R. Hachtmann: Einführung Revolution 1848/49

Cover
Titel
Epochenschwelle zur Moderne. Einführung in die Revolution von 1848/49


Autor(en)
Hachtmann, Rüdiger
Reihe
Historische Einführungen 9
Erschienen
Tübingen 2002: edition diskord
Anzahl Seiten
255 S.
Preis
€ 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Birgit Ellen Bublies-Godau, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum

Als der berühmte französische Romancier Victor Marie Hugo auf einem der vier großen internationalen Friedenskongresse der Revolutionsära, dem Kongreß in Paris von Ende August 1849, den Traum vom Völkerfrühling von 1848/49 noch einmal eindringlich beschwor und seine Vision von den „Vereinigten Staaten von Europa“ verkündete, da knüpfte er an Zukunftsvorstellungen an, die er und etliche andere Zeitgenossen bereits im Vormärz für West- und Mitteleuropa entwickelt hatten. Für diese Vorstellungen hatten sie sich als prophetische Vordenker in den ‚tollen‘ Revolutionsjahren vehement eingesetzt und waren von deren Verwirklichung anfangs, angesichts der überall in Europa ähnlich verlaufenden revolutionären Prozesse, auch fest überzeugt gewesen. Ziel ihrer Bestrebungen war der Aufbau eines friedlichen, föderativen, „demokratisch und sozial konturierten Europas“ (S. 202) jenseits der Nationalstaaten und aller Nationalismen, das sich nach den Überlegungen von Hugos deutschem Schriftstellerkollegen und geistigem Mitstreiter Jakob Venedey auf ein engeres deutsch-französisches Bündnis und eine europäische „sainte-alliance des peuples“ stützen sollte. Schon zu Revolutionszeiten hatten die beiden europäisch denkenden Intellektuellen erkannt, daß, wie der Franzose 1876 erneut betonte, „Europa eine europäische Nationalität braucht, eine Regierung, eine große Institution des brüderlichen Ausgleichs“. Doch bekanntlich nahmen die 1848er Revolution und die Geschichte in Europa einen anderen Verlauf. Und so setzten sich Hugos und Venedeys „Europa-Inszenierungen“, aber auch die Einigungshoffnungen ihrer Nachfolger erst nach einigen Umwegen zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit dem Ende der systempolitischen Spaltung Europas und der konsequenten Erweiterung und Demokratisierung der Europäischen Union allmählich durch 1.

Daß dieses europapolitische Vermächtnis und diese demokratische Traditionslinie von 1848/49 heute dennoch wieder fest im historischen Gedächtnis von Deutschen und Europäern verankert ist, ist nicht zuletzt auch ein Verdienst der jüngeren Revolutionshistoriographie. Diese hat in den vergangenen Jahren immer stärker die von ihr lange Zeit vernachlässigte gesamteuropäische Dimension der Achtundvierzigerrevolution in das Zentrum ihrer Forschungen gerückt und trägt damit endlich dem Umstand Rechnung, „daß ’1848’ vor allem ein europäisches Ereignis gewesen ist“. Zwar zeigte die Revolution in jedem europäischen Land und oftmals sogar in jeder Provinz und Gemeinde ein anderes Gesicht. Nichtsdestoweniger besaß sie europaweit erstaunlich viele Berührungs- und Anknüpfungspunkte. Auch existierten zahlreiche innere Zusammenhänge und Verflechtungen zwischen den einzelnen nationalen, regionalen und lokalen Revolutionszentren, -räumen und –akteuren. So kann man durchaus von einem gemeinsamen Kern aller revolutionären Vorgänge in Europa sprechen, den die moderne Revolutionsforschung mittlerweile in seinem ganzen Umfang und seinen verschiedensten Facetten aufzudecken sucht. Ohne eine eingehendere Untersuchung dieser „europäische(n) Dimension der Revolution in ihrer ganzen Komplexität“ ließen sich, so die gegenwärtige Forschungsmeinung 2, die revolutionären Ereignisse auf nationaler und einzelstaatlicher Ebene gar nicht mehr richtig verstehen, zumal, wie der Historiker Rüdiger Hachtmann in seinem neuesten Werk zur Revolutionsgeschichte ausführt, gerade diese Dimension „ein dauerhafter Bestandteil unserer Erinnerungskultur bleiben“ wird (S. 18-19 u. 202).

