der Videobeitrag ‚Nakba discourse inflames passions on all sides‘, in: +972 Magazine, Juni 2012
<http://972mag.com/watch-nakba-discourse-on-the-rise-inflaming-passions-on-all-sides/48136/> (10.03.2013).
7 Dabei geht es Lentin allerdings explizit nicht darum, Zionismus und Nazismus gleichzusetzen (vgl. S. 17); vielmehr vermutet sie Parallelen im gesellschaftlichen Umgang mit kollektiver Schuld.
8 ‚Autoethnographie‘ ist eine kontrovers diskutierte sozialwissenschaftliche Methode. Forscher/innen machen sich dabei selbst zum Forschungsgegenstand, analysieren und reflektieren die eigene Biographie und deren soziokulturelle Bedingtheit. Vgl. Paul Atkinson u.a., Key Themes in Qualitative Research. Continuities and Changes, Walnut Creek u.a. 2003, S. 49ff.
9 Für eine ebenso kritische wie vergleichsweise differenzierte Auseinandersetzung mit der gedächtnispolitischen Praxis von Zochrot vgl. Noam Leshem, Memory Activism. Reclaiming Spatial Histories in Israel, in: Lucy Burke u.a. (Hrsg.), The Politics of Cultural Memory, Newcastle 2010, S. 159–182; Cornelia Siebeck, „Et haNakba beIvrit“, oder: „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen…“. Ein Bericht vom Rande der israelischen Hauptstadt, in: Handlung, Kultur, Interpretation 16, 1 (2007), S. 123–156.
10 Paul Atkinsion, Rescuing Autoethnography, in: Journal of Contemporary Ethnography 35,4 (2006), S. 400–404, hier S. 403.

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