H. Afflerbach: Die Kunst der Niederlage

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Titel
Die Kunst der Niederlage. Eine Geschichte der Kapitulation


Autor(en)
Afflerbach, Holger
Reihe
Beck'sche Reihe 6074
Erschienen
München 2013: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 14,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Kruse, Historisches Institut, FernUniversität Hagen

Wie können Kriege beendet werden, nachdem die Entscheidung über Sieg und Niederlage bereits gefallen ist und die fortgesetzte Ausübung kriegerischer Gewalt keinem militärischen Zweck mehr dient? So lautet die zentrale Frage, unter der der im englischen Leeds lehrende deutsche Kriegs- und Militärhistoriker Holger Afflerbach die „Kunst der Niederlage“ in globalhistorischer Perspektive untersucht. Wenn „der Verlierer aufgibt und am Leben gelassen wird – ein Akt der Mäßigung“ (S. 263), heißt die ebenso einleuchtende wie schwer zu realisierende Antwort. Für die betroffenen Menschen, Soldaten wie Zivilisten, handelt es sich dabei in der Tat um eine fundamentale Problematik, wie bereits ein schneller Blick auf die Endphase des Zweiten Weltkriegs verdeutlicht: Etwa die Hälfte der im ganzen Krieg umgekommenen deutschen Soldaten, das heißt etwa 2,5 Millionen Menschen, verlor ihr Leben im letzten Kriegsjahr (S. 236), also zu einer Zeit, als über Sieg und Niederlage, über Sieger und Verlierer kein vernünftiger Mensch mehr Zweifel haben konnte, aber die nationalsozialistische Führung dies nicht eingestehen konnte und nicht aufgab. Für deutsche Zivilisten sah die Bilanz des Kriegsendes noch weit düsterer aus, und auch auf alliierter Seite starben noch unzählige Soldaten, nur um einen bereits feststehenden Ausgang endgültig zu erzwingen.

Aus der Sicht eines rationalen Kriegstheoretikers wie Carl von Clausewitz, auf dessen Theorien Afflerbach sich konzeptionell stützt, erscheint die Beurteilung klar: Kriegerische Gewalt dient dazu, einem widerstrebenden Gegner den eigenen Willen aufzuzwingen – nicht dazu, ihn zu vernichten. Umgekehrt hat der Schwächere seine Unterlegenheit anzuerkennen und sich zu fügen, also zu kapitulieren, wenn der Kampf militärisch aussichtslos geworden ist. Die historische Evidenz zeigt allerdings, dass diese Rationalität nicht wirklich der inneren Logik des Kriegs entspricht. Wie dieser weit gefasste, von der Steinzeit bis in die Gegenwart reichende, epochale und systematische Gliederungselemente verbindende weltgeschichtliche Überblick veranschaulicht, haben Kriege immer wieder mit fortgesetzter Gewaltausübung geendet: durch mordende, plündernde, brandschatzende und vergewaltigende Sieger, aber auch durch bis in den Untergang weiterkämpfende Verlierer.

Trotz dieses Befundes versucht der Autor aber, eine sich langsam durchsetzende Tendenz aufzuzeigen, das aus rein militärischer Sicht sinnlose Abschlachten durch eine Kultur der Kapitulation einzugrenzen. In Analogie zur Kapitalismusanalyse von Adam Smith sieht Afflerbach eine „unsichtbare Hand des Krieges“ am Werk, „die automatisch Exzesse als unvorteilhaft für alle Krieg führenden Parteien abstraft“ (S. 105): Letztlich erscheine es für alle Seiten sinnvoll, für Sieger wie Verlierer, aus höchst eigennützigen Motiven vielleicht nicht das Wohl aller zu mehren, aber immerhin die Gewalt des Kriegsendes einzuschränken und Kriege vor der völligen Vernichtung des Verlierers zu beenden. Dafür kann Afflerbach in der Tat eine Vielzahl von Beispielen anführen, in denen Soldaten, vom Oberkommandierenden bis zum Gemeinen, aussichtslose Kämpfe eingestellt haben, um schlicht überleben zu können. Und dies fiel ihnen nachvollziehbarer Weise umso leichter, je eher sie erhoffen konnten, vom Sieger nicht trotzdem abgeschlachtet, sondern gnädig behandelt und mehr oder weniger verschont zu werden. Auch aus der Sicht der Sieger konnte dies vernünftig erscheinen, um so den verlustreichen Endkampf zu beenden und die eigenen Opfer zu begrenzen.

