R. Braches-Chyrek: Professionalisierung und Disziplinbildung

Cover
Titel
Jane Addams, Mary Richmond und Alice Salomon. Professionalisierung und Disziplinbildung Sozialer Arbeit


Autor(en)
Braches-Chyrek, Rita
Erschienen
Anzahl Seiten
315 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Tobias Studer, Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz, Olten

Rita Braches-Chyrek betrachtet im vorliegenden Band am Beispiel dreier Autorinnen die Professionalisierung der Sozialen Arbeit und ihre Entwicklung als Disziplin im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert. Es kann vorweggenommen werden, dass Braches-Chyrek dieses anspruchsvolle Vorhaben nicht in jederlei Hinsicht umsetzt, dass es sich bei der Untersuchung aber gleichwohl um eine differenzierte und detailreiche Analyse der historischen Bedeutung von Jane Addams, Mary Richmond und Alice Salomon handelt.

Die Bedeutung der drei Reformerinnen für die Profession und Disziplin der Sozialen Arbeit soll unter Berücksichtigung der jeweiligen gesellschaftlichen Situation im Hinblick auf die Formung einer eigenständigen Disziplin analysiert werden. Braches-Chyrek vermutet in der Einleitung (erstes Kapitel), dass sich in einer wissenschaftstheoretisch ausgerichteten Analyse der historischen Quellen drei Entwicklungen zeigen lassen: Die Beiträge der Sozialreformerinnen illustrieren erstens den diskursiven Charakter der Sozialen Arbeit im ausgehenden 19. Jahrhundert, zweitens lassen sich anhand der internationalen Beziehungen der drei Autorinnen Verschränkungen zwischen Disziplin, professioneller Praxis und politischem Handeln festmachen. Drittens ist über die Partizipationsmöglichkeiten an kommunalen und nationalen Sozialpolitiken die Herstellung von politischen Öffentlichkeiten zu erkennen, welche soziale Reformen und die Herausbildung disziplinärer Identität zur Folge hatten (S. 9f.). Es handelt sich bei dem vorgestellten Vorhaben also um einen „rekonstruktiven Vergleich der historischen Prozesse, die zur Herausbildung der Profession und Disziplin Sozialer Arbeit geführt haben“ (S. 11).

Die Autorin stellt im zweiten Kapitel die theoretischen Grundlagen, die Methode und den Forschungstand dar und analysiert das Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Strukturen und subjektiven Aneignungsprozessen in Anlehnung an Pierre Bourdieus Praxeologie. Die Veränderungen von Machtprozessen im sozialen Raum werden als dynamischer Prozess verstanden. Den drei Autorinnen sei es gelungen, „durch die Herausbildung zentraler Begriffe, Methoden und Institutionen wichtige Felder im sozialen Raum neu zu erschließen und Entscheidungspositionen machtvoll zu besetzen“ (S. 18). Mit einem texthermeneutischen Analyseverfahren solle die Rekonstruktion der Vorstellungen der drei Sozialreformerinnen zur Sozialen Arbeit im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit und interkulturelle Auseinandersetzung erfolgen. Braches-Chyrek interpretiert in diesem Zusammenhang soziale Bewegungen und Reformbestrebungen als Formen der Aufdeckungs-, Ernüchterungs- und Aufklärungsarbeit, welche die Entwicklung neuer Politiken ermöglichten.

Eine Darstellung der historisch wechselnden Problemstellungen ab Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgt im dritten Kapitel unter Betrachtung der Begriffskonstruktion der „Sozialen Frage“: Die Soziale Arbeit wird im 19. Jahrhundert als Produkt der Aufklärung und des bürgerlichen Engagements eingeführt und als Antwort auf den zunehmend erniedrigenden Charakter von Armut verstanden. Dabei macht Braches-Chyrek deutlich, dass die Etablierung von Sozialer Arbeit als Profession und Disziplin mit einer Delegitimation der sozialen Einrichtungen einherging, welche in der Vormoderne Hilfe für Notleidende anboten. Gegenstand des vierten Kapitels sind die Strukturbedingungen sozialer Ungleichheit, die sich in herrschaftlichen Ein- und Ausschlusssemantiken niederschlugen. Mit den bürgerlichen Sozialreformen und der Frauenbewegung konnten neue Politiken entwickelt und sozialpolitische Maßnahmen initiiert werden. Damit einher ging ein systematisches Nachdenken über die Erziehbarkeit des Menschen und über Bildung als Vermittlungsinstanz von Individuum und Gesellschaft: „In der Begriffsentwicklung von Sozialer Arbeit bzw. Sozialpädagogik ging es also um zwei wesentliche Fragen, zum einen wie Erziehung und Bildung Voraussetzungen des funktionierenden sozialen Lebens sein können und zum anderen um die gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen von Bildung und Erziehung“ (S. 95). Im fünften Kapitel wird die Herausbildung der Armenfürsorge in den Vereinigten Staaten behandelt, wo die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates ähnlich wie in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts angesiedelt und mit der Bildung von Nationalstaaten und dem Beginn der Industrialisierung verknüpft ist.

