K. Kucher u.a. (Hrsg.): Stille Revolutionen

Cover
Titel
Stille Revolutionen. Die Neuformierung der Welt seit 1989


Herausgeber
Kucher, Katharina; Thum, Gregor; Urbansky, Sören
Erschienen
Frankfurt am Main 2013: Campus Verlag
Anzahl Seiten
250 S., 12 SW-Abb.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Natali Stegmann, Institut für Geschichte, Universität Regensburg

Man kann nur vermuten, dass eine Art Familientreffen hinter dem Zustandekommen dieses Sammelbands steht. Karl Schlögel ist er gewidmet; die Autor/innen sind überwiegend dessen Schüler/innen und akademische Freund/innen. Hans Magnus Enzensberger steuert als eine Art Prolog ein auf Schlögel gemünztes Gedicht bei („Der Geschichtsschreiber“). Bestimmt ist es nicht einfach, jemandem wie Schlögel mit seinem zugleich eigenwilligen und unverkennbaren Stil schreibend nachzueifern. Und sicherlich sind Historiker/innen – in dem Band kommen fast ausnahmslos solche zu Wort – auf den Gebieten der Essayistik, der Komik, der teilnehmenden Beobachtung und der politischen Analyse nicht unbedingt am stärksten. Genau auf diesen Gebieten versuchen sich die Autor/innen jedoch. In der sehr kurzen Einleitung wird dargelegt, die 21 versammelten Essays wollten den in „vielerlei Hinsicht noch unverstandenen Wandel“ seit 1989 nachvollziehen (S. 15f.). Dies geschieht anhand eines Sammelsuriums unterschiedlicher Themen und Perspektiven. Neben dem Gedicht und den Essays kommt als drittes Medium noch die Fotografie in Spiel. Das Coverfoto (von Barbara Klemm) zeigt die Warteschlange vor einer McDonald’s-Filiale 1991 in Moskau. Weitere Fotos aus Ost- und Ostmitteleuropa (von Lars Nickel) stehen ziemlich unverbunden zwischen den einzelnen Themenblöcken. Deren Überschriften lauten: „Aufbrüche in eine neue Ordnung“, „Entstehung neuer Räume“, „Stilbrüche“, „Die Neuvermessung der historischen Landschaft“, „Atlantis ‚Kalter Krieg’“ und „Der Charme der Alten Welt“. Grundsätzlich mag man es begrüßen, dass hier vom herkömmlichen Format der Festschrift kreativ abgewichen und ein breiteres Publikum angesprochen wird.

„Im Raume lesen wir die Zeit“ – so lautet die bekannte Aufforderung Schlögels, ihm zu folgen. Wie nehmen die Essays diese Aufforderung nun auf? Zunächst muss man sagen: eher auf Insider-Art. Schlögels Arbeiten werden in einigen Beiträgen nur mit einem Codewort angedeutet; eine einleitende und abschließende Systematisierung wird nicht geboten. Unter den mannigfaltigen Impressionen finden sich dabei ausgesprochen lesens- und nachdenkenswerte Beiträge. Vielschichtig und eindringlich ist zum Beispiel Klaus Gestwas Essay „Katastrojka und Super-GAU. Die Nuklearmoderne im Zeichen von Tschernobyl und Fukushima“. Gestwa erzählt schlüssig, wie die erste Katastrophe als ein Phänomen des untergehenden Sozialismus interpretiert wurde und somit erst die zweite die Einsicht in die grundlegenden Probleme der atomaren Sicherheit bot.

Tatsächlich komisch und nicht etwa platt ist Jan Plampers Beitrag über seine russische Schwiegermutter („Interbabuschka: Eine Hommage“). Die „Interbabuschka“ – „eine der agilsten Migrantinnen“ (S. 83) zwischen den Kontinenten und Kulturen – ist ein Globalisierungsphänomen; zugleich bleibt sie eine russische Großmutter. Hier also fallen Zeiten und Räume auf eine überraschende Weise zusammen; das macht wohl den Witz aus.

Ebenfalls im besten Sinne persönlich und zugleich professionell sind die Beobachtungen zur Sowjetforschung im Umbruch von Sheila Fitzpatrick („Der Tod des Subjekts und seine Folgen“). Bemerkenswert ist daran vor allem die (potenzielle) Absage an jeglichen Determinismus. Die Autorin fragt sich und zugleich uns, welche Rolle der Zufall in den Ereignissen der späten 1980er-Jahre spielte. Fitzpatrick zeigt die Möglichkeiten des Augenblicks (neue Chancen für Archivstudien), aber auch das Wehleid ob der veränderten persönlichen und wissenschaftlichen Beziehungen.

