Titel
Geteilte Erinnerung. Beiträge zur 'deutsch-jüdischen' Gegenwart


Autor(en)
Korn, Salomon
Erschienen
Berlin 1999: Philo Verlag
Anzahl Seiten
265 S.
Preis
DM 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Holger Kirsch, Universität Bielefeld

In verschiedenen Wissenschaftszweigen, aber auch in der breiteren Öffentlichkeit hat das Themenfeld 'Erinnerung' bekanntlich Konjunktur, zumal wenn es dabei um die Probleme des deutschen Holocaust-Gedenkens geht. Die Publikationsfülle, die der Erinnerungsbetrieb hervorbringt, ist inzwischen kaum mehr überschaubar und von recht unterschiedlicher Qualität. Insbesondere Sammlungen von Zeitungsartikeln und ähnlichen Gebrauchstexten ist mit prinzipieller Skepsis zu begegnen. Seit die Institution des Lektorats weitgehend abgeschafft wurde, bürgen selbst etablierte Verlagsnamen nur noch eingeschränkt für das inhaltliche Niveau einer Veröffentlichung 1. Um so erfreulicher ist es, hier einen Sammelband vorstellen zu können, der mit ausserordentlichem Gewinn zu lesen ist: Salomon Korn, Präsidiumsmitglied im Zentralrat der Juden und seit September 1999 Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt, hat unter dem Titel "Geteilte Erinnerung" eine Auswahl seiner Essays, Reden und Interviews vorgelegt.

1943 in Polen geboren, kam Korn nach Kriegsende mit seinen Eltern in den westlichen Teil Deutschlands. Der Familie erging es wie vielen anderen jüdischen Displaced Persons: Die geplante Auswanderung in die USA oder nach Israel wurde immer wieder verschoben und schliesslich ganz aufgegeben, ohne dass es eine ausdrückliche Entscheidung gewesen wäre. Korn studierte Architektur und Soziologie, promovierte über die Reform des Strafvollzugs und gewann 1980 einen Wettbewerb für den Bau des Jüdischen Gemeindezentrums in Frankfurt am Main. Während der Realisierung dieses Projekts trat sein "Bewusstsein, sich hier nur im Transit aufzuhalten" (S. 13), endgültig in den Hintergrund. Korn wurde in den Vorstand der Jüdischen Gemeinde gewählt und erlebte während des Börneplatz-Konflikts 1987/88 einen persönlichen Politisierungsschub. In den Gedenkdebatten der 1990er Jahre ist er wegen seiner luziden Beiträge zu einer bundesweit be- und geachteten Persönlichkeit geworden.

Der Aufbau des Bandes, der 27 Texte aus dem Zeitraum von 1986 bis 1999 enthält, spiegelt Korns vielseitige Interessen wider. Den Einstieg bilden Artikel über "Architektur und Judentum" (1.); es folgen die Themen "Gedenkorte - Gedenktage" (2.), "Jüdisches Leben in Deutschland" (3.), "Das 'Holocaust-Mahnmal' in Berlin" (4.), "Erinnerung als Legitimation: Zur Bubis-Walser-Kontroverse" (5.) sowie als "Nachtrag" ein Interview aus Anlass des Todes von Ignatz Bubis. Bestimmte Fragestellungen und Grundgedanken durchziehen das ganze Buch, ohne dass es aber zu störenden Wiederholungen käme. Eine Publikationsliste ermöglicht das Auffinden von Korns übrigen, in dem Band nicht enthaltenen Texten.

