I. A. Dahl: Ausschluss und Zugehörigkeit

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Titel
Ausschluss und Zugehörigkeit. Polnische jüdische Zwangsmigration in Schweden nach dem Zweiten Weltkrieg


Autor(en)
Dahl, Izabela A.
Erschienen
Berlin 2013: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
408 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Evelyn Hayn, Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien, Humboldt-Universität zu Berlin

„Die Ursache der Abwesenheit der jüdischen Migration im kollektiven Gedächtnis lässt sich dadurch erklären, dass sich die Akteur_innen dieser Migration außerhalb des territorialen und mentalen Raums befinden, in dem ihre Stimmen gehört werden. Wie im Fall dieser Studie in Schweden.“ (S. 13)

Die Umstände der Migration polnischer Jüd_innen nach Schweden in den Jahren 1945/46 und 1968–72 sowie die Auswirkungen auf deren Identitätskonstruktionen stellen in der Forschung ein Desiderat dar. Izabela A. Dahl schließt mit ihrer Dissertation diese Lücke in der polnisch-jüdischen, schwedisch-jüdischen sowie schwedisch-polnischen Geschichtsschreibung, die durch die Zusammenstellung und Auswertung von zentralem, zeithistorischem Material von dokumentarisch hohem Wert ist. Bei der Publikation handelt es sich um eine klar transdisziplinär angelegte Forschungsarbeit, die Ausgangspunkte in den Geschichtswissenschaften, der Skandinavistik sowie den Gender Studies nimmt und mit der Verbindung von Diskursanalyse, intersektionaler Identitätsforschung und Oral History einen innovativen methodologischen Ansatz für Forschungen zu Migration und Identität bietet. Dahl geht in ihrer Studie der Frage nach, wie die polnischen Jüd_innen nach dem Zweiten Weltkrieg aus der vorgestellten Gemeinschaft Polens ausgeschlossen wurden und wie die wirkungsgeschichtlichen Kontexte Polens und Schwedens während der beiden untersuchten Migrationsphasen in den Jahren 1945/46 sowie 1968 bis 1972 die Identitätsformationsprozesse dieser Jüd_innen in Schweden beeinflusst haben. Der empirische Teil der Forschungsarbeit umfasst daher zwei gleichwertig behandelte inhaltliche Schwerpunkte. Zunächst rekonstruiert und analysiert Dahl auf der Grundlage eines umfangreichen schriftlichen, teils nicht-publizierten Archiv- und Pressematerials die politischen und kulturellen Verhältnisse in Polen und Schweden im Kontext der beiden Migrationsphasen. Im zweiten Teil zeigt sie in der Analyse des hauptsächlich mündlichen Materials, welche Auswirkungen die Ausschluss und Zugehörigkeit konstituierenden Selbst- und Außenzuschreibungen als jüdisch, polnisch und polnisch jüdisch auf die Identitätskonstruktionen in verschiedenen Beziehungskonstellationen innerhalb des polnisch-jüdisch-schwedischen Triangelverhältnisses hatten. Der Hauptfokus dabei liegt auf der Sichtbarmachung der Erfahrungen und identitätsbildenden Prozesse polnischer jüdischer Frauen.

In der Einleitung macht Dahl die Forschungslücke zur polnischen jüdischen Zwangsmigration nach Schweden deutlich und zeigt, dass die ab 1990 zunehmende Auseinandersetzung mit schwedischer und polnischer Migrationspolitik und Antisemitismus noch nicht abgeschlossenen ist. Dem von Klas Åmark benannten „Mangel an Reflexion der neuen theoretischen Ansätze innerhalb historischer Studien in Bezug auf die schwedische historische Forschung“, begegnet Dahl mit der Konzeptualisierung eines neuen methodisch-theoretischen Zugangs, „der eine Kombination von Methoden der Geschichtsforschung und der kritischen Diskursanalyse aus der neuen feministischen Perspektive der Geschlechterstudien ist“ (S. 22f.), der Verbindung von Intersektionalitätsforschung und Oral History.

Im ersten Kapitel verortet Dahl ihren erkenntnistheoretischen Hintergrund in einer feministischen Perspektive auf die Geschichtswissenschaften, mit der sie Zugehörigkeits- und Ausschlussmechanismen entlang sozialer Kategorisierungsprozesse untersucht. Methodologisch ordnet sie ihre Vorgehensweise der kritischen Diskursanalyse zu und schließt sich vor allem historischen und sozialwissenschaftlichen Zugängen an. Dabei ist besonders der dispositivanalytische Ansatz hervorzuheben, der bisher empirisch wenig bearbeitet worden ist. Insgesamt hätte hier noch stärker auf feministische Forschungen eingegangen werden können.