Schließlich landet Gerd Koenen irgendwo zwischen Sozialismus und Morgen. Sein Beitrag „Merry Old Europa: Ein Blick zurück von China auf Europa“ ist ein lautes und beziehungsreiches Nachdenken über eine Reise nach China; ein Essay im besten Sinne mit der Aussicht auf einen baldigen Kollaps. Koenen scheint hier also präventiv den Vorwurf ausräumen zu wollen, abermals etwas nicht vorausgesehen zu haben.

„Im Raume lesen wir die Zeit“ verweist aber nicht nur auf den Flaneur zwischen den Welten, sondern zugleich auf die Zeitlichkeit, auf das Wiederaufsuchen der Räume. Und hier werden einige Beiträge dem impliziten Anspruch nicht gerecht, wenn sie 1989 einsetzen und die Transformation nicht als einen Wandel vom Sozialismus zum Post-Sozialismus fassen, sondern eher als eine Transformation hin zum Westlichen, zum Europäischen oder wie auch immer Normativen. So lesen sich einige Beiträge wie politische Sonntagsreden, Reiseführer oder Werbeprospekte. Am auffälligsten in dieser Hinsicht ist Gregor Thums Versuch, Europa zu retten. Unter dem Titel „Das Ende der Utopien und die Vereinigung Europas“ behauptet er, „Europa“ sei die neue Utopie des Kontinents; das große Werk jener Generation, die den Zweiten Weltkrieg noch erlebt hatte und deshalb 1989 „kühn“ zu Werk ging, werde nun – hoffentlich – von der „Generation Erasmus“ vollendet (um dazuzuzählen, muss man 1970 oder später geboren sein). Dass mit dem Systemantagonismus auch im Westen Utopien politisch bedeutungslos geworden sind, wird zwar konstatiert, mit dem Blick auf das Handeln allein der staatlichen Akteure aber nicht weiter verfolgt.

Norman Naimarks Beitrag über „History City Berlin“ ist eine bloße Erfolgsgeschichte der deutschen Hauptstadt mit ihren architektonischen Überresten sowie ihrer Forschungs- und Museumslandschaft. Um eine Leseprobe zu geben: „Angesichts dieser ‚Normalität’ des neuen Deutschlands – vereint, prosperierend, friedlich und fortschrittsorientiert – würde man eine allmählich nachlassende Neigung der Deutschen vermuten, sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen […]. Aber diese Entwicklung lässt sich gerade nicht beobachten.“ (S. 145) Schöner steht es auch auf den Homepages der Regierung nicht beschrieben. Von einem Historiker würde ich jedoch erwarten, dass er sich der Geschichtspolitik eher analysierend als werbend nähert.

Katharina Kucher lässt sich unter der Leitfrage „Postsowjetischer Sinneswandel?“ sehr eingängig über „Geschmack und Konsum im neuen Russland“ aus. Dabei finden sich gute Beobachtungen zur Wohnkultur im Sozialismus, der (fortgesetzten) Westorientierung der Konsumbedürfnisse und zur nun aufkommenden grenzüberschreitenden Retro-Kultur; die Autorin übertreibt es aber doch – apropos Reiseführer –, wenn sie die Stimmung in einzelnen Moskauer Bars beschreibt.

Etwas abgehoben wirkt schließlich Susanne Schattenbergs Beitrag zu „Frieden im Weltall: Mir + Shuttle = ISS“, in dem die Autorin die Zusammenarbeit sowjetischer bzw. russischer und amerikanischer Raumfahrer in den 1970er- und 1990er-Jahren nachzeichnet. Ist es ernst gemeint, wenn sie fragt, ob „Geschichte künftig in kosmischen Dimensionen geschrieben“ werden müsse (S. 33)? Hier hätten wir es zwar mit einer bemerkenswerten Erweiterung des Räumlichen zu tun. Das entbindet aber vorläufig nicht von der Notwendigkeit, das Irdische näher zu beleuchten. In dieser Hinsicht gleitet der Beitrag allzu oft ins Anekdotische ab.

Die hier versammelten Texte sind damit sehr heterogen, sowohl thematisch als auch in ihrer Qualität. Insgesamt fällt auf, dass fast nur Ansichten und Einsichten zu Russland bzw. den Regionen der ehemaligen Sowjetunion geboten werden; der übrige „Ostblock“ verschwindet in einer offensichtlich hegemonialen Perspektive. So kommt der Untertitel von der „Neuformierung der Welt seit 1989“ doch etwas vollmundig daher.