An genau diesem Punkt setzt dann auch die hier zu besprechende, übersichtliche wissenschaftliche „Einführung in die Revolution von 1848/49“ des Berliner Revolutionsexperten an. Der Band, der in der epochenübergreifenden Buchreihe „Historische Einführungen“ des Tübinger Verlages edition diskord im letzten Jahr neu erschienen ist, steht wie eine Reihe weiterer Überblicksdarstellungen, Forschungsberichte oder jüngst publizierter Einführungen 3 noch unter dem Eindruck der Ende der 1990er Jahre von der breiten Öffentlichkeit wie von der offiziellen Politik und Wissenschaft intensiv erinnerten 150. Wiederkehr der 1848er Revolution. Gestützt auf den neuesten Forschungs- und Kenntnisstand bietet er auf gedrängtem Raum einen betont sachlichen, problemorientierten Einblick in die Geschichte der Revolution, indem er die Grundlinien der vielschichtigen Entwicklungen der Jahre 1847 bis 1849 nachzeichnet, die wichtigsten Revolutionsbühnen und Akteursgruppen vorstellt und darüber hinaus versucht, die aktuellen Trends und Tendenzen, Zugänge und Interpretationen der von den damaligen Jubiläumsfeierlichkeiten wie von der anhaltenden Publikationsflut in hohem Maße profitierenden Revolutionsforschung aufzuzeigen.

Wie bereits angedeutet, kommt in der Darstellung die Problematisierung der europäischen Dimension von 1848/49 und die Skizzierung der entsprechenden revolutionären Konstellationen als Folie für den Verlauf der Revolution ‚vor Ort‘ nicht zu kurz; jedoch liegt der Schwerpunkt des vorliegenden Rundblicks in allen neun Kapiteln des Buches auf der Schilderung und historischen Einordnung des Revolutionsgeschehens im Deutschen Bund. Und so wird auch bei der Darlegung der Ursachen und Auslöser der Revolution im ersten Kapitel vorrangig die sich im Vormärz zuspitzende Situation in den deutschen Bundesstaaten behandelt, ehe der Blick auf die explosive Lage in den europäischen Nachbarstaaten fällt. Gründe für den Ausbruch der Revolution sieht der Autor dabei unter anderem im unterschiedlichen Grad der Urbanisierung, im Aufkommen neuer Verkehrs- und Kommunikationsmittel und in den schweren sozial-ökonomischen Krisen der späten 1840er Jahre wie der Agrarkrise von 1846/47 und dem ersten frühindustriellen Konjunktureinbruch. Ferner werden die gesamtgesellschaftlichen Problemlagen der Vormärzepoche angeführt, etwa die in Mitteleuropa seit den 1840ern auftretenden intrakonfessionellen Konflikte und die konservative Erstarrung der etablierten Kirchen oder die seit den 1830ern festzustellende Verkrustung und „Vereisung der politischen Systeme“ in der Hohenzollern- und Habsburgermonarchie (S. 36). Schließlich wird noch auf den Aufbruch der bürgerlichen Gesellschaft, das wachsende zivilgesellschaftliche Engagement und die Entfaltung der bürgerlichen Öffentlichkeit, Publizistik und des reichen Assoziationswesens aufmerksam gemacht.

Seinem Anspruch, die zentralen Entwicklungen von 1848/49 kurz und bündig im gesamteuropäischen Kontext zu präsentieren, kommt Hachtmann vor allem im zweiten Kapitel des Buches nach. Darin vollzieht er Auftakt, Verlauf und Ende der Revolution in Europa chronologisch Schritt für Schritt nach und stellt deren wichtigsten Stationen, Kennzeichen, Höhe- und Wendepunkte heraus: zum Beispiel die „hauptstädtisch-revolutionäre Kettenreaktion“ im Frühjahr 1848, gemeint ist der innere Zusammenhang zwischen den nacheinander, zum Teil fast zeitgleich ausbrechenden Januar-, Februar- und Märzrevolutionen in Paris, Wien, Budapest, Venedig, Mailand und Berlin. Auch die für den schleichenden Niedergang der Revolution und letztlichen „Triumph der Partei der Ordnung“ entscheidende Rolle der europäischen Hauptstädte, wie sie sich im Juni 1848 in der Unterdrückung der Pariser Junirevolution und in der Niederwerfung des Berliner Zeughaussturms und des tschechischen Aufstandes in Prag manifestierte, wird an dieser Stelle erörtert (S. 45-46 u. 56). Inhaltlich behandelt Hachtmann hierbei eine Zeitspanne, die mit dem Schweizer Sonderbundskrieg vom November 1847 und der Pariser Februarrevolution von Anfang 1848 beginnt und mit den pfälzisch-badischen Aufständen, der Niederschlagung der Revolution in Ungarn und dem Fall der führenden Republiken in Italien zwischen März und August 1849 endet.

