Cover
Titel
The Age of Stress. Science and the Search for Stability


Autor(en)
Jackson, Mark
Erschienen
Anzahl Seiten
311 S., 12 SW-Abb.
Preis
£ 35.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heiko Stoff, Historisches Seminar, Technische Universität Braunschweig

Der Alltags- und Kulturgeschichte ist es zu verdanken, dass wir mittlerweile sehr gut über die Genealogie unserer Gewohnheiten, Sorgen und Praktiken informiert sind. Umso seltsamer mutet es an, dass die Geschichte des Stresses bis vor einem Jahr nur in wenigen Aufsätzen behandelt worden ist.1 Zwar wurde Stress dabei als eine Zeitgeschichte postindustrieller Regulierung und eine Wissensgeschichte regulierbarer Organismen analysiert, aber es fehlte bislang eine integrative, zugleich medizin-, wissenschafts-, sozial-, kultur-, alltags- und körpergeschichtlich verfasste Darstellung.

Nun sind innerhalb eines Jahres gleich zwei Monografien zum Thema erschienen: „Der überforderte Mensch“ des Schweizer Historikers Patrick Kury und „The Age of Stress“ des britischen Medizinhistorikers Mark Jackson. Damit ist es endlich auch möglich geworden, auf breiter Quellenbasis „Stress“ genealogisch und archäologisch einzuordnen.2 Beide Monografien ergänzen sich wunderbar. Denn während Kury zeitgeschichtlich argumentiert, auf die deutschsprachige Debatte fokussiert ist, aber die medizinische Forschung weniger genau darstellt, liefert Jackson eine fundierte medizinhistorische Studie für den englischsprachigen Raum, der es allerdings an zeitgeschichtlicher Einordnung mangelt. Kurys Arbeit steht offensichtlich in einem Zusammenhang mit den Forschungsansätzen zu Subjektivierungsweisen und zur Gouvernementalität. Jackson hingegen erzählt eine umfassende und dichte, vor allem medizinische Geschichte des Stresses. Die Frage, wie das postindustrielle Subjekt konstituiert wird, steht dabei nicht im Mittelpunkt. Sein Ziel sei es, so erläutert Jackson einleitend seine Perspektive, die Geschichte wissenschaftlicher Studien zum Stress in der modernen Welt zu erforschen und dabei soziopolitische, kulturelle und biologische Faktoren herauszuarbeiten.

Unklar bleibt zunächst, wie der Autor die Ausbildung eines medizinischen Stresskonzepts „im Kontext“ politischer und kultureller Bedingungen erklären möchte. Stress, so betont Jackson, sei sowohl ein Zustand als auch eine Metapher (S. 2), ein „hybrid phenomenon“ (S. 16), ein Produkt biologischer und kultureller Kräfte. Der Verzicht auf eine geschichtswissenschaftliche Methodik schmälert ein wenig das intellektuelle Vergnügen an dieser akribisch erarbeiteten, immer informativen und sehr gut komponierten Monografie. Allerdings gelingt es Jackson im Laufe des Buches, die Stränge auf pragmatische Weise zusammenzuführen. Bei der Lektüre kristallisieren sich Komponenten heraus, durch deren Übersetzungen Stress als ubiquitäres Konzept erklärbar wird: Zivilisationskritik, Psychosomatik, Konstitutionsforschung, Biochemie und Endokrinologie, Homöostasis, Kybernetik und chronische Krankheiten.

In sechs Kapiteln (nebst Prolog und Epilog) liefert Jackson eine geradezu klassische Erzählung, wie sich das Stresskonzept entwickelt hat. Diese Geschichte beginnt mit der „Neurasthenie“ als Problematisierung einer Ermüdung, welche die industrialisierten, beschleunigten und urbanisierten Gesellschaften erfasst habe. Ende des 19. Jahrhunderts seien zugleich ein neues Leiden, eine medizinische Kategorie und eine „Modekrankheit“ entstanden, die immer auch als Gesellschafts- und Zivilisationskritik funktioniert hätten. Eine spezifische Ausrichtung erhielt dieses Nervenleiden durch die Weltkriegserfahrungen des „shell shock“. Tatsächlich wurde Stress in den 1940er-Jahren im Bereich der Militärforschung experimentalisiert. Ausformuliert wurde das Stresskonzept jedoch in den neuen, auf Regulation ausgerichteten Körperkonzepten, wie sie namentlich Walter B. Cannon zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwarf, der dabei auch erstmals den Begriff „stress (and strain)“ verwendete. Jackson erläutert dies im Kapitel „Adaptation and Disease“. Der auf Gleichgewichtszustände abzielende und durch Umwelteinflüsse immer gefährdete Organismus strebe mittels selbstregulierender Funktionen nach Stabilität und Konstanz, kurz nach Homöostasis. Dieses Körperkonzept basierte auf der neuen Lehre der inneren Sekretion, auf den Leistungen von Hormonen. Dabei wurde zugleich ein Körper konstituiert, der sich entweder an die Umwelt anpasst oder erkrankt.