1. Die Formen der Synagogenarchitektur dokumentieren für Korn die Ungewissheiten im gesellschaftlichen Status und kulturellen Selbstverständnis des deutschen Judentums nach der Emanzipation. Viele jüdische Gotteshäuser des 19. Jahrhunderts sollten ein "Bekenntnis zur deutschen Nation" und zugleich "demonstratives Betonen jüdischer Eigenständigkeit" gegenüber der christlichen Mehrheitsgesellschaft ausdrücken (S. 32) - dies führte häufig zu eklektizistischen Stilkombinationen. Nach Reichspogromnacht und Holocaust spielte die Baugattung 'Synagoge' für die deutschen Stadtbilder eine zwangsläufig geringere Rolle. Wie Korn an Beispielen und mit Abbildungen belegt, gab es von Anfang der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre aber etliche Neubauten von Synagogen oder Gemeindezentren. Mit Ausnahme des Jüdischen Gemeindehauses in der Berliner Fasanenstrasse (vgl. S. 61 f.) handelte es sich durchgängig um "eine Architektur der scheinbaren Neutralität und des Schweigens" (S. 64): Die Formensprache verwies nicht auf die historische Erfahrung des Holocaust, die den Gemeindemitgliedern wohl noch zu schmerzhaft präsent war. Erst in einer zweiten Bauphase ab Mitte der 1980er Jahre wurde es möglich, den "Bruch als Architekturmetapher" (S. 33) zu verwenden. Das von Korn entworfene Gemeindezentrum in Frankfurt am Main, das 1986 eingeweiht wurde, ist ein herausragendes Beispiel für die Dialektik mahnender Erinnerung und neuer Hoffnung (vgl. S. 62 ff.). Korns Eröffnungsrede trug den programmatischen Titel "Wer ein Haus baut, will bleiben" (vgl. S. 71-75). Für Duisburg, Dresden und Mainz haben andere Architekten in den 1990er Jahren Gemeindebauten konzipiert, die expressiv auf jüdische Traditionen verweisen, aber zugleich die Zerstörungen der NS-Zeit präsent halten (vgl. S. 65-70) - ganz anders als es bei der fragwürdigen Rekonstruktion der Dresdner Frauenkirche geschieht. Korn würdigt auch Daniel Libeskinds Bau des Jüdischen Museums in Berlin, der sich "gegen jede museale Konservierung einer als politisches Phänomen nie existenten deutsch-jüdischen Symbiose" sperre (S. 85). Dabei übersieht er freilich nicht die konzeptionellen Schwierigkeiten, die sich aus der dominanten Architektur für die Ausstellungsgestaltung ergeben (vgl. S. 77-85).

2. Im heutigen Gedenken deutscher Juden und Nichtjuden erkennt Korn manche Parallelen. Selbst für ihn als Vertreter der jüdischen Seite ist bei einer Reise nach Auschwitz die "Verzweiflung des Nachgeborenen" spürbar, dass sich die Schrecken der Lager einem unmittelbaren Verstehen entziehen (S. 96). Er betont die gemeinsame Verantwortung, das Wissen um die Vergangenheit erinnernd zu bewahren, hebt jedoch auch hervor, dass ein "unterschiedslos vereinendes Nationalgefühl" in Deutschland nicht möglich sei (S. 118). Den erzwungenen Rücktritt Philipp Jenningers nach dessen Rede zum 9. November 1988 erklärt Korn damit, dass der damalige Bundestagspräsident "gegen das opferzentrierte Betroffenheitskartell" verstossen habe (S. 117); demgegenüber müsse die Auseinandersetzung mit der Täterschaft ein mindestens gleichrangiges Element des deutschen Erinnerns werden. Den 'Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus' am 27. Januar hält er - im Gegensatz etwa zu Michal Bodemann, Henryk M. Broder und Peter Reichel 2 - für durchaus geeignet, um sich mit dem historischen Geschehen differenziert zu beschäftigen (vgl. S. 118). Wie neben Gedenktagen auch konkrete Orte dazu beitragen können, das Geschichtsbewusstsein zu schärfen, dokumentiert Korns Rede zur Einweihung der Gedenkstätte Neuer Börneplatz in Frankfurt am Main von 1996 (vgl. S. 109-114). Beim Bau eines neuen Kundenzentrums der Stadtwerke hatte man dort 1987/88 die Relikte der spätmittelalterlichen Judengasse weitgehend zerstört - und anschliessend, gleichsam kompensatorisch, einen Denkmalswettbewerb ausgeschrieben. Zum Glück wurde schliesslich ein Entwurf realisiert, der nicht nur aussagekräftig an die Deportation der Frankfurter Juden im Nationalsozialismus erinnert, sondern der zudem den städtischen Zerstörungsakt der Gegenwart thematisiert.

