H. Zaunstöck u.a. (Hrsg.): August Hermann Francke

Cover
Titel
Die Welt verändern. August Hermann Francke – Ein Lebenswerk um 1700


Herausgeber
Zaunstöck, Holger; Müller-Bahlke, Thomas; Veltmann, Claus
Reihe
Kataloge der Franckeschen Stiftungen 29
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Lüdke, Evangelische Hochschule Tabor, Marburg

Am 23.03.2013 wurde in den Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale der 350. Geburtstag ihres Gründers August Hermann Francke (1663-1727) begangen. Die für diesen Anlass konzipierte Ausstellung wird im hier vorliegenden Ausstellungskatalog dokumentiert und mit 16 Fachbeiträgen kommentiert. Dabei wird der Versuch unternommen, das Lebenswerk Franckes nicht nur biographisch-chronologisch darzustellen, sondern ihn auch in die Lebens- und Geisteswelt seiner Zeit einzuordnen, um nach den Einflüssen zu fragen, die ihn prägten. So werden Lebenswelt und Lebensweg fruchtbar aufeinander bezogen. Neben der pietistischen Glaubenshaltung werden daher vor allem auch politische, soziale, pädagogische und wissenschaftliche Überzeugungen seiner Zeit dargestellt.

Der Katalog gliedert sich in sechs zentrale Themenfelder, die den inhaltlichen Schwerpunkten der sechs Ausstellungsräume entsprechen. Dabei führen immer zunächst zwei bis drei Essays in die Thematik ein, bevor die jeweiligen Exponate erläutert und teilweise auch dargestellt werden. Im ersten Abschnitt „Franckes Zeit“ arbeitet Andreas Pečar die Ambivalenz heraus, dass August Hermann Francke zwar ausdrücklich an einem providenziellen Weltbild festhielt und sich damit gegen die aufklärerisch-naturrechtliche Perspektive wehrte, aber in Bezug auf seine Kommunikationsstrategien und sein Ziel der „Weltveränderung durch Menschenveränderung“ sehr gut in die Welt der Aufklärung passte. Manfred Jakubowski-Tiessen ordnet Francke und sein Werk dann als Teil einer umfassenden kirchlichen Erneuerungsbewegung um 1700 ein, was auch Franckes umfassende internationale Beziehungen in die protestantische Welt verständlich macht.

Im zweiten Hauptteil „Franckes Glaube“ untersuchen Wolfgang Breul und Markus Matthias zunächst das Bekehrungserlebnis Franckes vom Jahr 1687, das einen „Vorrang der inneren Erfahrung vor rationalen theologischen Wahrheiten und die strikte Unterscheidung der christlichen Existenz von der ‚Welt’“ (S. 65) zur Folge gehabt habe. Es wird festgehalten, dass Francke sich mit seiner Verknüpfung von Glaubensgewissheit und subjektiver Erfahrung letztlich von Luthers Verständnis der Heilsgewissheit deutlich abgesetzt habe, wobei es ihm gelungen sei, sich nach außen trotzdem als treuer Lutheraner zu präsentieren.

Die folgenden drei Abschnitte behandeln zentrale Wirkungsfelder Franckes. In Kapitel drei geht es dabei zunächst um „Franckes Wissenshorizonte“, also seinen Umgang mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit, vor allem in den Bereichen Pädagogik, Naturwissenschaften, Medizin und Philosophie. Dabei stellt Martin Gierl fest, dass man Franckes Versuch, die persönliche Gotteserfahrung und den äußerlichen Erfolg pietistischer Einrichtungen als Gottesbeweis zu deuten, durchaus vor dem Hintergrund der aufkommenden experimentellen Wissenschaften verstehen kann. Dorothea Hornemann und Claus Veltmann zeigen auf, dass Franckes berühmte Naturalienkammer den Glauben an den Schöpfergott stärken sollte, aber gleichzeitig auch die Grundlage für einen wissenschaftlich-systematischen Naturkundeunterricht bot. Darin sei geradezu exemplarisch anschaulich geworden, wie Francke versuchte, die alte Glaubenstradition mit aufklärerischer Methodik zu verknüpfen.

Kapitel vier „Franckes Handlungsfeld – Politische und pietistische Netzwerke“ beschäftigt sich mit einem Komplex, der für die bleibende Existenz von Franckes Lebenswerk grundlegend war: der politischen Unterstützung und dem umfangreichen Beziehungsnetzwerk. Britta Klosterberg beschreibt dabei den Umfang der schriftlich erhaltenen Korrespondenz der hallischen Netzwerkbeziehungen und den Stand ihrer Erschließung, um die großartigen Forschungsmöglichkeiten in diesem Bereich aufzuzeigen. Jürgen Gröschl macht deutlich, dass die Entwicklung der Dänisch-Englisch-Halleschen Mission im indischen Tranquebar geradezu als Musterbeispiel des frühen 18. Jahrhunderts für den Aufbau eines internationalen Kommunikationssystems zwischen Europa, Amerika und Asien gelten kann. Thomas Müller-Bahlke ergänzt, dass vor allem einige pietistische Vertreter unter den reichsunmittelbaren Grafen Schlüsselpositionen in Franckes Netzwerk innehatten, die durch ihre Reputation sowie ihren politischen und finanziellen Einfluss wesentlich zum Aufbau und zur Stärkung dieses Systems beigetragen haben.