In der Auseinandersetzung mit der Oral History als narrativer Wende in den Geschichtswissenschaften argumentiert Dahl, dass „Subjekte, die in den Zwängen ihrer Zeit verankert sind, [...] Akteur_innen und damit ein Teil des geschichtlichen Diskurses“ sind (S. 51). Indem also die Zwangsmigrant_innen ihre eigene Geschichte erzählen, werden sie selbst zu Handelnden, identitäre Zuschreibungsprozesse von außen kritisch analysierbar und die Geschichtsschreibung durch die Einbindung individueller Erinnerungen demokratisiert.

Ihre methodologische Konzeptualisierung der Zwangsmigrant_innen als Akteur_innen wirkt sich auf das Quellenkorpus aus, das Dahl in kritischer Auseinandersetzung mit Fragen nach Repräsentativität und Transparenz konstituiert. So basiert die Studie auf einem heterogenen Textkorpus aus Archiv- und Pressematerial sowie zeitnahen und retrospektiven autobiographischen Interviews mit Zwangsmigrant_innen. Eine tabellarische Zusammenstellung macht Umfang, Detailliertheit und Materialkombination der Arbeit deutlich.

Kapitel 2 widmet Dahl der Frage nach der Konstruktion von Zugehörigkeit und Ausschluss über Prozesse sozialer Kategorisierung. Durch Nominalisierungen wie ‚Nationalisierung’ macht sie die sprachlichen Zuschreibungsprozesse sozialer Kategorisierung deutlich, deren essentialisierende, differenzierende Effekte in Benennungsformen wie ‚Nationalität’ zum Ausdruck kommen.

Die Konstituierung jüdischer Identitäten diskutiert Dahl vor dem Hintergrund hegemonialer sowie ‚innerjüdischer’ Ausdifferenzierungen, Ein- und Ausschlüsse und „verbindet ihren hybriden, sprachlich konstruierten Charakter mit dem Konzept der narrativen Identität“ (S. 99). Insbesondere als Reaktion auf homogenisierende Konzeptualisierungen wie ‚Ostjüd_innen’ in Abgrenzung zu ‚Westjüd_innen’ generiert Dahl ihre intersektional angelegten Analysefragen.

In Kapitel 3 legt Dahl den Fokus auf die Analyse struktureller Dominanzverhältnisse, welche die Zwangsmigration und Aufnahme der polnischen Jüd_innen in Schweden nach dem Zweiten Weltkrieg konstituierten. Dahl differenziert Konzeptualisierungen zu Flucht, Migration und Zwangsmigration aus und erklärt die Verwendung des Begriffs ‚Zwangsmigration’ in der Arbeit.

Auf Grundlage des Repatriierungsdiskurses während der ersten Migrationsphase argumentiert Dahl, dass eine differenzierte Wahrnehmung der Gruppe der polnischen Migrant_innen nötig sei, da die Repatriierung für die polnischen Jüd_innen im Vergleich zu den Nicht-Jüd_innen aufgrund des in Polen fortlebenden Antisemitismus schwierig bis unmöglich war. Die staatliche Instrumentalisierung des Antisemitismus in Polen ab 1968 führt Dahl als den ausschlaggebenden Grund für die zweite Migrationsphase an.

Im Kontext der Aufnahme der polnischen jüdischen Zwangsmigrant_innen in Schweden stellt Dahl fest, dass die Überlebenden 1945/46 zunächst als Gäste sowie als Belastung der schwedischen Institutionen wahrgenommen wurden. Für die polnischen Jüd_innen, die zwischen 1968 und 1972 nach Schweden zwangsmigrierten, wurde hingegen bis 1972 ein staatlich unterstütztes Quotierungs- und Aufnahmesystem etabliert. Abschließend geht Dahl noch auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Situation in Dänemark ein.

In Kapitel 4 trägt Dahl die Ergebnisse ihrer Analyse der Narrative der Zwangsmigrant_innen zusammen, die sich aus Protokollen der Łakociński-Sammlung und den von ihr retrospektiv durchgeführten Interviews zusammensetzen. Dabei orientiert sich Dahl an den in den Narrativen wiederholt aufgerufenen kollektiven Erinnerungen. Bei der Analyse der Protokolle kommt sie unter anderem zu dem Ergebnis, dass Religiosisierungs- und Nationalisierungsprozesse bei der Ausformung von Identität untrennbar miteinander verbunden seien. Dies würde beispielsweise an den Positionierungen der Interviewten und Interviewenden in den Protokollen deutlich, wenn polnische nicht-jüdische Überlebende als Interviewer_innen bei der Aufzeichnung des Interviews polnische jüdische Überlebende für die Kollaboration mit den Deutschen bei der Vernichtung der Jüd_innen verantwortlich machen. Das bedeute auch, dass aufgrund von Antisemitismus nicht von einer kollektiven Erfahrung polnischer KZ-Häftlinge gesprochen werden könne.