3. An der "forcierten Diskussion um jüdische Identität in Deutschland" will sich Korn nur eingeschränkt beteiligen, weil es dabei oft um einen "patriotischen Wettlauf" zwischen dem 'jüdischen Hasen' und dem 'deutschen Igel' gehe (S. 146). Mehr als fixierte Zuschreibungen von Deutschtum und/oder Judentum interessiert ihn, welche Folgen es für die jüdischen Gemeinden haben wird, wenn der Holocaust als "Identitätsstütze" in den Hintergrund tritt (S. 153). Die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion wirft Fragen auf, die sich mit Hilfe der etablierten Argumentationsmuster nicht beantworten lassen. Angesichts der Tatsache, dass es in Deutschland inzwischen "viele Judentümer" gibt 3, betrachtet es Korn noch als ungewiss, ob das Konzept der Einheitsgemeinde und des Zentralrats als politischer Repräsentanz Bestand haben werde (vgl. S. 151 f.). Bevor man Visionen über einen jüdischen Beitrag zur gesamteuropäischen Kultur entwickeln könne, müsse zuallererst der lokale Zusammenhalt gefestigt werden (vgl. S. 156). Auf die "Generation der Pioniere und Erbauer der jüdischen Nachkriegsgemeinden" folge nun die "Generation der Verwalter" (S. 153), die die Grundlagen übernehmen könne, aber neue Orientierungen entwickeln müsse. Für das Verhältnis von Juden und Nichtjuden hofft Korn auf einen "christlich-jüdisch-moslemischen Trialog" (S. 166). Andererseits erkennt er die Gefahr, dass die Pluralisierung von Identitäten nationalistische Abschottung und rechtsextremistische Gewalt wiederaufleben lässt. Dadurch habe sich bei vielen Juden "das Gefühl des nur provisorischen und passageren Aufenthalts in Deutschland" zurückgemeldet (S. 142).

4. Beim Wettbewerb zum "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" war Korn 1995 als Jurymitglied tätig, und auch in den späteren Diskussionsphasen hat er immer wieder Position bezogen. Seine gleichermassen differenzierte wie entschiedene Argumentation bildet einen Gegenpol zur moralisierenden Selbstgewissheit der Denkmalsinitiatorin Lea Rosh, und so ist es bezeichnend, dass diese Korns Einwände als "ziemlich nervig und zeitraubend" abqualifiziert 4. Sich zuerst über den Bedeutungsgehalt des geplanten Mahnmals für das vereinte Deutschland zu verständigen, wie Korn wiederholt gefordert hat, hätte wohl eher Klarheit geschaffen und Zeit gespart. Aus seiner Kritik an einer einseitigen Opferidentifikation folgert Korn für den Standort und die Gestaltung des Denkmals, dass man sich mit Nationalsymbolen wie dem Brandenburger Tor, der Neuen Wache oder dem Reichstag auseinandersetzen müsse - auch um einen Gegenwartsbezug des Gedenkens herzustellen (vgl. v.a. S. 193-197). Die exklusive Widmung an die ermordeten Juden hält er für einen Fehler, "weil die damit öffentlich bekundete Schuld nicht der tatsächlichen Dimension des Jahrhundertverbrechens entspricht" (S. 211). Da "aufrichtige Annäherung und dauerhaftes Miteinander" zwischen Juden und Nichtjuden "nur im Bewusstsein des dauerhaft Trennenden" möglich seien (S. 201), präferiert Korn letztlich "eine Trennung von Denkmal für die Opfer und Mahnmal gegen Tat und Täter" (S. 209). Unabhängig davon, ob man diesen Positionen im einzelnen zustimmen mag, wäre es zweifelsohne nötig gewesen, dass sich der Bundestag mit solchen konzeptionellen Fragen intensiver befasst hätte, als es in der entscheidenden Debatte vom Juni 1999 geschehen ist.