Jakob Tanner hat gezeigt, dass Cannons homöostatisches Konzept zugleich ein hochgradig politischer Diskurs war.3 Während im deutschsprachigen Raum der Fokus auf die Umweltgefahren (Nikotin, Alkohol, Lärm, Fremdstoffe) gelegt wurde und damit ein eminent zivilisationskritischer Diskurs physiologisch wurde, richtete sich die Forschung in den USA und Großbritannien auf die Funktionsweisen und durchaus demokratischen Regulierungsweisen des inneren Milieus. Hier schloss der in Österreich-Ungarn ausgebildete und in Kanada forschende Biochemiker Hans Selye an, dem für eine Geschichte des Stresses die Hauptrolle zukommt. 1936 publizierte Selye Beobachtungen aus Tierversuchen, nach denen der Organismus von außen kommende Reize auf immer gleiche hormonal-neuronale Weise verarbeite: „Alarm Reaction“, „Stage of Resistance“ und „Stage of Exhaustion“. Idealerweise gelinge dabei mittels eines von Corticosteroiden initiierten „General Adaptation Syndrome“ die Wiederherstellung eines normal funktionierenden Zustands. Ließen die Reize jedoch nicht nach und misslinge die Anpassung, dann werde das dritte Stadium chronisch – bis der Körper kollabiere. Selye verwendete seit 1950 den Begriff „Stressor“ als Auslöser der körperlichen Reaktionsketten und rekonzeptualisierte „Stress“, um das komplizierte „General Adaptation Syndrome“ zu ersetzen.

Zu einem kulturell und sozial ausgedeuteten Krankheitskonzept, dass immer auch holistisch und psychologisch gedacht war, wurde Stress aber erst, als das Konzept in den Bereich der chronischen Krankheiten übertragen wurde. Damit führte auch der Weg von den Stressoren zu „stressful life situations“ (S. 166). In den 1950er-Jahren erweiterte sich also das Feld der Akteure. Psychologen vereinnahmten und veränderten das Stresskonzept, das zudem popularisiert und medial verbreitet wurde. Stress wurde zu einer medizinischen Zeitdiagnose, zur „modern malady“, zu deren Bekämpfung die pharmazeutische Industrie eifrig ihre Mittel anpreisen konnte, während zugleich ausdauernd über die krank machende Gesellschaft diskutiert wurde. Jackson zeigt auf höchst spannende Weise, dass in den 1950er- und 1960er-Jahren aber auch Medientheorie, Geschichts- und Politikwissenschaft durch das Stresskonzept beeinflusst wurden, wie er am ebenso komplizierten wie kreativen Verhältnis von Arthur M. Schlesinger, Marshall McLuhan, Alvin Toffler und Hans Selye belegt. Mittels Psychoanalyse, Psychohygiene und Psychologie wurde Stressbewältigung seit den 1960er-Jahren zunehmend zu einer persönlichen Verantwortung. Selye selbst führte sein Konzept in die Ratgeberliteratur ein und unterschied auf einflussreiche Weise zwischen notwendigem und schlechtem Stress („eustress“ versus „distress“).

Höchst innovativ sind schließlich Jacksons Ausführungen im Kapitel „The Pursuit of Happiness“. Stress steht seit den späten 1960er-Jahren in einem direkten Zusammenhang mit Glückstechniken und Methoden der Stressbewältigung. Diese stellt in Form von Yoga, Meditation oder Wellness selbst eine Glückstechnik dar. Zwischen Stress und Wellness konstituiert sich der flexible Erfolgsmensch der Jahrtausendwende, ein selbstregulierter Wettbewerber im andauernden Kampf um Ressourcen und Chancen.

Mark Jackson ist ein Standardwerk gelungen, das aber geradezu dazu auffordert, an den Auslassungen und Bruchstellen weiterzuarbeiten. Gleich zu Beginn der Monografie schreibt Jackson, dass Stress letztlich ein Phänomen der 1980er-Jahre sei. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde Stress zu jenem globalen Kennwort des überforderten Menschen, wie es heute im Zusammenspiel mit Burnout und Depression gebräuchlich ist. Dies entspricht der Diagnose, die Mitte der 1980er-Jahre auch schon die amerikanische Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway in ihrem „Cyborg-Manifest“ markiert hat. Die 1980er-Jahre seien durch das Entstehen einer neuen „Informatik der Herrschaft“ geprägt, die sich etwa im Unterschied von Thomas Manns „Zauberberg“ (1924) und Alvin Tofflers „Future Shock“ (1970), von Hygiene und Stressmanagement manifestiere. Jackson liefert also genug Anregungen, um weiter an einer Zeitgeschichte des Stresses zu schreiben. Zugleich erinnert seine Monografie aber auch daran, dass dies interdisziplinär und intertextuell geschehen muss.

Anmerkungen:
1 Cornelius Borck, Kummer und Sorgen im digitalen Zeitalter. Stress als Erfolgsprodukt der fünfziger Jahre, in: Archiv für Mediengeschichte 4 (2004), S. 73–83; Lea Haller, Stress, Cortison und Homöostase. Künstliche Nebennierenrindenhormone und physiologisches Gleichgewicht, 1936–1960, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 18 (2010), S. 169–195, URL: <http://link.springer.com/article/10.1007/s00048-010-0017-2/fulltext.html> (29.06.2013); Hans-Georg Hofer, Von gestressten Körpern und kaputten Autos. Hans Selye (1907–1982) und das „Allgemeine Adaptionssyndrom“, in: Praxis. Schweizerische Rundschau für Medizin 95 (2006), S. 1347–1350; Russell Viner, Putting Stress in Life. Hans Selye and the Making of Stress Theory, in: Social Studies of Science 29 (1999), S. 391–410.
2 Siehe die Rezension von Jens Elberfeld zu Patrick Kury, Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout, Frankfurt am Main 2012, in: H-Soz-u-Kult, 28.02.2013, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2013-1-134> (29.06.2013).
3 Jakob Tanner, „Fluide Matrix“ und „homöostatische Mechanismen“, in: Jörg Martin / Jörg Hardy / Stephan Cartier (Hrsg.), Welt im Fluss. Fallstudien zum Modell der Homöostase, Stuttgart 2008, S. 11–29.