Direkt im Anschluß an diesen prägnanten ereignisgeschichtlichen Überblick über die europäische Revolution von 1848/49 beschäftigt sich der Berliner Historiker im dritten umfangreichsten Kapitel des Buches ausführlich mit den sozialen Gruppen der Vordenker, Protagonisten und Schrittmacher der Revolution, die im Zeitraum von 1846/47 bis 1849/50 für einen umfassenden Wandel und nachhaltige Veränderungen in der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Europas eintraten. Dazu werden deren verschiedenen Aktionsformen und Handlungsfelder, Organisationen und Programme, Status und Selbstverständnis bis in alle Feinheiten hinein genau ausgeleuchtet und überdies die Bühnen und Schauplätze benannt, auf denen die Revolution in ihrer ganzen Spannbreite stattgefunden hat. Gleichzeitig widmet sich Hachtmann in diesem Abschnitt auch den politischen Gegnern und Widersachern der Revolutionsfreunde und den an den Ereignissen der Revolutionsära nicht sonderlich interessierten oder ihnen nur passiv gegenüberstehenden Gesellschaftsschichten. So erläutert er den Verlauf der Barrikaden- und Straßenkämpfe und die heute eher befremdlich anmutenden Formen der Unterschichtenproteste ebenso wie die Bedeutung der 1848 zunächst gut besuchten Volksversammlungen, die zum „Kern einer revolutionstypischen ‚Versammlungsdemokratie‘“ wurden (S. 73). Er geht auf die wichtige Funktion der Revolution „als Geburtshelfer des modernen Parlamentarismus“ und der modernen Parteien im Deutschen Bund ein (S. 76 u. 89). In diesem Zusammenhang stellt er die neu zusammengesetzten Stadtverordnetenversammlungen, Länderparlamente und die in der Frankfurter Paulskirche tagende deutsche Nationalversammlung, daneben das Wahlsystem, die provisorische Reichszentralgewalt und das parlamentarische Ausschußwesen sowie die Vereine, überregionalen Kongresse und Zusammenschlüsse der Demokraten, Liberalen und Konservativen eingehend vor. Am Ende des Kapitels wendet sich Hachtmann dann noch einigen von zeitgenössischen Beobachtern wie späteren Historikern vielfach ignorierten Revolutionsbühnen und –akteursgruppen zu: darunter den bis in die Gegenwart hinein häufig falsch bewerteten umwälzenden Agrarbewegungen, die in Europa die Destabilisierung der alten Regime beschleunigt hatten, außerdem dem von der früheren Geschichtsschreibung unterschätzten Adel als revolutionärem Akteur und „‘Trittbrettfahrer‘ in die Moderne“ und zu guter Letzt den in der Literatur kaum beachteten „Zonen der politischen Stille“ (S. 110, 118 u. 123).

Selbst aktuelle Trends der internationalen Revolutionsforschung aus den letzten zehn Jahren bleiben in dieser sachkundigen Einführung nicht unberücksichtigt. In den Kapiteln 4 bis 7 setzt sich Hachtmann exemplarisch mit Forschungsschwerpunkten auseinander, die in der historischen Wissenschaftslandschaft gerade im Umfeld des Revolutionsjubiläums en vogue waren und es heute immer noch sind: Dazu gehören neu erschlossene Themenfelder wie die unter sicherheits- und militärhistorischen Fragestellungen unlängst problematisierten Bürgerwehren, einzelstaatlichen Armeen und das Polizeiwesen, die bislang vorwiegend in ideen- und politikgeschichtlichen Studien erkundeten widersprüchlichen Vorstellungen von Nation und diversen Strömungen des Nationalismus oder die aus sozial- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive bereits betrachtete gesellschaftliche Stellung von Frauen bzw. von nationalen und religiösen Minderheiten.

