G. Whittaker: Die Schule und die literarische Moderne 1880–1918

Cover
Titel
Überbürdung – Subversion – Ermächtigung. Die Schule und die literarische Moderne 1880–1918


Autor(en)
Whittaker, Gwendolyn
Reihe
Literatur- und Mediengeschichte der Moderne 2
Erschienen
Göttingen 2013: V&R unipress
Anzahl Seiten
363 S.
Preis
€ 49,99
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Petra Moser, Pädagogische Hochschule Zürich

Sich im Grenzland von Literatur- und Sozialgeschichte zu bewegen, kann ein großes intellektuelles Vergnügen sein: Das Wirkliche, besser das wirklich Identifizierbare bleibt zum Greifen nah und der Horizont des Menschenmöglichen, der im Medium von Literatur und Kunst als Lockung virulent ist, gerät nicht aus dem Blick. Einer Wissenschaft, die sich nicht als Sachwalterin des Gegebenen versteht, kann diese Konstellation nur recht sein; etwas aus ihr zu machen gelingt jedoch nur, wenn sie den Eigensinn und den Eigenwert des Ästhetischen begreift und seine Zeugnisse nicht als originelle Erweiterung der heranziehbaren Quellen auffasst. In ihrem Buch zur Schulliteratur um 1900 scheint Gwendolyn Whittaker das zu versprechen, wenn sie (vielleicht etwas burschikos) vom ‚ästhetischen Mehrwert‘ spricht, den es zu berücksichtigen und anzueignen gelte.

Leider bleibt die Autorin dieser Absicht nur in der Abwehr jener Ansätze treu, die die literarischen Texte lediglich als Erscheinungsformen der Biographien ihrer Urheber auffassen. Ihre eigene Vorgehensweise ist vom Gestus des Subsumierens keineswegs frei. Das gilt für die Organisation des Textganzen ebenso wie für die zum Teil ausführlichen und subtilen Detailuntersuchungen zu einzelnen Texten bzw. Textgruppen.

Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen, in denen man weniger über den jeweiligen Gegenstand lernt als über den Umgang mit ihm. Das Buch von Gwendolyn Whittaker ist ein gutes Beispiel hierfür. Seine zentralen begrifflichen Werkzeuge zeigt es schon im Titel vor: „Überbürdung – Subversion – Ermächtigung“. Mit diesen drei Begriffen soll – wie der Untertitel nahelegt – die Geschichte des Verhältnisses von Schule und literarischer Moderne von 1880 bis 1918 aufgeschlüsselt werden. Im Zentrum stehen dabei literarische Texte aus dem genannten Zeitraum; die Autorin subsumiert sie unter dem Begriff „Schulliteratur“. Damit solle ein Genre bestimmt werden, das „die Ausschließlichkeit des Gattungsbegriffs einerseits und des Begriffs der Textsorte andererseits“ vermeide. Eine Abgrenzung von den Begriffen des Entwicklungs-, Erziehungs- oder Bildungsromans sei zudem überflüssig, „weil die Rahmung durch die Schule eine hinreichende Unterscheidung von der vergleichsweise offenen Anlage solcher Gattungen“ darstelle (S. 32).

Ob der Begriff der Schulliteratur das tatsächlich leistet, ist die Frage. Die Autorin jedenfalls verlässt sich auf ihn; sie traut ihm eine „vom Material her geleitete Selektion“ zu, aus der ein Corpus von dreißig Texten hervorgehe, die dem Begriff zuzurechnen seien. Die latente Gewaltsamkeit, die dem Begriff der Selektion per se innewohnt, zeigt sich offen, wenn man das schulliterarische Corpus überblickt: In ihm findet sich unter anderem das der Figur des Hanno gewidmete ‚Schulkapitel‘ von Thomas Manns „Buddenbrooks“ ebenso, wie die vergleichsweise schludrige, mild-pornographische Erzählung „Mine-Haha“ von Frank Wedekind. Robert Walsers Tagebuchroman „Jakob von Gunten“, der sich riskant und virtuos auf der Schwelle der Identitätspreisgabe bewegt, steht neben Arnolt Bronnens wild schäumendem Drama „Geburt der Jugend“, in dem der expressionistische Furor sich zu einer billigen Blut-und-Boden-Ekstase wandelt.

