A. Senarclens de Grancy (Hrsg.): Identität – Politik – Architektur

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Titel
Identität – Politik – Architektur. Der „Verein für Heimatschutz in Steiermark“


Herausgeber
Senarclens de Grancy, Antje
Reihe
architektur + analyse 4
Erschienen
Berlin 2013: Jovis Verlag
Anzahl Seiten
270 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sándor Békési, Wien

Der bis heute bestehende, im Jahr 2002 in BauKultur Steiermark umbenannte Heimatschutzverein sucht – für Außenstehende vielleicht unerwartet – auch in der Gegenwart, Anteil am zeitgenössischen Bauen zu nehmen. Diese rund hundertjährige Kontinuität seit der Vereinsgründung 1909 erfuhr im Laufe der Zeit freilich zahlreiche Abwandlungen, Neuakzentuierungen und veränderte Ausdrucksformen. Dieser Versuch, ein teilweise veraltetes, aber potentiell relevantes Programm im Hinblick auf Architektur und gebaute Umwelt, den jeweiligen politischen und kulturellen Bedingungen anzupassen, wird im vorliegenden Sammelband untersucht. Die einzelnen Aufsätze gingen zum einen aus den Beiträgen eines vom Verein veranstalteten Symposiums im Jahr 2009 hervor (Transformationen. Vom „Heimatschutz“ zur „Baukultur“), zum anderen stammen sie aus einem anschließenden Forschungsprojekt zum Thema Heimatschutz in der Steiermark im Spannungsfeld von Identitätssuche, (Kultur-)Politik und Architekturdiskurs, das in Kooperation mit dem Institut für Architekturtheorie, Kunst- und Kulturwissenschaften der Technischen Universität Graz durchgeführt wurde.

Der vorzustellende Band ist also zugleich das Ergebnis eines Selbstreflexions- und Neuverortungsprozesses im steirischen Heimatschutz, andererseits aber ebenso Ausdruck eines gestiegenen kulturwissenschaftlichen Interesses an bislang wenig beachteten, ambivalenten Erscheinungsformen und Wirkkräften der Moderne.

Zentrales Anliegen des Buches ist es, aus verschiedenen Perspektiven, die sich vornehmlich aus den Disziplinen Geschichts- und Kulturwissenschaften, Kunst- und Architekturgeschichte, europäischer Ethnologie und Soziologie zusammensetzen, und am Beispiel einer lokalen Vereinigung den Wandel der Positionen des Heimatschutzes im Verhältnis zu Politik, Öffentlichkeit und Praxis zu beleuchten. Die AutorInnen untersuchen regionale und nationale Identitätskonstruktionen und die jeweiligen öffentlichen Debatten um kulturelle Leitbilder (unter anderem „deutsch“, „steirisch“, „heimisch“, „bodenständig“, „traditionell“ oder „modern“). Dabei werden die (kultur-)politischen Verstrickungen und Vereinnahmungen des Heimatschutzes sowie Kontinuitäten und Brüche auf personeller, institutioneller und inhaltlicher Ebene nach 1914, 1934, 1938 und nicht zuletzt nach 1945 sichtbar gemacht, aber auch Aspekte des regionalen Bauens mit internationalen Themenstellungen der Architektur in Beziehung gesetzt. Die alte Frage des Heimatschutzes nach der gestalterischen Qualität des Bauens unter dem Begriff „Baukultur“ wird neu gestellt. Dabei wird der Heimatschutz-Verein als ein Akteur begriffen, der mit (immerhin) wechselndem Erfolg versuchte, durch Lobbying- und Öffentlichkeitsarbeit, Bewusstseins- und Geschmacksbildung auf das jeweilige Baugeschehen Einfluss zu nehmen und auf diese Weise zu einer – mehr oder weniger definierten – „Besserung“ der Baukultur beizutragen.

