Cover
Titel
Kulturanalyse.


Autor(en)
Bal, Mieke
Erschienen
Frankfurt am Main 2002: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
371 S.
Preis
€ 35,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Silke Horstkotte, Amsterdam School for Cultural Analysis (ASCA)

Der Band „Kulturanalyse“ stellt die erste deutschsprachige Aufsatzsammlung der niederländischen Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Mieke Bal dar, die im deutschen Raum bisher noch wenig bekannt ist. Keins ihrer englischsprachigen Bücher – nennenswert sind insbesondere die erzähltheoretische Einführung ‚Narratology. Introduction to the Theory of Narrative’ (1985), ‚Reading „Rembrandt“’ (1991), ‚Double Exposures’ (1996) sowie ihr neustes Buch, ‚Quoting Caravaggio’ – ist bisher ins Deutsche übersetzt worden. 1 Der vorliegende Band bietet vor diesem Hintergrund einerseits eine Einführung in Mieke Bals Arbeiten, die allesamt von der Kombinatorik theoretischer Reflexion mit subtilen kulturwissenschaftlichen Analysen leben; andererseits werden die hier versammelten Aufsätze, die teilweise in anderer Form bereits auf Englisch vorliegen, unter dem Banner einer neu zu schaffenden und zu institutionalisierenden ‚Kulturanalyse’ (‚cultural analysis’) versammelt. 2 Dabei geht es Bal sowohl um die Definition des Forschungsgebietes ‚Kulturanalyse’ und um dessen Methoden, als auch um die institutionelle Verankerung ihres interdisziplinären Gegenstandes an der Universität. Das Hauptgewicht der Argumentation liegt also nicht auf Definitionsfragen des im Entstehen begriffenen Gebietes Kulturwissenschaft, sondern auf der Praxis der Kulturanalyse. Für diese praktische Tätigkeit entwickelt Bal ihre neue Methodik und hebt sich eben dadurch von der an deutschen Universitäten vertretenen historischen Kulturwissenschaft ab, die in den letzten Jahren zwar wichtige Überblicksdarstellungen über die Gegenstände des Fachs vorgelegt hat – etwa die Einführungsbände von Böhme (u.a.), Kittler oder Hansen –, aber bisher kaum methodische Ansätze entwickelt hat, die sie von den etablierten Fächern Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Ethnologie differenzieren würden. 3

Die programmatische Einleitung „Wandernde Begriffe, sich kreuzende Theorien: Von den ‚cultural studies’ zur Kulturanalyse“ (S. 7-27) geht explizit auf die Frage der institutionellen Einbindung der ‚Kulturanalyse’ an Universitäten ein. Dabei grenzt Bal die eigene Arbeit vom Ansatz der ‚cultural studies’ ab, die sie für drei Probleme der gegenwärtigen Kulturwissenschaft verantwortlich macht: erstens sei es den ‚cultural studies’ „nicht (ausreichend) gelungen, eine eigene Methodologie zu entwickeln“; zweitens hätten sie „die Kluft zwischen ‚les anciens’ und ‚les modernes’ nicht überwunden, sondern vertieft“; und drittens habe die methodologische ungenügend ausgearbeitete Interdisziplinarität der ‚cultural studies’ „den Verwaltern der Universität ein Mittel zur Zusammenlegung und Abschaffung von Fachbereichen an die Hand gegeben, das sich verheerend auswirken könnte auf die breite Fundierung, ohne die auch die ‚cultural studies’ nicht auskommen können“ (S. 8). Diese miteinander verwandten Probleme, so der entscheidende Neuansatz Mieke Bals, lassen sich nur durch einen „programmatischen Wandel der methodologischen Orientierung“ lösen, für den sie den Begriff der Kulturanalyse einsetzt (ebd.). In der Tat gelingt es Bal, eine überzeugende Methodik zu entwickeln, die sowohl für historische wie für gegenwärtige Kulturphänomene überraschende Ergebnisse bringt und die gerade von der Spannung zwischen ‚les anciens’ und ‚les modernes’ lebt. Andererseits bleibt angesichts der herrschenden Misere an deutschen und offenbar auch niederländischen Universitäten fraglich, inwiefern eine neue Methodik in der Lage sein wird, plausible Argumente gegen die Abschaffung und Zusammenlegung von geisteswissenschaftlichen Fachbereichen zu liefern.