Der Umgang mit solch heterogenem Material kommt auch nach der Selektion der Texte selbst nicht ohne die subtile Gewaltsamkeit aus, die den meisten Begriffsoperationen eigen ist. Im vorliegenden Fall geschieht dies in einer geschickten Handhabung des Diskurs-Begriffs. Dieser oszilliert zwischen einer nicht-literarisch formierten ‚Realität‘ und dem literarischen Text, ohne sich je auf eine Seite zu schlagen, sondern in der Behauptung, es gebe die Möglichkeit „sich wechselseitig durchdringender Diskurse, die das Phänomen der Schule um 1900 auf diese Weise allererst hervorbringen“ (S. 39).

An die Stelle eines wie auch immer gearteten Verhältnisses von Literatur und Realität tritt die Vorstellung eines von beiden Seiten genährten Diskurskonzertes, aus dem das Phänomen Schule allererst hervorgeht. Im Gerüst solch luftiger Konstruktion lässt sich vieles ansprechen und abfragen, was den im Titel signalisierten Dreierschritt von Institutionskritik, Unterminierung der Institution und Überschreitung der Institution in Richtung einer politisch imprägnierten Selbstermächtigung beglaubigt.

Auch das in der einschlägigen Literatur bisher nicht oder nur unzureichend Gewürdigte lässt sich für die eigenen Interessen mobilisieren – zum Beispiel Robert Walsers thematisch einschlägige Prosatexte. So verfolgt denn auch das entsprechende Kapitel bei Gwendolyn Whittaker die Absicht, „diese Texte dennoch in das Korpus einzubinden“ (S. 193). Damit das gelingen kann, gilt es zunächst vom Entstehungskontext Abstand zu nehmen – mit der für den „Jakob von Gunten“ falschen Behauptung, davon sei wenig bekannt. Wie sie später selbst anmerkt, ist dem keineswegs so. Robert Walser hatte 1905 in einer Art Selbstexperiment eine Berliner Dienerschule besucht und danach in Polen auf einem Schloss eine Stelle als Diener angetreten. Nimmt man dies so ernst, wie man jedes Selbstexperiment ernst nehmen sollte, wird deutlich, dass es sich im „Jakob von Gunten“ nicht – wie die Verfasserin postuliert – um eine „Zersetzung der Institution im Zeichenspiel“ (S. 208) handelt, sondern um das bewusst eingegangene Risiko einer Identitätsverweigerung. Damit steht allerdings mehr auf dem Spiel als ein Diskursmanöver oder ein subversives Zeichenspiel. Zur Wahrnehmung dieser Dimension der literarischen Kritik institutioneller Bildung gelangt das Buch an keiner Stelle.

Wertlos ist es deshalb keineswegs: Es breitet eine Fülle von zum Teil entlegenen Materialien aus, die man auch dann für sich produktiv machen kann, wenn man die Zugriffsweisen der Verfasserin kritikwürdig findet und ihre Intentionen nicht teilt. Dass sie gleichsam jenseits ihrer eigenen Interessen durchaus einen subtilen Umgang mit Texten unterhalten kann, zeigen unter anderem die Passagen zu Walsers „Fritz Kochers Aufsätze“ und zu Thomas Manns „Buddenbrooks“. In ihnen tritt nicht weniger als eine Parallele in der Absage an eine kräftige Entwicklung des Individuums zutage, die angesichts der Unvereinbarkeit der Schreibhaltungen der beiden Autoren staunenswert ist: Hannos „Ich kann nichts werden. Ich fürchte mich vor dem Ganzen“ erscheint überraschend als ein Vorläufer jener oft zitierten Passage aus Robert Walsers „Jakob von Guten“: „Und höbe und trüge mich eine Hand, ein Umstand, eine Welle bis hinauf, wo Macht und Einfluss gebieten, ich würde die Verhältnisse, die mich bevorzugten, zerschlagen, und mich selber würde ich hinabwerfen ins niedrige, nichtssagende Dunkel. Ich kann nur in den untern Regionen atmen.“1

Die kritische Kraft solcher Absagen an das Prinzip gesellschaftlicher Dominanz hat Thomas Mann in einem Kommentar zum Schulkapitel seines Romans so beschrieben: „Ohne […] ihren leidenden Kritizismus, dem die Wirklichkeit, wie sie ist und wie sie dem Tüchtigen behagt, unerträglich ist, […] wären Menschheit und Gesellschaft seit diluvialen Zeiten um keinen Schritt vorwärts gekommen.“ (S. 100f.)

Anmerkung:
1 Robert Walser, Jakob von Gunten. Ein Tagebuch, Zürich 1985, S. 145.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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