Die einzelnen Beiträge des Bandes ergeben eine zweifache Struktur bzw. Annäherung an das Thema: einerseits durch die Behandlung einzelner Zeitabschnitte in der Geschichte des steirischen Heimatschutzes von der Jahrhundertwende um 1900 bis in die Gegenwart, andererseits durch punktuelle Tiefbohrungen über ausgewählte, signifikante Themen wie etwa Kriegsflugblätter im Ersten Weltkrieg (Werner Suppanz), die Steirische Landhausfibel und ihre NS-Vorbilder (Antje Senarclens de Grancy) oder über die jüngeren Hochhaus-Debatten und diesbezügliche Positionen des Heimatschutzes (Ulrich Tragatschnig).

Eingefasst werden diese Aufsätze durch zwei übergreifende Grundsatzbeiträge. Im ersten geht Bernhard Tschofen den Entstehungsfaktoren und Bedeutungsebenen des Heimatgedankens in der klassischen Moderne um 1900 nach. Dabei setzt er sich mit dem augenscheinlichen „Paradox antimoderner Modernität“ auseinander und stellt die Frage nicht nur nach der historischen Verortung der Heimatschutz-Bewegung sondern auch nach der Bewertung der Anschlussfähigkeit ihres Erbes vor dem Hintergrund der rezenten Aktualität von und der Suche nach Alternativen zur Modernisierung. Dabei erinnert die als Krise wahrgenommene Moderne der Gegenwart in vielerlei Hinsicht an die Entstehungszeit des Heimat-Konzeptes im späten 19. Jahrhundert, als sie zugleich eine seiner Entstehungsbedingungen war, wie Tschofen betont. Die Anziehungskraft des Heimatgedankens auf (bildungs-)bürgerliche Milieus resultierte wesentlich aus der Erfahrung der Modernisierungsprozesse als Bedrohung von Identität und Lebenswelt. Auffallend ist hier jedoch, dass der Autor auf die Erwähnung bzw. Einbeziehung mancher zentralen Arbeiten zur Ausdifferenzierung des Moderne-Begriffes verzichtet hat.1 Diese hätten jedoch dazu beitragen können, die traditionell ambivalente Haltung des Heimatschutzes in Bezug auf Tradition und Erneuerung oder die enge Verwandtschaft von Modernisierung und Zivilisationskritik deutlicher zu machen und in einen breiteren ideengeschichtlichen Kontext zu stellen.

Die zweite grundlegende Erweiterung des Themas bietet am Ende des Bandes Barbara Feller, die in ihrem Beitrag Geschichte und Gegenwart der Architektur- und Baukulturvermittlung in Österreich beschreibt. Daraus geht hervor, dass Tradition, Heimat und Bodenständigkeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zum Fundament der Architekturerneuerung geworden waren, mit der sich durchaus heterogene Akteursgruppen zwischen Secession und Heimatschutz befassten. Und diese standen sich bis etwa Mitte der 1930er-Jahre, so Fellers Befund, nicht wirklich unversöhnlich gegenüber, vielmehr gab es Überlagerungen und fließende Grenzen. In den damaligen Initiativen ist auch eine Vorform der heutigen Baukulturvermittlung zu sehen, in der nicht um Architektur sondern um die gesamte gestaltete Umwelt geht. Aufschlussreich ist im Kontext des Bandes die Beschreibung jüngerer Initiativen für Baukulturvermittlung und Förderung des Verständnisses für Architektur im Alltag (zum Beispiel Haus der Architektur Graz oder Architekturzentrum Wien). Das einzige Manko dieses Beitrags sehe ich darin, dass in diesem Kontext auf den aktuellen Umgang mit dem „historischen baukulturellen Erbe“ nicht eingegangen wird – eine Frage, die gerade im Hinblick auf die mögliche Aktualität von Heimatschutz-Positionen durchaus von Relevanz wäre.