Bei der Strukturierung und Auswertung der retrospektiven Interviews legt Dahl den Fokus auf die Selbstpositionierungen der polnischen jüdischen Zwangsmigrant_innen. Aus den 20 Interviews wurden vier ausgewählt, jeweils zwei pro Migrationsphase. Zwangsmigration wird als Ergebnis des Ausschlusses aus Polen intersektional unter den Aspekten Nationalität und Religionszugehörigkeit, Gender und Klasse, Alter und Lokalität analysiert. Dabei sind insbesondere die Analyseergebnisse der letzten Kategorie hervorzuheben, mit denen Dahl im Anschluss an Johanna Gehmacher Lokalität als eine neue identitätsbildende Kategorisierung einführt und die spezifische Rolle des Ortes benennt, an dem Erfahrungen in Identitäten transformiert werden. Sie kommt zu dem Schluss, dass es erst durch die Intersektionalitätsanalyse möglich wurde, neben Aspekten kollektiver Erinnerung auch die Partikularität und Diversität der narrativen Identitäten zu untersuchen und zu benennen. Das asymmetrische Interessensspannungsverhältnis zwischen Interviewerin und Interviewten reflektiert Dahl richtungsweisend für künftige wissenschaftskritische Forschungsarbeiten.

Die Dissertation schließt mit einem Vergleich der beiden Migrationsphasen von 1945/46 sowie 1968 bis 1972, in dem Dahl die Ergebnisse ihrer Forschung zusammenfasst, neue Forschungsdesiderate aufzeigt und so inspirierende und neue Anknüpfungspunkte für weitere Studien eröffnet wie z.B. zum politischen Einsatz Schwedens im Europa des Kalten Krieges.

Izabela A. Dahls Arbeit stellt nicht nur ein Plädoyer für transdisziplinäre Forschung dar, sondern ist auch ein exzellentes Beispiel ihrer Umsetzung. Sie liefert einen innovativen methodologischen Ansatz, durch den die komplexen Prozesse von Ausschluss und Zugehörigkeit analysierbar werden, ohne dabei die kritische Reflexion des eigenen Forschungsprozesses zu vernachlässigen. Mit der Arbeit zur polnischen jüdischen Zwangsmigration wird ein neues Forschungsfeld eröffnet, dessen wirkungspolitischer Rahmen erst durch das neu erschlossene Material greifbar wird. Als produktiv werte ich die Überlegungen zur Frage, wie Identitätskonstruktionen durch Sozialisierungs- und Individualisierungsprozesse beeinflusst werden und inwiefern Konzepte von Individualität gerade durch gesellschaftliche Sozialisierung und Machtverhältnisse konstituiert sind. Damit fordert Dahl ein traditionelles (geschichts)wissenschaftliches Selbstverständnis heraus, nach dem Forscher_innen pseudo-objektiv darüber entscheiden, welche Narrative auf welche Weise als historische Fakten und Ereignisse gewertet werden und welche nicht, ohne dabei ihre individualisierbaren Entscheidungs- und Auswahlprozesse als solche und die damit verbundenen Auswirkungen auf Tradierungen und Kanonisierungen transparent zu machen. Gerade durch die transdisziplinäre Verbindung wissenschaftskritischer Denk- und Forschungsansätze gelingt es Dahl, die narrativen Identitäten der polnischen jüdischen Zwangsmigrant_innen hör- und lesbar und für die Wahrnehmung der polnischen jüdischen Zwangsmigration als Forschungsgebiet fruchtbar zu machen.

Kritisch anmerken möchte ich Dahls Einordnung ihrer Arbeit in die feministische Forschungslandschaft, die sie nur unscharf vornimmt. Auch wird nicht immer klar, welche Personengruppen sie mit der gewählten personalen Appellationsform mit statischem Unterstrich adressiert: Wann handelt es sich um eine generische Benennungsform und wann sind beispielsweise frauisierte1 Personen gemeint? Hier wäre eine konkretere Analyse gegenderter Zuschreibungen und Selbstpositionierungen wünschenswert gewesen.

Insgesamt ist der Dissertation zu wünschen, den Leser_innenkreis mit Übersetzungen ins Polnische, Schwedische und Englische zu vergrößern, um weitere Forschungsfragen zu generieren und zu eröffnen.

Anmerkung:
1 Zur Konzeptualisierung von Frauisierung als Zuschreibungs- und Positionierungsprozess, der Personen erst als ‚Frauen’ benennt, konstituiert und damit sozialkategorisch verhandelbar macht, vgl. AG Einleitung, Feminismus, in: AK Feministische SprachPraxis (Hrsg.), Feminismus schreiben lernen. Frankfurt am Main 2011, S. 12–56.

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