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Titel
Aristoteles. Lehrer des Abendlandes


Autor(en)
Flashar, Hellmut
Erschienen
München 2013: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
416 S.
Preis
€ 26,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ronja Hildebrandt, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

Hellmut Flashars „Aristoteles. Lehrer des Abendlandes“ bietet eine Einführung in Leben und Werk eines der einflussreichsten Denker der Antike. Flashar, Gräzist und Herausgeber der deutschen Aristoteles-Gesamtausgabe, unternimmt hier den in den letzten Jahrzehnten kaum gewagten Versuch, alle Werke des Aristoteles und ihre Rezeption sowie Aristoteles’ Leben darzustellen. Schon im Vorwort erklärt Flashar, dass seine Einführung mehr philologischer Natur als philosophisch-problemorientiert sei. Dieser Charakter des Werkes zieht sich durch die gesamte Darstellung. Dabei geht es Flashar nicht um Fragen der Datierung und Chronologie des aristotelischen Denkens, wie sie noch Werner Jaeger in seiner einflussreichen Aristoteles-Monographie beschäftigten.1 Flashars Ziel ist es eher, dem Leser das Denken des Aristoteles in seiner Zeit und im Verhältnis zu uns verständlich zu machen.

Der erste Schritt in Hinblick auf dieses Vorhaben besteht in der Darstellung des Lebens des Philosophen und seiner Zeit. Beeindruckend ist, dass und wie Flashar in seinem ersten Kapitel aus den wenigen Quellen, die wir über Aristoteles’ Leben haben, eine mehr als 50 Seiten umfassende Biographie zusammenstellt. Die Aristoteles-Einführungen von Christopher Shields und Otfried Höffe begnügten sich im Vergleich dazu mit etwa sieben bzw. neun Seiten zur Person des Aristoteles.2 Dabei muss sich Flashar allerdings oft in den Bereich der Spekulation begeben, die sich aber immer im Rahmen des Wahrscheinlichen bewegen. Nicht alles trägt dabei zum Verständnis des aristotelischen Denkens bei, so beispielsweise der Hinweis auf eine Kuriosität wie die ‚Nachtuhr‘, mit der die Schüler in der platonischen Akademie geweckt wurden.

Auch Flashars Kapiteleinteilung und der Aufbau der Werkdarstellungen stehen offensichtlich im Dienste des philologischen Verständnisses des aristotelischen Werks. Flashar teilt nicht systematisch nach Themenaspekten ein und sucht sich passende Textstellen aus mehreren Schriften, sondern bespricht die Schriften des Aristoteles separat gemäß ihrer Zugehörigkeit zu wissenschaftliche Teilbereichen. Jede Werkdarstellung beginnt mit den ‚Grundlagen‘, wobei Flashar in der Regel auf die Theorien Aristoteles’ Vorgänger zu diesen Themenkomplexen – vor allem Platon – verweist. Darauf folgt eine Auswahl der wichtigsten Einzelaspekte der besprochenen Schrift; schließlich enden die Kapitel mit der Rezeptionsgeschichte und Würdigung der aristotelischen Leistung. Durch diesen Aufbau macht Flashar zu Recht deutlich, dass Aristoteles’ Denken Teil einer Forschungsdiskussion war, auf die sich Aristoteles bezieht und von der er sich meist kritisch absetzt.

Die Einführung in das Werk des Aristoteles beginnt Flashar mit den Schriften und Grundbegriffen der Ethik und Politik, dabei widmet er sich Themen wie Tugend, Gutes, Freiwilligkeit oder auch zoon politikon. Besonders erwähnenswert ist in seiner Behandlung der Ethik ein Unterkapitel zur ‚Freundschaft‘, die für Aristoteles eine ethische Dimension hat. Unklar bleibt hingegen, was Flashar genau meint, wenn er behauptet, Aristoteles’ Ethik sei „ohne Metaphysik“, so dass dem „normalen Bürger“ „einfach aufzufindende Tugenden“ an die Hand gegeben würden (S. 72). Hinsichtlich seiner Behandlung der Politik ist ein besonders ausgewogenes Kapitel zu dem sensiblen Thema der Sklaven in der aristotelischen Politik herauszuheben.

