P. Halbeisen u.a. (Hrsg.): Wirtschaftsgeschichte der Schweiz

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Titel
Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert.


Herausgeber
Halbeisen, Patrick; Müller, Margrit; Veyrassat, Béatrice
Erschienen
Basel 2013: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
1234 S., 233 Grafiken
Preis
€ 82,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Zollinger, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Wirtschaftsuniversität Wien

Wer sich bislang über generelle Entwicklungslinien der schweizerischen Wirtschaftsgeschichte informieren wollte, griff zu Handbüchern, zu Paul Bairoch oder zu Jean-François Bergiers 1983 erschienenem Klassiker.1 Bergier wird in dem neuen Handbuch zur Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert zwar anerkennend, aber gerade einmal in zwei Fußnoten erwähnt (darunter als Leiter der Unabhängigen Expertenkommission zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg). Bairoch ist, wenngleich auch in kritischer Relativierung, etwas präsenter. Das Herausgeberteam wollte andere Maßstäbe setzen. Dazu bewogen es sowohl neuere nationale und internationale Datenbasen als auch der institutionelle Rahmen der Schweizerischen Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, unter deren Ägide das Projekt realisiert wurde.

Auf der Basis statistischen Materials stark quantitativ ausgerichtet, fokussieren die Beiträge neben der dominierenden nationalen Perspektive auf den internationalen europäischen Vergleich. Diesen sollte eine thematische Gliederung erleichtern, deren Teile in sich jeweils periodisierend strukturiert sind (eine Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse nach Perioden bietet die Einleitung). Vorangestellt ist Béatrice Veyrassats überaus hilfreicher Überblick über die Periode vom späten 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, in der wesentliche institutionelle Voraussetzungen für die weitere Entwicklung geschaffen wurden und bereits ein beträchtlicher sektoraler Strukturwandel eingetreten war.

Als kleine offene Volkswirtschaft mit früher und starker internationaler Verflechtung gehörte die Schweiz gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf bereits vor dem Ersten Weltkrieg zu den reichsten Ländern, und nach neuen Berechnungen des BIP für die Jahre zwischen 1890 und 1947 war sie noch reicher als bisher angenommen. Der Vorsprung bzw. die Spitzenposition, die sie in bestimmten Phasen ausbauen konnte, wandelte sich jedoch seit den 1970er-Jahren zur Annäherung an den westeuropäischen Durchschnitt. Wenn die Gesamtheit der Beiträge die Einschätzung der Schweizer Wirtschaftsgeschichte als Erfolgsgeschichte bestätigt und deren Hauptkonstituenten wie hohe soziale, politische und monetäre Stabilität, Neutralität, teils große unternehmerische Flexibilität und politischen Pragmatismus etc. unterstreicht, werden Schattenseiten keineswegs verschwiegen und Brüche und Diskontinuitäten sichtbar gemacht. Neben Entwicklungstendenzen, die im internationalen Vergleich Parallelen finden, kommen auch die schweizerischen Besonderheiten zur Sprache.

Ob eine von Patrick Halbeisen und Tobias Straumann diagnostizierte „gewisse Schwerfälligkeit“ bei Anpassungen an veränderte Grundlagen des internationalen Währungssystems als „Preis für die Stabilitätspolitik“ (S. 1067) dazugehört, wird gewiss diskutiert werden. Ein Spezifikum ist hingegen der Finanzplatz Schweiz, dessen Attraktivität sich während und nach dem Ersten Weltkrieg festigte, dessen Rolle, gemessen an seinem Beitrag zum BIP allerdings erst in den 1990er-Jahren signifikant zunahm. Bekannt ist die relativ niedrige Steuerbelastung, die schon 1917 ein Großindustrieller und späterer Bundesrat prospektiv als Chance gesehen hatte, die Schweiz zu einem „Lieblingsaufenthalt der Kapitalisten“ zu machen (S. 1098), und damit zusammenhängend eine Fiskalquote, die am Ende des 20. Jahrhunderts als einzigem OECD-Land nur von Japan unterboten wurde (S. 1090). Spezifisch ist der gerade im europäischen Vergleich langsame und spät einsetzende Ausbau des sozialen Sicherungssystems und seine tripartite Ausprägung, ein Modell, das indes in der Diskussion um die „Krise des Sozialstaates“ sowohl der Weltbank als auch der EU als Leitbild für eine Pensionsreform diente. Schließlich fand und findet die – ebenfalls anpassungsfähige – Sonderrolle im Verhältnis zu internationalen und supranationalen Organisationen wiederholt internationale Beachtung. Wie Thomas Gees am Beispiel der 1930 mit Sitz in Basel gegründeten Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, der heute ältesten internationalen Finanzinstitution, anführt, betrieb die Schweiz gerne eine „doppelbödige Politik“ (S. 1138).

