A. Assmann; U. Frevert: Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit

Titel
Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945


Autor(en)
Assmann, Aleida; Frevert, Ute
Erschienen
Anzahl Seiten
318 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Jureit

Unter den Schlagworten 'kollektive Erinnerung' und 'kulturelles Gedächtnis' ist in den letzten Jahren eine bereits unübersehbare Flut an Veröffentlichungen erschienen, die sich zu einem erheblichen Teil auf die gemeinschaftliche Vergegenwärtigung der nationalsozialistischen Vergangenheit bezieht. Die aktuellen Auseinandersetzungen beispielsweise um das Berliner Mahnmal oder um die Ausstellung 'Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944' haben deutlich gemacht, daß die Erinnerung an die zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft das politische Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland heute weitaus intensiver als noch vor zwanzig Jahren bestimmt. Anlaß genug, sich die zurückliegenden Debatten zum nationalsozialistischen Erbe in Erinnerung zu rufen. Der von Aleida Assmann und Ute Frevert verfaßte Essayband unter dem Titel 'Geschichtsvergessenheit - Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945' stellt einen Versuch dar, die kollektive Erinnerung an den Nationalsozialismus in Ost- und Westdeutschland nachzuzeichnen.

Das Buch zerfällt in zwei Teile. In der ersten Hälfte nimmt Aleida Assmann die Walser-Bubis Debatte zum Anlaß, sich "mit den in dieser Debatte aufgeworfenen Problemen zu beschäftigen" (S. 19). Sie durchstreift in überwiegend assoziativer Weise zahlreiche öffentliche Kontroversen der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, ohne jedoch deutlich machen zu können, welche Fragestellungen sie zu beantworten sucht oder welche These damit verfolgt wird. Der Versuch, das komplexe Zusammenspiel von individueller Erinnerung, kollektivem Gedenken und öffentlicher Geschichtsdebatten auf den Begriff zu bringen, scheitert nicht zuletzt wegen des fehlenden theoretischen Zugriffs. Das Ergebnis ist eine zuweilen wahllos anmutende Aneinanderreihung von Stichworten: Da ist vom Historikerstreit die Rede, von der generationellen Bedingtheit individueller und kollektiver Erinnerungen, vom Opfer- und vom Tätergedächtnis, da wird der Umgang mit dem tatsächlich oder vermeintlich erhobenen Kollektivschuldvorwurf angesprochen, um schließlich recht allgemeine, aber zumindest lesenswerte Betrachtungen über die jeweiligen Vor- und Nachteile einer leider unspezifisch bleibenden Scham- beziehungsweise Schuldkultur anzustellen.

Auf den knapp einhundertfünfzig Seiten erfährt der gut informierte Zeitungsleser kaum etwas Neues, er wird darüber hinaus noch mit Banalitäten und Ungereimtheiten belästigt, die doch sehr nachdenklich stimmen. Wenn Assmann feststellt, daß "ein Grund für die absolute Differenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit in der Bewegung der vergehenden und unumkehrbaren Zeit zu suchen (ist)" (S. 27), dann möchte man das Buch doch lieber kopfschüttelnd zur Seite legen. Dann allerdings versäumte man die theologischen Ausflüge der Literaturwissenschaftlerin: Nachdem der Leser die bekannten Unterscheidungen von individuellem, kollektivem und kulturellem Gedächtnis zur Kenntnis genommen und von der Instrumentalisierung und Ritualisierung des Gedenkens erfahren hat, leitet Assmann ihre Gedanken zu "Schuld und Gewissen" mit einem Bibelzitat des Propheten Hesekiel ein (S. 80), in dem es um die Frage familärer Schuldverstrickung geht. Für die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ein durchaus vielversprechender Ansatz, der einen gelungenen Übergang zur spannenden Diskussion um die transgenerationelle Weitergabe von Schuldgefühlen hätte darstellen können. Assmann scheint diese inzwischen recht differenziert geführte Debatte nicht einmal zu kennen, sie kommentiert das Bibelzitat mit dem theologisch bemerkenswerten Satz: "Mit diesen Worten gibt Gott eine Änderung seines Rechtsstils bekannt", um dann zur hinreichend bekannten Differenzierung zwischen moralischer und juristischer Schuld überzuleiten. An dieser und an zahlreichen anderen Stellen fällt der Essay hinter das in der Forschung inzwischen erreichte Niveau weit zurück.

