C. Brosius u.a. (Hrsg.): Ritual und Ritualdynamik

Cover
Titel
Ritual und Ritualdynamik. Schlüsselbegriffe, Theorien, Diskussionen


Herausgeber
Brosius, Christiane; Michaels, Axel; Schrode, Paula
Reihe
UTB 3854
Erschienen
Göttingen 2013: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
240 S., 20 Abb.
Preis
€ 24,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Saskia Fischer, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld

Die Vorstellung von Ritualen als starren, rigiden und stereotypen Handlungsmustern wurde mittlerweile von der breiten und interdisziplinären Ritualforschung differenziert. Spätestens seit den 1960er-Jahren werden Rituale – man denke etwa an die Arbeiten von Victor Turner, Mary Douglas oder Stanley Tambiah – nicht mehr als Relikte autoritärer, ‚vormoderner‘ sozialer Gemeinschaften oder Gesellschaften verstanden. Vielmehr gelten sie seither als expressive, symbolische und kommunikative kulturelle Handlungstypen, die auch für moderne Industriegesellschaften grundlegend sind. Die Rezeption eines solchen ethnologischen und kulturanthropologischen Ritualbegriffs hat auch in anderen Disziplinen zu einem erweiterten Ritualverständnis geführt. In der gegenwärtigen Forschung werden Rituale dabei vornehmlich im Rahmen der Performanztheorien diskutiert. Allerdings lässt sich die Vielfalt der Untersuchungsgegenstände und Analysemethoden im derzeitigen wissenschaftlichen Diskurs nicht auf einen Nenner bringen. So sind Rituale zwar in aller Munde, aber nach einer die Zeiten und Kulturen übergreifenden Definition sucht man ebenso vergebens wie nach einer Leitdisziplin. Vielleicht braucht man beides auch gar nicht.

Der vorliegende von Christiane Brosius, Axel Michaels und Paula Schrode herausgegebene Band „Ritual und Ritualdynamik. Schlüsselbegriffe, Theorien, Diskussionen“ will eben dieser Ausdifferenzierung des Forschungsgegenstands ‚Ritual‘ und der Ritualforschung selbst Rechnung tragen. Der handbuchähnliche Band fasst Ergebnisse der langjährigen Arbeit des Heidelberger Sonderforschungsbereiches (SFB) 619 „Ritualdynamik“ zusammen. Ziel dieses Forschungsverbundes ist es, die „strukturellen, sozialen, historischen und erfahrungsbezogenen Dynamiken […], die sich in und mit Ritualen vollziehen“ (S. 9), in kulturvergleichender Perspektive zu erörtern. Gerade in der Interdisziplinarität sehen die Wissenschaftler des Heidelberger SFB eine grundlegende Bedingung für einen Forschungsansatz, der nicht nur die „statischen Aspekte“ des Rituals betonen, sondern vor allem die „Prozessdimension“ von rituellen Handlungen erfassen will (S. 15).

Diesem methodisch-theoretischen Ansatz des Sonderforschungsbereichs entsprechen Aufbau und Anlage des Bandes. In „Ritual und Ritualdynamik“ wird keine einheitliche Sicht auf das Ritual eingenommen. Stattdessen wollen die einzelnen Beiträge das Verständnis und die wissenschaftliche Erörterung von ganz unterschiedlichen Ritualen in verschiedenen Kontexten ermöglichen. Versammelt werden dafür zentrale Begriffe und Kategorien, die von „Agency“ bis „Wirksamkeit“ reichen und die verschiedene Zugänge zu vielfältigen Fragestellungen und Problemzusammenhängen eröffnen. Die insgesamt 27 Beiträge sind dabei einleuchtend und klar strukturiert: Einem begriffs- und theoriegeschichtlichen Teil folgen ein Analyseabschnitt, der die aktuelle Forschungsdiskussion darstellt und ein abschließender Teil mit Erläuterungen der Forschungsmethoden anhand von Beispielen. Die Beiträge wurden sowohl von Forschern des SFB „Ritualdynamik“ als auch von Wissenschaftlern, die diesem Forschungskonzept nahestehen, verfasst, darunter unter anderem Ronald L. Grimes.

Die Herausgeber und Herausgeberinnen folgen, wie sie selbst im Vorwort herausstellen, dem ebenfalls im Rahmen des SFB entstandenen zweibändigen Titel „Theorizing Rituals“, den Jens Kreinath, Jan Snoek und Michael Stausberg 2006 und 2007 in englischer Sprache herausgegeben haben. Brosius, Michaels und Schrode wollen mit ihrem Band jedoch eigene Schwerpunkte setzen. So sind zwar die Beiträge von William S. Sax („Agency“) und Axel Michaels („Bedeutung und Bedeutungslosigkeit“) Übernahmen aus „Theorizing Rituals“, allerdings wurden diese ergänzt und überarbeitet. Die weiteren Beiträge orientieren sich zwar zu einem großen Teil thematisch an den Beiträgen in „Theorizing Rituals“, wurden aber von anderen Autoren mit anderen Forschungsausrichtungen geschrieben. Darüber hinaus finden sich in „Ritual und Ritualdynamik“ auch gänzlich neue Kategorien, die in „Theorizing Rituals“ nicht erfasst wurden, wie etwa der Beitrag „Ritualdesign“ von Gregor Ahn, Nadja Miczek und Christof Zotter.

Für diejenigen, die die rege Forschung des Heidelberger SFB „Ritualdynamik“ über die letzten Jahre mit verfolgt haben, bietet der Band vielleicht nicht allzu viel grundlegend Neues. Seine Qualität liegt vor allem darin, die Ergebnisse des SFB zu bündeln und die mittlerweile zentral gewordene kulturhermeneutische Kategorie des Rituals und ihre vielfältige Verwendung in der Forschung zu umreißen. Einschränkend sei allerdings bemerkt, dass angesichts dieses doch sehr ehrgeizigen Projekts, das in einem vergleichsweise schmalen Band (240 Seiten) realisiert wird, unvermeidlich nicht alle Aspekte und Problemzusammenhänge so viel Aufmerksamkeit bekommen, wie sie verdienen. So ist es beispielsweise aus literaturwissenschaftlicher Perspektive bedauerlich, dass in den ansonsten sehr gründlichen und differenzierten Beiträgen zur „Ästhetik“ von Tim Graf und Inken Prohl und zur „Performanz“ von Hanna Walsdorf zwar auch auf das Verhältnis von Theater und Ritual (insbesondere unter Bezugnahme auf die Forschergruppe um Erika Fischer-Lichte) und auf die Performance-Kunst eingegangen wird, dass jedoch der Bereich der Literatur und ihr besonderes Verhältnis zum Ritual, dem die Philologien derzeit große Aufmerksamkeit schenken, nur kurz erwähnt wird (S. 86). Dies verwundert auch deshalb, weil sich ein Teilprojekt im Heidelberger SFB eben diesem Zusammenhang von Narratologie und ritueller Performanz widmet (Teilprojekt C10 „Rituale ohne Performanz“).

Insgesamt aber ist mit dem vorliegenden Band und seinen aspektreichen Beiträgen auf gleichbleibend hohem Niveau eine sehr profunde Einführung in den Problemzusammenhang ‚Ritual und Ritualdynamik‘ gelungen, die die aktuellen Perspektiven und Analysemethoden, wie sie in der Forschung diskutiert werden, darlegt und den derzeitigen Stand der Ritualforschung, an der der Heidelberger SFB einen erheblichen Anteil hat, dokumentiert.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension