M. Epkenhans (Hrsg.): Otto von Bismarck und die Wirtschaft

Titel
Otto von Bismarck und die Wirtschaft.


Herausgeber
Epkenhans, Michael; Ulrich von Hehl
Erschienen
Paderborn 2013: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
XIV, 240 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Boris Gehlen, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms Universität Bonn

Otto von Bismarck ist nicht in erster Linie als Wirtschaftspolitiker in Erinnerung geblieben, obwohl bereits Zeitgenossen sein entsprechendes Wirken dokumentierten.1 Seine Funktionen als preußischer Ministerpräsident, als Kanzler des Norddeutschen Bundes und als Reichskanzler lassen zudem leicht in Vergessenheit geraten, dass Bismarck ein Jahrzehnt lang, von 1880 bis 1890, in Personalunion auch als preußischer Handelsminister fungierte. Dies ist aus zwei Gründen von Bedeutung, um sein Wirken zu beurteilen: Erstens bestimmte das preußische Handelsministerium faktisch die Wirtschaftspolitik des Reichs mit, da ein vergleichbares Ministerium auf Reichsebene fehlte. Zweitens fallen zahlreiche ordnungs- und wirtschaftspolitische Grundsatzentscheidungen in diese Dekade: Den Auftakt bildeten 1879 die protektionistische Handelspolitik (und die Verstaatlichung preußischer Eisenbahnen); die ersten drei Säulen der staatlichen Sozialversicherung folgten ebenso wie der Einstieg in Kolonialpolitik. Ferner setzte sich der Formwandel wirtschaftlicher Interessenpolitik fort, und die Expertise der öffentlich-rechtlichen Handelskammern wurde zunehmend durch partikulare Interessenpolitik von Verbänden (und Einzelpersonen) ergänzt und bisweilen ersetzt. In diesem thematischen Rahmen bewegt sich der vorliegende Sammelband, der auf eine Tagung der Otto-von-Bismarck-Stiftung im Jahr 2010 zurückgeht. Die zehn Beiträge lassen sich in drei größere Blöcke unterteilen: Rahmenbedingungen (3 Beiträge), Politikfelder (4) und Interessenpolitik (3).

Im ersten thematischen Block spielt die Person Bismarck daher kaum eine Rolle. Cornelius Torp fasst konzis die für das Tagungsthema maßgeblichen Ergebnisse seiner einschlägigen Dissertation zusammen. Er erklärt Triebkräfte der Globalisierung vor dem Ersten Weltkrieg, erläutert ökonomische Effekte und benennt Globalisierungsgewinner und -verlierer im Deutschen Reich. Indem er – mit Recht – der Globalisierung einen entscheidenden Anteil an der Formierung politischer Interessen beimisst (S. 24), gewichtet er – teils im Gegensatz zur älteren Kaiserreich-Forschung – explizit ökonomische Herleitungen politischer Positionen vergleichsweise stark. Sie definierten gleichsam die Handlungsspielräume, innerhalb derer Bismarck und seine Mitarbeiter agieren konnten. Freilich verschoben sich gerade in der Bismarckzeit ökonomische Maßstäbe. Als Spätfolge der Gründerkrise von 1873 und unter dem Eindruck eines zunehmenden globalen Wettbewerbs mehrten sich die Stimmen, die liberalen Paradigmen eine Absage erteilten und Staatsintervention bevorzugten. In komplementären Beiträgen beschäftigen sich Toni Pierenkemper mit dem relativen Niedergang liberaler Ordnungsvorstellungen und Ewald Frie mit den „Kathedersozialisten“ sowie dem „Verein für Socialpolitik“. Beide Autoren beschreiben, mit Frie gesprochen, ein Feld, „das weniger nach Schach als vielmehr nach Jackson Pollock aussah“ (S. 57): Viele Probleme des Industriezeitalters waren neu, die akademisch fundierten Lösungsvorschläge variierten entsprechend. Sie reichten von völliger Vertragsfreiheit bis hin zum Staatssozialismus im Sinne Adolph Wagners. Die Debatten über Außenwirtschaftspolitik, Arbeiterschutz, Sozialversicherung oder die noch grundsätzlichere Diskussion, ob Deutschland künftig ein Agrar- oder Industriestaat sein solle, waren deshalb häufig normative Auseinandersetzungen. Freilich verliefen die Grenzen zwischen Liberalen, Katheder- und Staatssozialisten etc. in Einzelfragen keineswegs so deutlich wie die nachträglichen Kategorisierungen vermuten lassen. Für einen Pragmatiker wie Bismarck war dies eine durchaus komfortable Situation, konnte er sich doch je nach politischer Opportunität mal auf diese, mal auf jene wissenschaftlich fundierte Expertise stützen.

Wie wenig Bismarck sich dabei selbst ordnungspolitisch positionierte, zeigen die Fallstudien zu einzelnen Politikfeldern. Winfried Speitkamp leitet seinen Beitrag mit der längst beantworteten Frage ein, ob die Kolonialpolitik ein Ausweg aus der Wirtschafskrise gewesen sei, um sie mit Hintersinn neu zu stellen. Weder erblickte der kolonialpolitisch einigermaßen desinteressierte Bismarck in der Kolonialpolitik ein Instrument der Krisenintervention, noch waren die Kolonien für das Deutsche Reich ökonomisch bedeutend. Wohl aber habe die neuere Kolonialgeschichtsforschung gezeigt, dass die lokalen Akteure in den Kolonien nach einer langen Phase vorkolonialer Konflikte die Einrichtung von Schutzgebieten als Möglichkeit begriffen, ihre politische und wirtschaftliche Situation zu stabilisieren. Wenn die Kolonialpolitik überhaupt einen Ausweg aus der Wirtschaftskrise aufzeigte, dann viel eher für die lokalen Gesellschaften als für das Deutsche Reich.

Die Kolonialpolitik war freilich nicht nur aus Bismarcks Perspektive randständig. Sie verdeutlichte aber grundlegende Muster seines Handelns, die sich auch in den Beiträgen von Andreas Rose zur Handelspolitik als (außen-)politisches Mittel, von Guido Thiemeyer zur Währungspolitik und von Uwe Müller zur Infrastrukturpolitik wiederfinden: Erstens war (Außen-)Wirtschaftspolitik für Bismarck kein Selbstzweck. Er berücksichtigte ökonomische Vorgaben und Zwänge zwar, ordnete sie aber in seine übergeordneten politischen Vorstellungen z.B. der Bündnispolitik ein. Beispielsweise dienten ihm 1887 das Lombardverbot bzw. die Verdrängung russischer Wertpapiere vom deutschen Kapitalmarkt als außenpolitisches – und letztlich erfolgloses – Druckmittel gegenüber dem Zarenreich. Zweitens war Bismarck ein ordnungspolitischer Opportunist, der sich je nach politischer „Großwetterlage“ mal als Befürworter des Goldstandards, mal als Befürworter einer bimetallischen Währung zu erkennen gab. Dabei ging es ihm aber nicht um währungspolitische Dogmatik oder wirtschaftliche Effekte, sondern um politische Beweglichkeit. Aus außenpolitischen Motiven hatte er sich 1868 für den Goldstandard erwärmen können, 1879 dienten ihm Überlegungen, eine – besonders von agrarischer Seite geforderte – gold- und silbergedeckte Währung einzuführen, als Druckmittel gegenüber den Nationalliberalen. Daran anknüpfend „spielte“ Bismarck, drittens, mit ökonomischen Interessengegensätzen. Besonders in der Infrastrukturpolitik konfligierten Ziele zwischen kostengünstiger sowie -deckender Versorgung mit Verkehrsdienstleistungen einerseits, mit strukturpolitischen Überlegungen zur Förderung peripherer Wirtschaftsgebiete im agrarischen Osten andererseits; dies führte letztlich zu einer Politik des Durchwurschtelns, die mal den Interessen peripherer östlicher, mal den Interessen stark verdichteter westlicher Regionen entgegenkam.

Bismarck folgte bei der Einbindung einzelner Interessen immer einem Wechselspiel von Nähe und Distanz. Er suchte in Einzelfragen Expertise bei interessenpolitischen Akteuren und bot ihnen derart die Möglichkeit, die Politik des Reichskanzlers zu beeinflussen. Dauerhafte Koalitionen bildeten sich freilich nicht. Wie Marco Rudzinski am Beispiel der Beziehungen zwischen Louis Baare, dem langjährigen Vorstand des Bochumer Vereins für Bergbau- und Gussstahlfabrikation, und Bismarck zeigt, war der persönliche Austausch konkret-funktional: Der Ruhrindustrielle Baare war einer der Wegbereiter der gesetzlichen Unfallversicherung und stellte mit seinen Beziehungen eine politische Ressource dar. Nach Ende des Gesetzgebungsprozesses blieb eine wechselseitige Wertschätzung zwar bestehen und Baare fungierte vereinzelt als Ratgeber, aber Kontakthäufigkeit und Inhalte definierte allein der Reichskanzler. Dieses Muster gilt ebenso für Bismarcks Haltung zu kollektiven Interessen, wie Werner Bührer in seinem Beitrag über die industriellen Verbände zeigt: Besonders die Schwerindustrie drang mit ihren Vorstellungen nur dann durch, wenn Bismarck sie goutierte; in anderen Fällen hingegen zeigten sich die Unternehmer enttäuscht von der Haltung des Kanzlers. Das Verhältnis zwischen den Industriellen und „dem Junker“ Bismarck blieb ambivalent. Nicht zuletzt deshalb verneint auch Ralf Stremmel seine Leitfrage, ob zwischen Ruhrindustriellen und dem Kanzler ein Vertrauensverhältnis bestand. Vielmehr handelte es sich – von beiden Seiten – um eine funktionale Beziehung, die sich intensivierte, wenn die Präferenzen einander annäherten, und gelockert wurden, wenn von der Beziehungspflege kein wirtschaftlicher oder politischer Mehrwert zu erwarten war.

Die abschließend von Michael Epkenhans aufgeworfene Frage, ob Bismarck wirtschaftspolitischer Pragmatiker oder Programmatiker war (S. 229), ist daher schnell als rhetorisch „entlarvt“. Denn so unterschiedlich die Perspektiven der einzelnen Beiträge sind, so einheitlich konturiert sich das Bild von Bismarck und der Wirtschaft: Bismarck interessierte sich nicht per se für die Ökonomie und ihre Eigenlogik, berücksichtigte aber wirtschaftliche Effekte und aktivierte ökonomische Interessen für seine Politik. Nicht zuletzt seine flexible Haltung, sein Denken in politischen Koalitionen und die Vielzahl an sachlichen, sich häufig widersprechenden Entscheidungsoptionen führte zu einer Wirtschaftspolitik, die den Maßstab ökonomischer Effizienz geringer gewichtete als den Maßstab eines – nicht zuletzt von Bismarck definierten – amorphen nationalen Gemeinwohls.

Diese Erkenntnis ist freilich nicht neu; daher mag man bedauern, dass der Band auf etablierten Pfaden wandelt, vornehmlich „klassische“ Politikfelder abdeckt und „die Wirtschaft“ (mal wieder) weitgehend durch die (Schwer-)Industrie repräsentiert wird. Doch ist dies keine Kritik an der Konzeption des Bandes, der vielmehr den Forschungsstand widerspiegelt und derart implizit Desiderate aufzeigt. Die Mehrzahl der Beiträge beruht auf größeren, bereits publizierten Forschungsarbeiten und liefert daher einschlägig vorinformierten Leserinnen und Lesern nur im Detail neue Erkenntnisse. Aber die Darstellungen fassen Forschungsdiskussionen souverän zusammen, sind erfreulich konsequent auf Bismarcks Handeln ausgerichtet, kontextualisieren es nicht aus der üblichen politischen, sondern einer wirtschaftlichen Perspektive, bewerten es teils neu und erlauben es daher auch, neue Fragen an einen vermeintlich ausgeforschten Gegenstand zu stellen. Insofern ist der Band ein willkommener Beitrag zur Geschichte der Bismarckzeit im Allgemeinen und ihrer Wirtschaftsgeschichte im Besonderen.

Anmerkung:
1 Heinrich von Poschinger, Fürst Bismarck als Volkswirth, 3 Bände, Berlin, 1889–1891.

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