Im Kapitel zur aristotelischen Rhetorik stellt Flashar einerseits deren Praxisbezogenheit und andererseits deren Zusammenhang zur Ethik und Politik heraus. Rhetorik ist für Aristoteles kein neutrales Instrument, sondern Mittel zur Überzeugung vom ethisch Guten. In dieser Hinsicht schreibt Flashar ein pointiertes Resümee zur Rhetorik, in der die Besonderheit dieser Verbindung von Rhetorik und praktischer Philosophie herausgestellt und die Rezeptionsgeschichte dieser Idee zusammengefasst wird. Besonders gelungen ist auch das Kapitel zur Poetik. Flashar räumt hier ganz zu Recht mit Vorurteilen auf, beispielsweise mit der Behauptung, dass Aristoteles mittelmäßige Charaktere auf der Bühne habe sehen wollen oder dass er eine Abwertung der Geschichtsschreibung vorgenommen habe.

Erst in der Mitte seiner Einführung kommt Flashar auf die Schriften zur Logik und Argumentationslehre zurück, die dem ‚Organon‘ zugerechnet werden und die eigentlich am Anfang der Werkausgabe stehen. Hier führt Flashar kurz in die Kategorienlehre, Hermeneutik, Topik und die beiden Analytiken ein, bevor er im nächsten Kapitel zur ‚Ersten Philosophie‘, also zur ‚Metaphysik‘, übergeht. Gemessen an der Bedeutung und Länge der Schrift zur Metaphysik fasst sich Flashar hier sehr kurz; die Betrachtungen bleiben an der Oberfläche. Philologisch wie philosophisch sehr lehrreich ist aber sein Exkurs zum folgenreichen Unterschied zweier Handschriftenfamilien bezüglich der Kritik des Aristoteles an der Ideenlehre (S. 215).

Bei der Besprechung von Begriffen wie Raum, Zeit, Bewegung, erster Beweger (Gott), Wahrnehmung und Denken in der Physik und Psychologe wechseln sich präzise und wenig deutliche Erklärungen ab: Beispielsweise erläutert Flashar einerseits leicht verständlich, dass der ‚erste Beweger‘ kein ‚erster‘ im zeitlichen Sinne sein kann, weil der Kosmos für Aristoteles ewig ist. Andererseits erklärt er die wichtige Unterscheidung von Potentialität und Aktualität hinsichtlich psychischer Vermögen nur nebenbei. Interessant, insbesondere bei der Darstellung der Physik, ist, dass Flashar die aristotelischen Theorien mit Denkern wie Gadamer, Orwell und Carl Friedrich von Weizsäcker in Verbindung bringt.

Aufgrund von Flashars Konzept, alle Werke darzustellen, kommen auch die ansonsten wenig besprochenen Schriften des Aristoteles nicht zu kurz. Flashar widmet mehrere Kapitel der Kosmologie, Metereologie, Elementenlehre, Chemie und Biologe (oder vielmehr Zoologie). Die meisten der dort besprochenen Theorien sind vor allem wissenschaftshistorisch interessant. Themen sind beispielsweise die Entstehung des Hagels und des Regenbogens, das geozentrische und das heliozentrische Weltbild, die Körperteile der Tiere und deren Funktion. Dabei wird deutlich, dass unser traditionelles Bild des Aristoteles einen wichtigen Aspekt vernachlässigt: Aristoteles war mindestens so sehr Naturforscher wie Philosoph.

Schließlich fasst Flashar die Rezeptionsgeschichte der aristotelischen Werke und Ideen in einem abschließenden Kapitel prägnant zusammen, sodass Aristoteles in diesem Licht tatsächlich als der „Lehrer des Abendlandes“ erscheint. Dabei unterläuft Flashar allerdings ein für sein Gesamtprogramm unwichtiger Lapsus, insofern er die vielen Aristoteles-Kommentare des Thomas von Aquin als nicht vorhanden erklärt.3