Eingerahmt werden diese Hauptteile der Revolutionseinführung auf der einen Seite von Bemerkungen, die einen konzisen Überblick über den Stand der neueren Revolutionsforschung geben, direkt in den Problemkomplex der ‚bürgerlichen Revolution‘ einführen und daran anschließend einen Eindruck von der vielstimmigen Diskussion um die Epochenübergänge in der Revolutionszeit vermitteln. Werden dabei Revolutionen im allgemeinen als „Epochenschwellen“ bezeichnet, so wird das Jahr 1848 im besonderen als „Epochenschwelle zur Moderne, nämlich (als) Übergang von der frühen zur entfalteten Bürger- oder Zivilgesellschaft“ verstanden (S. 16). Sogar auf eine Vorstellung der verschiedenen Quellengattungen wird in der Einleitung nicht verzichtet. Im Gegenteil, dem interessierten Forscher werden in einem gesonderten Abschnitt ausreichend Informationen zur Quellenlage geboten und die für die 1848er Ära charakteristischen Materialien – Zeitungen, Zeitschriften, Polizeiberichte, Petitionen, Parlamentsprotokolle, Nachlässe und Memoiren – jeweils an einem konkreten Beispiel erläutert. Auf der anderen Seite runden Hachtmanns Ausführungen in den letzten beiden Kapiteln das in der Darstellung ausgebreitete Panorama der 1848er Revolution in Deutschland und Europa ab. In ihnen geht er, ohne etwas zu beschönigen oder euphemistisch zu umschreiben, auf das deutliche Scheitern der Revolution, die dafür entscheidenden Gründe und die extrem weitreichenden Folgen dieses Scheiterns ein. Daß der gewerbliche Mittelstand, Teile des Wirtschaftsbürgertums und der Adel zu den gesellschaftlichen Gewinnern und Profiteuren, dagegen die demokratischen Intellektuellen, die frühe Arbeiterbewegung, die städtischen Unterschichten und kleinen Bauern zu den Verlierern von 1848/49 zu zählen sind, erfährt der Leser in diesen Schlußbetrachtungen genauso wie er über die Reaktionen der von staatlicher Verfolgung besonders Betroffenen unterrichtet wird. Für sie gab es oft nur den Ausweg, nach Übersee auszuwandern oder ins Exil ins europäische Ausland zu gehen. Welche repressiven Maßnahmen in der Reaktionsära die wieder fest im Sattel sitzenden konservativ-autoritären Regierungen anwandten, um selbst den letzten Rest an politischer Opposition auszuschalten, wie die „langen Schatten des Scheiterns der Revolution“ (S. 188) in Deutschland nachwirkten, welche Rolle die schon während der Revolution entstehenden Mythen bei der Deutung der Ereignisse von 1848/49 spielten, und unter welchen Vorzeichen die von der Politik und Historiographie forcierte Traditionsbildung zur Achtundvierzigerrevolution in Deutschland stand – alle diese Fragen versucht Hachtmann, am Ende der Darstellung zu klären und auf diese Weise seinem Bild der Revolution den letzten Schliff zu geben.

Der ungemein instruktive und informative Einführungsband von Hachtmann bietet jedem in der Wissenschaft Tätigen - Lehrenden, Forschenden wie Studierenden gleichermaßen - einen ausgezeichneten Einstieg in die Geschichte der Revolution von 1848/49: sei es, um einen ersten Zugang zum Thema zu finden, sei es, um sich einen komprimierten und trotzdem fachlich kompetenten Überblick über die revolutionären Ereignisse und Abläufe, Akteure und Bühnen zu verschaffen, oder sei es auch nur, um sich als interessierter Historiker auf den gegenwärtigen Stand der Revolutionsforschung bringen zu lassen und viele weiterführende Literaturhinweise zu erhalten. Denn Hachtmann gelingt es in der Tat, mit einer umfangreichen Auswahlbibliographie - auf 32 Seiten präsentiert er über 630 Titel aus der deutschsprachigen Forschungslandschaft -, dem steten Bezug zur aktuellen Forschungslage und der gut lesbaren Darstellung des Revolutionsgeschehens in Deutschland und Europa, eine Monographie vorzulegen, die nahtlos an ältere renommierte Überblicksdarstellungen zu dieser Epoche anknüpfen kann und sicherlich schon bald zu den Standardwerken der Revolutionsliteratur zählen wird.