Etwas seltsam mutet es allerdings in diesem Zusammenhang an, dass der wichtigsten Verknüpfung in Franckes Netzwerk, der Allianz mit dem Herrscherhaus Brandenburg-Preußen, in diesem Katalog kein eigener Aufsatz gewidmet ist. Nur im Rahmen der Erläuterung der Exponate findet sich auf Seite 202 eine Spalte, die kurz zusammenfasst, welche immense und nachhaltige Bedeutung die Beziehung Franckes zum preußischen Königshaus für beide Seiten hatte. Wahrscheinlich gingen die Herausgeber davon aus, dass es zu diesem Kernthema schon genug Veröffentlichungen gibt; dann aber wären zumindest entsprechende Literaturhinweise angebracht gewesen.

Kapitel fünf „Franckes Wirkungsfeld“ behandelt die Konzeption von Franckes Pädagogik, die sich in einem fruchtbaren internationalen Austausch mit der damaligen pädagogischen Avantgarde entwickelte und der christlichen Erneuerung der Gesellschaft dienen sollte. Juliane Jacobi beleuchtet in diesem Zusammenhang die Verbindungen zu John Locke, François Fénelon und den Londoner Charity Schools. Im zweiten Beitrag dieses Kapitels zeigen Katja Lißmann und Pia Schmidt dann, wie sich im Pietismus die individuelle Gestaltung der Gottesbeziehung ausformte, was manche Prägungen und kritische Adaptionen in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts verständlich macht.

Der sechste Abschnitt „Franckes Imagepolitik“ ist wohl der interessanteste Abschnitt des Katalogs, weil er einen Aspekt in den Blick nimmt, der bisher von der Forschung noch kaum aufgegriffen wurde: die mediale Inszenierung und Außendarstellung der ‚Marke‘ „Hallesches Waisenhaus“ und der Person Franckes selbst. Holger Zaunstöck beschreibt hier die Bedeutung der Verbreitung von Franckes Schrift „Segensvolle Fußstapfen“ für die internationale Wahrnehmung des Waisenhausprojekts und zeigt, wie allein schon die Architektur des Waisenhauses in seiner Ähnlichkeit mit Schlossbauten seiner Zeit einen Anspruch auf Wahrnehmung und Gestaltung der Gesellschaft ausdrückte. Ganz bewusst wurden Gäste und einflussreiche Besucher auch von Beginn an über das Gelände und durch die Gebäude geführt, um sie für das Werk einzunehmen. In späterer Zeit trat die Person Franckes dann selbst in den medialen Mittelpunkt. In den Jahren 1717/18 unternahm er eine siebenmonatige „Reise ins Reich“, eine Art Promotion-Tour durch Süddeutschland, in der er sich geradezu massenmedial als protestantische Leitfigur in Szene setzte. Michael Wiemers analysiert in diesem Zusammenhang auch die Gestaltung der Porträt-Darstellungen von Francke, von denen schon zu Lebzeiten ein gutes Dutzend entstand und die in ihrer Werbewirksamkeit nicht unterschätzt werden dürfen. Dass diese Imagepolitik dann aber auch eine dunkle Schattenseite produzierte, verdeutlicht Christian Soboth anschließend, wenn er dem extremen Spannungsverhältnis von Selbst- und Fremdbild des Pietismus nachgeht. Während die Gegner den pietistischen Habitus als kalkulierte Rundum-Inszenierung entlarven wollten, reklamierten die Pietisten für sich die Übereinstimmung von Glauben und Handeln im Zeichen der Aufrichtigkeit. Dieser Konflikt sollte bis Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder in Veröffentlichungen über den Pietismus auftauchen. In einem Nachklang wird der Katalog beschlossen mit einem Beitrag von Wolfgang Flügel über die Geschichte der Festkultur der Franckeschen Stiftungen und jeweils spezifischen Funktionalisierung der Francke-Jubiläen im Laufe der Geschichte.

Den Herausgebern ist es gelungen, mit diesem reich bebilderten Band eine nahe liegende Engführung zu vermeiden, die darauf hinausliefe, die Person August Hermann Franckes nur unter theologischen und kirchengeschichtlichen Aspekten zu betrachten. Stattdessen wird durch interdisziplinäre Zugänge ein breiter Horizont erschlossen, der Franckes Handlungsweisen in Anlehnung und Abgrenzung zur Mentalität und Gesellschaft des frühen 18. Jahrhunderts verständlich macht, wobei auch internationale Perspektiven nicht aus dem Blick geraten. Damit kommt August Hermann Francke geradezu als Musterbeispiel eines Menschen um 1700 in den Blick, der versucht hat, den protestantischen Glauben vor dem Hintergrund der frühen Aufklärung, der aufsteigenden Naturwissenschaften und der beginnenden Globalisierung neu zu gestalten. Der sechste Hauptabschnitt sticht in besonderer Weise heraus, da er, sehr überzeugend, neue medien- und kommunikationswissenschaftliche Zugänge liefert. Den Stand der heutigen Pietismusforschung in Bezug auf Francke sehr gut zusammenfassend und zugleich zu neuen, inhaltlichen wie konzeptionellen Sichtweisen anregend, liegt hier mehr als nur ein Ausstellungskatalog vor.

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