Das eigentliche Thema, die Geschichte des Steirischen Heimatschutzvereins und seiner Architekturpolitik, setzt mit einem Aufsatz der Herausgeberin über die Gründungs- bzw. Frühphase dieser Kulturreformbewegung ein. Antje Senarclens de Grancy hat in den letzten Jahren zahlreiche Publikationen zur Grazer und österreichischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts vorgelegt.2 Aus ihrem Beitrag erfahren wir diesmal, dass der Verein seine Kernaufgabe – noch vor dem Naturschutz und der Brauchtumspflege – von Beginn an in einem ganzheitlichen Sinn im Schutz der gebauten Umwelt sah. Charakteristisch war dabei die Dichotomie von Erhalten des Alten und Gestalten des Neuen. Neben den Vereinszielen beschreibt und analysiert die Autorin auf anschauliche Weise Mitgliederstruktur, Organisation, baulich-künstlerische und politisch-gesellschaftliche Orientierung des Vereins sowie seine Aktivitäten bis nach dem Ersten Weltkrieg. Vor allem die Radikalisierung und Verschiebung des ursprünglich recht vage, aber tendenziell deutsch-national verwendeten Heimatbegriffs zum völkisch-nationalen Heimatgedanken nach 1914 und noch mehr ab Mitte der 1920er-Jahre sind hier von Interesse. Doch der Beitrag zeichnet teilweise ein verzerrtes Bild, was die weltanschauliche Heterogenität der frühen Heimatschutzbewegung in Österreich betrifft. Das Beispiel Wiens zeigt etwa, dass liberalkonservative Vertreter des frühen Heimatschutzes sich von deutschnationalen oder gar völkischen Ausprägungen dieser Bewegung (so etwa vom Verein „Deutsche Heimat“) schon vor dem Ersten Weltkrieg abzugrenzen wussten.3

Eine maßgebliche Rolle im steirischen Heimatschutz spielte ab 1910 bis Ende der 1950er-Jahre der Volkskundler Viktor Geramb, dem der Beitrag von Helmut Eberhart gewidmet ist. Geramb vertrat bereits vor dem Ersten Weltkrieg fast all jene Positionen, die dem Heimatschutz häufig zugeschrieben werden: Großstadtfeindschaft, völkischer Nationalismus, Idealisierung ländlichen Lebens. Er wird hier aber nicht zuletzt als frühes Beispiel für einen Kulturwissenschaftler eingeschätzt, der versuchte, Wissenschaft in den Dienst der Gesellschaftspolitik zu stellen. Die Auseinandersetzung mit Geramb, so Eberhart, „zeigt uns einerseits die Wirksamkeit der praktischen Umsetzung von Kulturwissenschaft, gibt andererseits aber auch den Blick auf die Risiken ihrer Instrumentalisierung frei“ (S. 87).

Insgesamt stellt der Sammelband einen gelungenen und wichtigen Beitrag zur Geschichte des österreichischen Heimatschutzes und ebenso zur historischen Entwicklung des Themas Baukultur dar. Es entstand eine differenzierte, unvoreingenommene und kritische Geschichte einer Vereinigung bzw. einer Kulturreformbewegung über einen Zeitraum von rund hundert Jahren sowie eine bemerkenswerte Kombination von Diskurs-, Politik- und Architekturgeschichte, die es auf diese Weise naturgemäß verdient, über die Steiermark hinaus beachtet zu werden.

Anmerkungen:
1 Vgl. Cornelia Klinger, Flucht, Trost, Revolte. Die Moderne und ihre ästhetischen Gegenwelten, München 1995; Peter L. Berger / Brigitte Berger / Hansfried Kellner, Das Unbehagen in der Modernität, Frankfurt am Main 1987 (erstmals 1973); Karl Heinz Bohrer, Nach der Natur. Ansicht einer Moderne jenseits der Utopie, in: Merkur, 41 (1987) 7, S. 631–645.
2 Siehe u.a. Antje Senarclens de Grancy, „Moderner Stil“ und „Heimisches Bauen“. Architekturreform in Graz um 1900, Wien 2001; Dies., Keine Würfelwelt. Architekturpositionen einer „bodenständigen“ Moderne, Graz 1918 – 1938, Graz 2007.
3 Vgl. Sándor Békési, Heimatschutz und Großstadt. Zu Tradition und Moderne in Wien um 1900, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 20.2009.1, S. 95–130.

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