Der von Ute Frevert stammende zweite Teil stellt das offizielle Erinnern und Gedenken in Ost- und Westdeutschland in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die Historikerin breitet ein materialreiches Spektrum aus, mit dem sie den stets aufeinander bezogenen Erinnerungsprozeß in beiden deutschen Staaten nachzeichnet. Wenn auch Freverts Essay weitaus systematischer und kenntnisreicher ausfällt, so bleibt es aber auch hier bei einer analytisch unverbundenen Aufzählung geschichtspolitischer Ereignisse. Man mag darüber spekulieren, warum Frevert so ausführlich auf die Nachkriegserinnerung an das Revolutionsjahr 1848 aufmerksam macht, andere - für das Thema weitaus zentralere Themen wie "Opfergefühle und Schulddebatten" - jedoch auf knapp fünf Seiten abhandelt. Sicherlich kann die Autorin deutlich machen, daß Geschichtspolitik eine ganze Bandbreite von Aspekten umfasst, seien es Museumsgründungen, Gedenktage, Filme oder Theaterprämieren. Ihre umfassende Dokumentation der "Erinnerungsstimuli" mündet aber leider nicht in eine interpretative Gesamtsicht, über die es sich nachzudenken lohnte. Vielmehr verzettelt sich Frevert in der Bandbreite der unterschiedlichen Gedenkformen, indem sie beispielsweise die Herausgabe von Sondermarken in der DDR (S. 188) sowie das Sammeln von Sperrmüll (S. 253) als Indizien eines neuen Geschichtsbewußtseins verstanden wissen will.

Die von Frevert und Assmann in der Einleitung angekündigte "großzügige Linienführung" in ihrer Auseinandersetzung mit dem Gedenken und Erinnern nach 1945 kann nach der Lektüre nur bestätigt werden. Dem Buch fehlt eine theoretische und intellektuelle Klammer und bleibt daher in seinen Deutungen viel zu oberflächlich. Die Autorinnen erklären zu ihren eigenen Motiven, daß dieses Buchprojekt ihnen die "Möglichkeit (verschaffte), die Beschäftigung mit der deutschen Erinnerungsgeschichte als einen Akt der Anamnese und ein Projekt der Selbstaufklärung zu betreiben" (S. 14). Mit diesen und anderen Anmerkungen verdeutlicht sich schlaglichtartig ihre generationelle Bedingtheit, denn es bleibt doch fraglich, ob im Kontext von Erinnerungspolitik von einer Anamnese, also von der Dynamik einer Krankengeschichte zu sprechen ist. Assmann/Frevert diagnostizieren für das Nachkriegsdeutschland ein Wechselspiel von "Geschichtsvergessenheit" und "Geschichtsversessenheit" und bleiben damit auf der profanen Ebene der Symptombeschreibung stecken. Es ist inzwischen wohl kaum mehr zu rechtfertigen, die Nachkriegsbeschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit allein als defizitär zu beschreiben. Vielmehr wäre es angezeigt, die komplexen Formen bewußter und unbewußter Geschichtsvermittlung zu analysieren und sie insbesondere in ihrer transgenerationellen Wirkung transparent zu machen.

Die Autorinnen verstehen sich aufgrund ihrer generationellen Zugehörigkeit (beide sind in der frühen Bundesrepublik geboren) als "Zwischengeneration", die als eine "Art Scharnier zwischen den lebendigen und den vermittelten Erinnerungen" (S. 15) fungiere. Es hätte dem Buch gut getan, wenn Assmann/Frevert diesen Anspruch auch intellektuell eingelöst hätten. Ohne die Reflexion des eigenen generationellen Standortes bleibt jede Auseinandersetzung mit dem Umgang deutscher Vergangenheiten im Deskriptiven stecken. Möglicherweise ist diese Oberflächlichkeit aber auch nicht zufällig: Der Nachkriegsgeneration geht ihr Objekt der Anklage verloren, die verantwortlich handelnden Täter und Mitläufer des Nationalsozialismus leben heute zu einem überwiegenden Teil nicht mehr. Das scheint nicht nur Irritationen auszulösen, es führt auch zu einer interpretativen Leere. Will man sich selbst als vermittelnde Instanz begreifen, kann dies kaum ohne Auseinandersetzung mit der eigenen emotionalen Ambivalenz gelingen, denn die Weitergabe von Geschichte, insbesondere einer so destruktiven wie der des Nationalsozialismus, bedient sich sehr viel komplexeren Mechanismen, als Assmann/Frevert sie dokumentieren.

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