Als Gegenstand der Kulturanalyse bestimmt Bal drei Gebiete: Begriffe, Intersubjektivität und kulturelle Prozesse (S. 9ff.). Folglich beschränkt sich die Praxis der Kulturanalyse nicht auf das Katalogisieren kultureller Phänomene, sondern beinhaltet ebenso die begriffliche und philosophische Reflexion (S. 13), weil nämlich Begriffe zwischen historischen Epochen und unterschiedlichen Forschungsgebieten „wandern“ und die Analytikerin dieser Bewegung gerecht zu werden hat (S. 11f.). Die wiederholt geäußerte Überzeugung Bals, daß Interdisziplinarität nur funktionieren kann, wenn Begriffe präzise gehandhabt werden, stellt eine der großen Stärken ihrer Kulturanalysen dar. Die Unschärfe, die durch das Nomadisieren analytischer Begriffe zwischen verschiedenen Kontexten und Wissenschaftstraditionen entsteht, war bereits Gegenstand einer Reihe von Konferenzen, die unter dem Titel „Travelling Concepts“ von 1999-2001 an der von Mieke Bal mitbegründeten Amsterdam School for Cultural Analysis (nach deutschen Maßstäben einer Art interdisziplinärem Graduiertenkolleg) stattfanden. Die begriffliche Reflexion, so führt Bal nun in ‚Kulturanalyse’ aus, bildet geradezu das Fundament der eigenen analytischen Tätigkeit: „In sachnaher, detaillierter Analyse erprobte Begriffe können eine Art von Intersubjektivität herstellen, die nicht nur zwischen dem Analytiker und seinem Publikum besteht, sondern auch zwischen dem Analytiker und seinem ‚Objekt’.“ (S. 18)

Diese für Bals Arbeiten typische Aufwertung der Objektebene zeigt sich insbesondere in ihrem ‚close reading’ des American Museum of Natural History (S. 73-116). Die Begrifflichkeit der Analyse mit den Zentralbegriffen der „Exposition“ (S. 31) und der „Performanz“ (32f.) resultiert aus der „Verknüpfung der auf- oder ausführenden Kunst mit der analytischen Philosophie oder Sprechakttheorie“ (S. 33). Bal versteht und analysiert Gesten des Zeigens und des Ausstellens als diskursive (Sprech-)Akte. Diese Kombinatorik ist paradigmatisch für ihre eklektischen, teilweise genialen Verknüpfungen unterschiedlicher Arbeitsgebiete und Denktraditionen. Dazu zählt auch Bals Bestimmung des Verhältnisses von Narrativität und Visualität mit Mitteln der rhetorischen Analyse (S. 38). Das AMNH wird als Text gelesen, der visuelle und verbale Aspekte in einem „Mixed-Media-Verfahren“ (S. 101) vereint und an dem auch die Betrachterin mitwirkt. Bals Analyse betrifft folglich „die Ausstellung als in dem Bereich zwischen Visuellem und Verbalem sowie zwischen Information und Überredung fungierendes Zeichensystem, das dabei den lernenden Spaziergänger erzeugt.“ (S. 79)

Aus der expliziten Verknüpfung visueller und verbaler Aspekte ergibt sich die räumliche und zeitliche Situiertheit der Analysen. Deutlich wird dies in Bals Theorie des Raums (S. 40ff.) und in dem ideologiekritischen Impetus der Museums-Lektüre. Bal beschränkt sich nicht auf eine Analyse der durch den Imperialismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts geprägten Museumsrhetorik, sondern formuliert eine postkoloniale Kritik an der Zusammenstellung von Tieren und fremden Völkern als ‚Anderes’ der hegemonialen westlichen Kultur. Die Stärke der Argumentation liegt dabei darin, daß die Kritik nicht einfach pauschalisiert, sondern mit Detailanalysen der Präsentationsweise einzelner Exponate sowie von deren Verknüpfung in einer musealen „Syntax“ belegt wird (S. 81-112). Die Analyse mündet in die politische Forderung nach einem neuen, postkolonialen Museum, das mit expliziter Selbstreflexion und dem Einsatz ironischer Mittel arbeitet (S. 115). Stets basiert Bals Zugang zur Kultur auf der Frage, was diese tut und leistet (oder leisten könnte) und ist daher eng mit ethischen Forderungen verbunden (S. 188). Zur Aufwertung der Objektebene tritt die zentrale Forderung nach einer expliziten Mitreflexion der Sprecherposition und nach der präzisen Situierung des Sprechersubjekts. Die Person der Wissenschaftlerin wird damit zu einem integralen Teil des Analyseprozesses. Deutlich zeigt sich diese zutiefst persönlich geprägte Verbindung von Wissenschaft und Leben in dem Kapitel über Familiariät in Prousts ‚Recherche’ (S. 146-183), das auch Reflexionen über Bals eigene Familie und deren Präsentation in Fotografien einschließt, analog zur Rolle des Familienfotos bei Proust (S. 153ff.).