Um so ärgerlicher sind, angesichts dieses positiven Gesamteindrucks, vereinzelte Druckfehler und kleinere sachliche Irrtümer, auf die hier wenigstens kurz hingewiesen werden soll: etwa die durchgehend falsche Schreibweise des Nachnamens eines Herausgebers des für das 1848er-Studium unentbehrlichen „Biographischen Handbuchs“ der Abgeordneten in der Paulskirche (S. 23 u. 250) oder die zu undifferenzierte historische Verortung der Bünde der Geächteten, der Gerechten und der Kommunisten, die organisatorisch zwar aufeinander aufbauten, sich weltanschaulich jedoch stark voneinander unterschieden. Dabei ist der radikaldemokratische Bund der Geächteten gerade nicht derjenige, der, wie vom Autor behauptet, „von der DDR-Historiographie in allen Verästelungen“ untersucht und „aus politischen Gründen in seiner Bedeutung“ überbewertet wurde (S. 39-40). Im Gegenteil, 1993 wurde in einer zentralen Abhandlung festgestellt, daß eine „geschlossene, ausführliche Darstellung der Geschichte des Bundes der Geächteten (...) bisher (fehlt)“, und dieses Desiderat besteht, trotz einer kürzlich erschienenen größeren Studie, noch immer 4.

Richtig bedauerlich findet es aber die Rezensentin, daß in Hachtmanns wichtiger Einführung weder separate kurzbiographische Erläuterungen zu herausragenden Persönlichkeiten der Revolutionszeit zu finden sind, noch die individuellen Lebensgeschichten namentlich bekannter und unbekannterer Revolutionsteilnehmer in einem Kapitel des Buches erzählt werden, oder zumindest Teile derselben in die Darstellung des Revolutionsgeschehens einfließen. Dies ist um so überraschender, als andere Revolutionseinführungen der jüngeren Zeit durchaus biographische Abschnitte zu Revolutionsbefürwortern und –gegnern enthalten 5; Hachtmann in der Forschungsübersicht seines Werkes die in den letzten Jahren stetig wachsende Bedeutung von Biographien für die historische Vormärz- und Revolutionsforschung freimütig anerkennt (S. 10); sowie „die neuerliche Rückkehr der Biographie (...) im Kontext aktueller historiografischer Strömungen auf den größten Konsens innerhalb der scientific community“ trifft. Gerade in den vergangenen zwei Jahrzehnten hat nämlich die theoretisch-methodologische Entwicklung der Biographie enorme Fortschritte gemacht, und so sehen Vertreter der historischen Biographik deren Aufgabe heute darin, „die Interaktion zwischen der Gemeinschaft und dem Individuum“ herauszustreichen, also „den Einfluss der Gesellschaft auf den Einzelnen“ und „seine Handlungsspielräume gegenüber seiner Umgebung“ herauszuarbeiten.

Selbst wenn der Verzicht auf kurzbiographische Erläuterungen oder längere lebensgeschichtliche Textpassagen der Konzeption der Einführungsreihe geschuldet sein sollte, so hätte der anspruchsvolle Revolutionsüberblick des Berliner Sozialhistorikers durch die Schilderung einiger ausgewählter Lebensläufe von ‚entschiedenen‘ Revolutionären wie Revolutionären wider Willen, etwa von Franziska Mathilde Anneke, Ludwig Bamberger, Friedrich Christoph Dahlmann, Heinrich von Gagern, Georg Gottfried Gervinus, Friedrich Hecker, Johann Jacoby oder Jodocus D.H. Temme insgesamt noch an Anschaulichkeit, Deutlichkeit und Lebendigkeit gewinnen können. Ähnliches gilt für das vom Autor entworfene Bild von 1848/49: Durch die Beschäftigung mit einzelnen Persönlichkeiten, ihren Erlebnissen und eventuellen ‚Schicksalen‘ in der Revolution wäre dieses perspektivisch ergänzt und erweitert worden und hätte dann nicht nur den Blick auf die allgemeinen historischen Dimensionen und Aspekte der Revolution freigegeben, sondern zusätzlich auch wichtige Einsichten in die konkreten Lebenswelten und Erfahrungsräume der Menschen jener Zeit gewährt. Und so möchte man abschließend, ohne die Leistungen dieses Werkes von Rüdiger Hachtmann zur Revolution von 1848/49 in irgendeiner Weise schmälern zu wollen, fragen: Gehört zu einer modernen politik-, sozial- und kulturhistorischen Revolutionseinführung eine eigenständige personengeschichtliche Komponente mittlerweile nicht einfach dazu, um, im übertragenen Sinne mit dem Historiker Martin Greschat zu sprechen, den Revolutionär als „Vertreter seiner Epoche darzustellen“ und sich mittels seines Lebensweges „die Fragestellungen und Entscheidungsprozesse bewusst“ zu machen, die die Ära der Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts bestimmten 6?