5. Mit einer Mischung aus Nüchternheit und Engagement hat Korn auch den Konflikt zwischen Ignatz Bubis und Martin Walser begleitet. Ähnlich wie etwa György Konrád 5 hat er sich um Erklärung und Vermittlung bemüht, statt die Situation zusätzlich zu dramatisieren. Bubis habe einen "Schwenk der Eliten" wie 1933 befürchtet (S. 223), während Walser seine autobiographische Erinnerung von den NS-Verbrechen freihalten wolle, die das öffentliche Bild dieser Zeit heute fast ausschliesslich bestimmen (vgl. S. 226). Dennoch sieht Korn in der "Sorge um angemessene kollektive Erinnerung" eine prinzipielle Gemeinsamkeit von Bubis und Walser (S. 227). So erscheint ihm die Kontroverse insgesamt als "ein schmerzlicher, aber notwendiger Umweg" zu einer "pragmatischen Normalität", die die unterschiedlichen Identitäten nicht einebne (S. 222). Der Buchtitel "Geteilte Erinnerung" ist daher doppelsinnig (S. 18 f.): "Das Trennende wird definiert durch die unterschiedlichen Opfer- und Täterbiografien mit ihren jeweiligen Erfahrungen, Schicksalen, Traumata und den daraus hervorgegangenen legitimatorischen Erinnerungen. Das Verbindende betrifft vor allem den Konsens darüber, was einst Unrecht war, gleichgültig, wem es angetan wurde. Aus diesem Konsens heraus kann eine von Opfer- und 'Täternachfahren' gleichermassen zu übernehmende Verantwortung für die Zukunft erwachsen, die es dann gestattet, die zweigeteilte Erblast der Erinnerung gemeinsam zu tragen."

Als zum Jahreswechsel 1999/2000 ein Nachfolger für den verstorbenen Ignatz Bubis gesucht wurde, erklärte Salomon Korn, dass er für das Amt des Zentralratsvorsitzenden nicht kandidieren wolle. Einer der Gründe war, dass er auch weiterhin Zeit für seine publizistischen Aktivitäten haben möchte. Korns Leser und Zuhörer werden dies zu schätzen wissen - auf weitere Beiträge aus seiner Feder darf man gespannt sein 6.

Anmerkungen:
1 Als Negativbeispiel sei verwiesen auf Jürgen Dittberner, Schwierigkeiten mit dem Gedenken. Auseinandersetzungen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, Opladen/Wiesbaden 1999. Der Autor, früherer Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, hat ein Sammelsurium seiner Reden und Aktennotizen zusammengestellt, für das der anspruchsvolle Titel grob irreführend ist.
2 Vgl. Michal Bodemann, Schafft diesen Gedenktag wieder ab!, in: tageszeitung, 26.1.1999, S. 12; Henryk M. Broder, Jedem das Seine, Augsburg 1999, S. 121; Peter Reichel, Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, Frankfurt a.M. 1999, S. 279-285.
3 Vgl. Jörg Lau, Was heisst hier jüdisch?, in: ZEIT, 5.1.2000, S. 9-13, hier S. 12, der eine Formulierung Rachel Salamanders aufgreift.
4 Lea Rosh, "Die Juden, das sind doch die anderen". Der Streit um ein deutsches Denkmal. Mit Beiträgen von Eberhard Jäckel, Tilman Fichter, Jakob Schulze-Rohr, Wolfgang Ullmann und einem Geleitwort von Michel Friedman, Berlin 1999, S. 50. Das Buch erschien fast zeitgleich ebenfalls im Philo-Verlag.
5 Vgl. György Konrád, Die Freiheit des Erinnerns, in: ZEIT, 22.12.1998, S. 38 f.
6 Nach Manuskriptabschluss des vorliegenden Buchs sind bereits wieder einige Artikel erschienen; vgl. etwa: Im anderen den Nächsten sehen. Erinnerung an Ignatz Bubis, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.9.1999, S. I f.; "Es ist ein schmaler Grat, auf dem wir uns bewegen". Salomon Korn, neuer Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Gemeinde, zu Perspektiven für Juden in Frankfurt, in: Frankfurter Rundschau, 1.10.1999, S. 26 (Interview); "Was uns trennt, das verbindet uns auch". Gibt es eine neue Unbefangenheit zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland? Ein Gespräch mit Salomon Korn, in: Tagesspiegel, 1.11.1999, S. 25; "Eine gewisse Dreistigkeit gegenüber den Opfern". Salomon Korn, Präsidiumsmitglied des Zentralrats der Juden, über das verkrampfte Verhältnis der Deutschen zu den Juden, in: Süddeutsche Zeitung, 30.11.1999, S. 13 (Interview); Es gab eine Zeit, da feierten wir gemeinsam Weihnachten und Chanukka: "Weihnukka", in: ZEIT, 22.12.1999, S. 1.

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