Angesichts der Fülle der Anwendungsgebiete der ‚Kulturanalyse’ ist die Konstanz des methodischen Zugriffs hervorzuheben, der letztlich auf der von Bal entwickelten Narratologie basiert. Daraus resultiert jedoch keine Privilegierung der Textmedien, denn Bals Analysen folgen zugleich der Grundüberzeugung, daß Kunstwerke (auch visuelle) „denken“, d.h. ebenso auf begrifflicher Ebene operieren wie Texte (S. 189). Theoretische und methodologische Überlegungen sind deshalb immer in konkrete Analysen eingebettet, die ihre Stärke aus der inspirierten Gegenüberstellung mehrerer Kunstwerke – Berninis Hl. Theresa in der Kirche Sta. Maria della Vittoria in Rom und Louise Bourgeois’ „Femme Maison“ (S. 224-262) – oder von Kunstwerken und Theorie beziehen – eine Videoinstallation von Bill Viola, die Theorie der Psychoanalyse, und das Bild „The Musicians, restored“ von Kathleen Gilje (S. 184-224). Dabei erhellen die Gegenstände sich gegenseitig, werden also in eine performative Beziehung gebracht (S. 263-294). Da auch Kunstwerke „denken“, sind sie der philosophischen und theoretischen Vorgehensweise nicht nachgeordnet; im Gegenteil, die Beziehung von Philosophie und Kunst ist Bal zufolge „sowohl in zeitlicher als auch in funktionaler Hinsicht umkehrbar“ (S. 229). Der Begriff der „widersinnigen Geschichte“ oder „pre-posterous history“, den Bal bereits in „Quoting Caravaggio“ exponiert hat, birgt allerdings die Gefahr, daß die Analysen ahistorisch werden. Neuere Werke werden als Intervention in von älteren Kunstwerken eröffnete Debatten begriffen (vgl. S. 251), wobei die Werke aus ihren historischen Kontexten gelöst werden. Vielleicht liegt insbesondere hier der Unterschied zwischen einer Kulturwissenschaft, die sich als historische Anthropologie begreift, und Bals Begriff der Kulturanalyse: Im Gegensatz zur Kunstgeschichte und zur historischen Kulturwissenschaft betreibt Bal bewußt „anachronistische“ Kulturanalysen (S. 307). Indem sie die Geschichte ‚gegen den Strich bürstet’ und ihre Analysen explizit in der Gegenwart situiert, gelangt Bal jedoch zu überraschenden, originellen und überaus plausiblen neuen Interpretationen.

Anmerkungen:
1 Mieke Bal: Narratology: Introduction to the Theory of Narrative [1985]. Toronto: Toronto University Press, vollst. überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, 1997; Reading “Rembrandt”: Beyond the Word-Image Opposition. Cambridge: Cambridge University Press, 1991; Double Exposures: The Subject of Cultural Analysis. New York: Routledge, 1996; Quoting Caravaggio: Contemporary Art, Preposterous History. Chicago: The University of Chicago Press, 1999.
2 Vgl. den Untertitel ihres Buches ‚Double Exposures’: „The Subject of Cultural Analysis”.
3 Vgl. Harmut Böhme/Peter Matussek/Lothar Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek: Rowohlt, 2000; Friedrich Kittler: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. München: Fink, 2. Aufl. 2001; Klaus P. Hansen: Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Einführung. Tübingen: Francke, 2. Aufl. 2000; Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt: Suhrkamp, 2001; sowie die Rezension zu den genannten Bänden: Jutta Heinz: Von Generalisten, Kanonkundigen und Universaldilettanten. Kulturwissenschaftliche Einführungen im Vergleich. KulturPoetik 2 (2002) H.1, S. 114-120.

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