Anmerkungen:
1 Zu den historischen Einigungsvisionen: Langewiesche, Dieter: Historische Wege nach Europa, in: Ders.: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S. 217-230, hier S. 228; Höhn, Gerhard: „Wahlverwandtschaften“. Programme einer deutsch-französischen Allianz von Heine bis Ruge und Marx, Forum Vormärz Forschung 8 (2002), S. 251-286; Venedey, Jakob: La France, L`Allemagne et la Sainte Alliance des peuples, Paris 1841, hier S. 57; vgl. auch die Dissertation von: Conter, Claude D.: Europa-Inszenierungen im 19. Jahrhundert. Europabilder und –vorstellungen zwischen Wiener Kongreß und Reichsgründung; sowie demn.: Bublies-Godau, Birgit: „Son coeur était profondément allemand, mais sa science était européenne et sa philosophie vraiment cosmopolite...“ – Die Biographie Jakob Venedeys (1805-1871) als Beitrag zur deutschen Demokratie- und Liberalismusforschung, Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 15 (2003).
2 Dazu u.a.: Hardtwig, Wolfgang (Hrsg.): Revolution in Deutschland und Europa 1848/49, Göttingen 1998, bes. S. 7-10, hier S. 9; Reinalter, Helmut: Die Europäische Revolution von 1848/49 in der neueren Forschung, in: 1848 - Revolution in Europa hrsg. von Heiner Timmermann, Berlin 1999, S. 25-37; Langewiesche, Dieter (Hrsg.): Demokratiebewegung und Revolution 1847 bis 1849. Internationale Aspekte und europäische Verbindungen, Karlsruhe 1998, bes. S. 7-10.
3 Vgl. die im Jahr 2002 ebenfalls erschienene Einführung von: Müller, Frank Lorenz: Die Revolution von 1848/49 (Geschichte kompakt, Neuzeit), Darmstadt 2002; dazu die Rezension bei H-Soz-u-Kult, 09.12.2002, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=1971.
4 Gemeint ist hier: Best, Heinrich/ Weege, Wilhelm (Hg.): Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, Düsseldorf 1996; angesprochen sind das Werk von: Hundt, Martin: Geschichte des Bundes der Kommunisten 1836-1852, Frankfurt/ M. u.a. 1993, S. 34-45, hier S. 34, Anm. 24 sowie die Studie von: Höppner, Joachim/ Seidel-Höppner, Waltraud: Der Bund der Geächteten und der Bund der Gerechtigkeit, JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 2002/ III, S. 60-92; Teil 2, 2003/ II, S. 61-83.
5 Vgl. erneut Müller, Die Revolution von 1848/49 (wie Anm. 3), der Erläuterungen zu Regenten, Staatsdienern, Oppositionspolitikern, einer Mätresse und Frauenrechtlerin dieser Epoche bringt.
6 Zur modernen wissenschaftlichen Biographik vgl. u.a.: Defrance, Corine: Le renouveau de la biographie dans les historiographies française et allemande contemporaines, Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 33 (2001), Nr. 4, S. 373-384, hier S. 384; der Kirchenhistoriker Greschat bezieht seine Aussagen auf das Zeitalter der Reformation, dazu: Greschat, Martin: Die Biographie in der Kirchengeschichte, Revue d’Allemagne 33 (2001), Nr. 4, S. 385-394, hier S. 394.

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