Die Themenblöcke der Analysen decken höchst detailliert alle Bereiche ab, die man sich von einer Gesamtdarstellung der wirtschaftlichen Entwicklung erwarten darf, und berücksichtigt dabei auch zentrale sozialhistorische Aspekte. Die insgesamt beeindruckende historiographische (und herausgeberische) Leistung mag vereinzelte Kritikpunkte kleinlich erscheinen lassen, doch resultieren sie gerade aus der Struktur des Bandes. Die insgesamt 21 Autorinnen und Autoren bewahren in ihren Beiträgen ihre je eigenen Methoden und theoretischen Zugänge. Daraus resultierende unterschiedliche Bewertungen identischer Themen wurden von den Herausgebenden als komplementäre Sichtweisen in Kauf genommen. Der angewandte Pluralismus enthebt einerseits den Rezensenten der Möglichkeit einer äquidistanten Beurteilung im Einzelnen, führt aber andererseits zu teils stark divergierenden Ergebnissen. Stellen beispielsweise Patrick Halbeisen und Tobias Straumann hinsichtlich der öffentlichen Finanzen zwar wiederholt Phasen mit Defiziten, aber fundamental ein Gleichgewicht fest (S. 988), erfährt man von Sébastien Guex und gestützt auf eine Grafik, dass ein „Defizit die Norm und ein Überschuss die Ausnahme“ gewesen ist (S. 1085). Gelegentlich wird dem Benutzer ein Klammerblick abverlangt. Margrit Müller zeigt, dass der Kanton Zug seine Anteile als Sitz für Tochtergesellschaften ausländischer Unternehmen gegenüber Genf und Zürich prozentuell ausbauen konnte (S. 446). Dass dies auf den interkantonalen Steuerwettbewerb zurückzuführen ist, erhellt aber erst aus dem Abschnitt über die kantonale und regionale Partizipation (Manuel Hiestand, Margrit Müller, Ulrich Woitek).

Unterschiedlich ist auch der Grad der wertenden Positionierungen. Neben nüchtern-sachlichen Abarbeitungen und Textualisierungen der statistischen Daten finden sich auf der Basis dieses Materials kritische Stellungnahmen mit wirtschafts- und sozialpolitischem Bezug. Wird beispielsweise im Teil „Wirtschaft und Politik“ der Vorsteher des Finanzdepartements, Jean-Marie Musy, einfach als Katholisch-Konservativer vorgestellt, der bereits 1923 zur Vorkriegsparität des Franken zurückkehren wollte (S. 1003), belegt Sébastien Guex unmissverständlich die autoritäre Gesinnung des „ultrareaktionären“ Musy (S. 1099, 1102ff.). Überhaupt zeichnet sich Guex, der sich der Devise Schumpeters verpflichtet fühlt, dass „alles was geschieht, sich in der Finanzwirtschaft abdrückt“, durch eine besondere Engagiertheit aus. Andere Beiträge, wie etwa der von Brigitte Studer zu „Ökonomien der sozialen Sicherheit“, zeigen ein ausgeprägtes Sensorium für das von Hansjörg Siegenthaler im Vorwort ausgesprochene Diktum, dass wer allein die Wirtschaft ins Visier nehme, auch die Wirtschaft nicht verstehe.

Die einzelnen Beiträge stehen auf dem aktuellsten Stand der Forschung, den sie durch Einarbeitung und Analyse neuen statistischen Materials noch erhöhen. So wird belegt, dass der in der Literatur gerne unterschätzte Beitrag der auf den Binnenmarkt orientierten Bereiche gegenüber der Exportwirtschaft deutlich überwiegt. Andererseits wird zwar auf die Fortschritte und Bedeutung der modernen Unternehmensgeschichte hingewiesen (S. 19), die Entwicklung der Unternehmen im Internationalisierungsprozess aber in der Darstellung Margrit Müllers im Abschnitt zur internationalen Verflechtung „weitgehend ausgeblendet“ (S. 449). Teilweise werden die Schwerpunkte der Analyse anders als zumeist üblich gesetzt, so etwa bei der Analyse der Wohlstandsverteilung nach konsumhistorischen Kriterien. Forschungslücken werden geschlossen, während auf künftige Untersuchungsfelder hingewiesen wird. Als eine der Stärken dürfen die (vorzüglich übersetzten) Beiträge aus der romanischen Schweiz gelten, zumal in ihnen Ergebnisse der nicht allen zugänglichen fremdsprachigen Literatur einfließen. Weitere Verdienste liegen in der durchgängigen Verwendung empirischer Daten – S. 1088 mit einem Widerspruch zwischen grafischer Darstellung und Text – und im internationalen Vergleich. Dabei werden jedoch nicht immer die selben Länder(gruppen) herangezogen, und zumal für die Entwicklung nach 1945/55 hätte eine stärkere Berücksichtigung Österreichs durchaus aufschlussreiche Vergleichsmöglichkeiten geboten. Hingegen ist die Offenlegung der statistischen Grundlagen und Methoden (Manuel Hiestand, Margrit Müller, Ulrich Woitek) ein Bonus. Was den Zugang zu den Texten aber erschwert, ist das Fehlen eines Registers.

Das starke Volumen des Bandes verdankt sich der reichen Materialbasis und der Tiefenfächerung, aber auch gelegentlichen Weitschweifigkeiten und Redundanzen. Was dessen ungeachtet im Gesamten vorliegt, ist eine imposante Anatomie der Entwicklung eines der nach wie vor reichsten Länder der Welt, „a country where a double dip is more likely to refer to the fondue than the economy“, wie „The Economist“ am 21. November 2012 unter Zuhilfenahme eines Klischees schrieb. Diese Wirtschaftsgeschichte bedient keine Klischees, sie verortet sie allenfalls historisch. Als Referenzwerk erster Ordnung kann sie der Historiographie in vergleichbaren Kleinstaaten durchaus als Maßstab empfohlen werden.

Anmerkung:
1 Paul Bairoch / Martin Körner (Hrsg.), Die Schweiz in der Weltwirtschaft (15.–20. Jahrhundert), Zürich 1990; Jean-Francois Bergier, Die Wirtschaftsgeschichte der Schweiz. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Zürich 1983.