Kritisch anzumerken ist, dass manche Passagen Flashars ‚philosophische Bauchschmerzen‘ wecken können. Einige Bemerkungen und Erklärungen Flashars laden so zu Missverständnissen ein: Gleich zu Beginn, in der Darstellung des Lebens des Philosophen, erklärt Flashar Aristoteles zum ‚schärfsten Kritiker Platons‘ – ein Ausdruck, den Flashar noch öfter wiederholen wird, ohne ihn genauer zu erläutern (S. 22). Diese Bemerkung ist einerseits richtig, insofern Aristoteles platonisches Gedankengut tatsächlich oft und mit deutlichen Worten kritisiert. Andererseits – und das scheint bei Flashar auch in späteren Kapiteln implizit durch – teilt Aristoteles mit Platon in einigen Fällen gemeinsame Grundannahmen. Das Verhältnis zwischen Aristoteles und seinem Lehrer Platon ist also viel komplexer, als Flashar es mit dem Ausdruck des ‚schärfsten Kritikers‘ vermuten lässt und wird bis heute kontrovers diskutiert.

Mag dieser Mangel an Differenzierung an dem eben besprochenem Beispiel vielleicht noch unwichtig erscheinen, wird er an anderen Stellen umso auffälliger. Denn insgesamt bespricht Flashar verhältnismäßig wenige exegetische oder philosophische Kontroversen. In seiner Darstellung der ‚Katharsis‘ in der Poetik erörtert Flashar vorbildlich verschiedene Interpretationen, zeigt zwei Hauptlinien auf und entscheidet sich mit der Nennung seines Hauptarguments für eine Interpretation. Dieses Kapitel ist somit eines der gelungensten in Flashars Aristoteles-Einführung. Diese Form erreicht Flashar aber bei kaum einem zweiten Thema, auch dort, wo es besonders wichtig gewesen wäre: In der Besprechung der Kapitel III 4 und 5 von De anima weist Flashar beispielsweise zwar darauf hin, dass es Kontroversen zu diesen Abschnitten gibt, nennt sie aber nicht. Daraufhin erklärt Flashar den ‚wirkenden‘ und den ‚rezeptiven Nous‘ (Flashars Übersetzung) als „Funktionen ein und desselben Nous“ (S. 307). Ob dies eine richtige Interpretation des Kapitels III 5 darstellt, ist aber mindestens seit den Aristoteles-Kommentatoren Alexander von Aphrodisias, Themistios und Iohannes Philoponos umstritten und Gegenstand einer lebhaften Kontroverse. An diesem Beispiel wird ein Problem deutlich, das sich durch Flashars gesamte Einführung zieht: Der Autor vertritt kontroverse Thesen, oft ohne diese als Gegenstand einer bis heute anhaltenden Diskussion kenntlich zu machen und angemessen für seine Position zu argumentieren. Gerade bei einer Einführung hätte man entweder mehr Zurückhaltung oder Hinweise auf die Problematik der Thesen erwartet.

Mithilfe seines großen philologischen Wissens gelingt es Flashar, Aristoteles als ein Genie seiner Zeit verstehbar zu machen. Flashars „Aristoteles. Lehre des Abendlandes“ stellt daher eine Einführung in Leben und Werk des antiken Philosophen, aber nicht so sehr eine Einführung in die philosophischen Argumente des Denkers dar. Wer letzteres in einer Einleitung zu Aristoteles zu finden hofft, muss eher zu dem erwähnten Überblick von Christopher Shields greifen. Wer jedoch hauptsächlich einen Eindruck von dem gedanklichen Reichtum des Aristoteles, seiner Originalität und Relevanz in klar verständlichen Worten sucht, ohne sich in philosophisch-exegetischen Detailfragen zu verlieren, findet diesen in Flashars durchweg angenehm zu lesender Darstellung.

Anmerkungen:
1 Werner Jaeger, Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, Berlin 1923.
2 Christopher Shields, Aristotle, London 2007; Otfried Höffe, Aristoteles, 3. Aufl., München 2006.
3 „Die völlige Aussöhnung und weitgehende Verschmelzung der aristotelischen Philosophie mit dem christlichen Denken ist die Leistung des Thomas von Aquin, der zwar keine Aristoteleskommentare geschrieben hat, aber in verschiedenen Schriften (De ente et essentia, Summa theologia, De veritate u.a.) ganz explizit auf dem Boden des Aristoteles steht“ (S. 361).

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