Vor dem Hintergrund dieser politik- und sozialhistorischen Kontextualisierung beschäftigt sich Braches-Chyrek in den Kapiteln 6 bis 8 mit der Analyse der Werke von Jane Addams, Mary Richmond und Alice Salomon, deren Konzepte sie sowohl biographisch als auch innerhalb der jeweiligen wirtschaftlichen und politischen Kontexte verortet. Im sechsten Kapitel erfolgt am Beispiel der Settlementbewegung und der entsprechenden sozialen und politischen Praxen eine Auseinandersetzung mit dem Beitrag dieser Akteurinnen zur Entwicklung von Profession und Disziplin. Hierbei macht Braches-Chyrek deutlich, dass die Residents als Ursprung der Radical Social Work gelten und die Intention verfolgten, mit der Entwicklung von Methode und Theorie die strukturellen und institutionellen Barrieren zwischen den sozialen Klassen aufzubrechen (S. 169). Das siebte Kapitel ist den Charity-Organization-Movements und deren Einfluss auf die Professionalisierung der Sozialen Arbeit gewidmet. Die von Mary Richmond entwickelte Methode der Einzelfallhilfe liefert mit ihrer Orientierung an der Aktivierung des Selbsthilfepotentials einen grundlegenden Kontrast zur Settlementbewegung. Der Ansatz orientierte sich verstärkt an Bildungsprozessen und einer sozialräumlichen Verbesserung des Quartiers. Alice Salomon und die neuen professionellen Formen sozialer Tätigkeit sind Gegenstand des achten Kapitels, wobei in diesem Zusammenhang besonders auf die Ambivalenzen in der Professionsentwicklung bezüglich der gesellschaftlichen Veränderung und der sozialen Verpflichtung der besitzenden Klassen hingewiesen wird.

Braches-Chyrek führt eine dezidiert politisch orientierte Diskussion der Professionsentwicklung Sozialer Arbeit und stellt die Soziale Arbeit damit in ihrer gesellschaftlichen Funktion historisch in den Vordergrund. Das neunte Kapitel ist dementsprechend eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Frauenbewegung im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen Reform und Revolution. Die Entwicklung der Sozialen Arbeit zum Beruf hing maßgeblich mit der Durchsetzung einer Armenpolitik und der Implementierung der Sozialversicherungen als Mittel gegen revolutionäre Veränderungen zusammen.

Abschließend wird die Relevanz der Untersuchung für die Disziplin und Profession Sozialer Arbeit mittels einer Zusammenfassung und eines Vergleichs der drei Autorinnen unter besonderer Berücksichtigung der von ihnen in Vorschlag gebrachten konkreten Sozialen Praxen verdeutlicht. Braches-Chyrek arbeitet hier nochmals heraus, welchen Beitrag Addams, Richmond und Salomon für die Berufsentwicklung geleistet haben und macht dies unter anderem an den Ausbildungsprogrammen, Forschungsprojekten und Methodenentwicklungen fest.

Die Arbeit lässt eine systematische Auseinandersetzung mit dem professionellen und disziplinären Selbstverständnis der Sozialen Arbeit wie auch eine dahingehend differenzierte Begriffsklärung vermissen. Insgesamt weist der Text etliche orthographische Fehler auf und ist innerhalb der einzelnen Kapitel argumentativ nicht immer stringent aufgebaut. Beides erschwert die Lesbarkeit des Buches. Gemessen am eigenen, eingangs formulierten Anspruch wäre eine systematischere Auseinandersetzung mit der kontrovers geführten Debatte um die Professionalisierung wünschenswert gewesen.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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