Vor allem auf der Ebene der soldatischen und zivilen Ethik kann Afflerbach langfristige, wenn auch vielfach konterkarierte Tendenzen zur Etablierung einer von beiden Seiten geteilten Kultur der Kapitulation überzeugend herausarbeiten. Während die Antike noch durchdrungen war vom Ideal des Kampfes bis in den Tod und die vorzeitige Aufgabe grundsätzlich mit dem Verlust wenn nicht des Lebens, so doch der persönlichen Eigenständigkeit verbunden war, entwickelte die ritterliche Kultur des Mittelalters akzeptierte, nicht mit dem Ehrverlust des Verlierers einhergehende Formen der Kapitulation. Auch die großzügigen Sieger profitierten davon, denn ihr Großmut galt nun als ehrenhaft, und sie konnten ihn sich zugleich durch üppige Lösegeldzahlungen versilbern lassen. Diese Mäßigung galt allerdings nur für die kleine Gruppe der sozial und kulturell gleichrangigen Ritter. Gegenüber gemeinen Soldaten, oft auch gegenüber fremdländischen Gegnern, in den Kreuzzügen und generell in vielen Randbezirken Europas herrschten weiterhin grausame Kriegssitten. Erst in der Frühen Neuzeit, als die feudalen Reiterheere angesichts von Armbrust und Langbogen, von Handfeuerwaffen und Kanonen ihre militärische Vormachtstellung einbüßten und durch große Söldnerheere ersetzt wurden, verloren die klassischen Heldenideale ihre normative Kraft. Unterlegene Söldner waren nun bereit, ihr Leben nicht für die Ehre zu opfern und ihre Kräfte auch an den Sieger zu verkaufen, der seinerseits oft ein großes Interesse daran hatte, sie in seine Dienste zu übernehmen. Eine Zivilisierung des Krieges ergab sich daraus allerdings nicht, im Gegenteil. Denn bei den Söldnern verwischte zugleich „die Grenze zwischen Soldaten- und Verbrechertum“, und dadurch wurde, wie Afflerbach betont, der „mäßigende Einfluss, den das Zusammenspiel des beidseitigen Egoismus von Sieger und Verlierer normalerweise ausübt, außer Kraft gesetzt“ (S. 97).

Erst infolge der demokratischen Revolutionen des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts gelang es, für die nun entstehenden Massenheere und Massen von Kriegsgefangenen völkerrechtliche Regelungen auf den Weg zu bringen, die nicht nur weitreichende Schutzbestimmungen für die Kriegsverlierer beinhalteten, sondern auch Möglichkeiten für eine geordnete Einstellung von Kampfhandlungen bzw. für eine vollständige Kriegsbeendigung. Insbesondere in der westlich-demokratischen Welt habe sich mit der Zeit und vor allem nach der Erfahrung mit den zwei Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, so Afflerbach, eine Kultur des Kriegs etabliert, in der die Kapitulation und die rationale Beendigung kriegerischer Gewaltausübung akzeptiert und möglich geworden sei. Doch was bedeutet das für die Beurteilung des Kriegs? Afflerbach sieht im Kriegführen eine vermutlich anthropologisch begründete menschliche Verhaltensweise, mit der es umzugehen gelte. Die Weltgeschichte taugt in der Tat nicht dazu, dieses Axiom zu widerlegen. Aber die sich entwickelnde „Kunst der Kapitulation“ ging und geht, wie Afflerbachs Buch in vielfältigen Variationen zeigt, keineswegs mit einer allgemeinen Eingrenzung kriegerischer Gewalt einher. Sie war im Gegenteil begleitet von der Ausbildung immer größerer Massenheere, von der ideologischen Zuspitzung nationalistischer Feindbilder, von der Integration der Zivilgesellschaft in den „totalen Krieg“ und von exzessiver Gewaltausübung in „außersystemischen Kriegen“ gegen vermeintlich minderwertige Gegner und Bevölkerungen.

Die von Afflerbach gewählte, neuartige Perspektive auf die Kriegsniederlage ist zweifellos nicht nur gut geeignet, die Probleme der Kriegsbeendigung und ihrer Entwicklungstendenzen herauszuarbeiten. Gewissermaßen en passant eröffnet sich zugleich ein ebenso beeindruckender wie anregender Einblick in die Geschichte des Kriegs, in die sich historisch wandelnden, oft aber auch strukturell ähnlichen Erscheinungsformen des Kriegs und der Kriegsführung, der Vorstellungen und Praktiken, Ziele und Probleme. Die besondere Bedeutung von Festungen und Belagerungen tritt dabei ebenso plastisch hervor wie der spezifische Ehrbegriff des Seekriegs. Die These einer „wenn auch gewundenen und von schweren Rückschlägen durchzogenen Wendung zum Besseren im Kriege“ (S. 268) muss allerdings trotz aller Tendenzen zur Verrechtlichung mit einiger Skepsis betrachtet werden.