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Titel
Nazi-Jagd. Südamerikas Diktaturen und die Ahndung von NS-Verbrechen


Autor(en)
Stahl, Daniel
Reihe
Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts 15
Erschienen
Göttingen 2013: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
430 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Ruderer, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Das Thema der in Südamerika untergetauchten NS-Täter findet immer wieder große öffentliche Aufmerksamkeit. Die Namen Eichmann, Mengele, Barbie und Priebke sind auch deshalb zu Symbolen für die NS-Verbrechen geworden, weil die jahrzehntelange Suche nach ihnen in Südamerika häufig von einem internationalen Medienecho begleitet wurde. Die wissenschaftliche Forschung konzentrierte sich bisher in erster Linie auf die Flucht der Nazis nach Südamerika in der frühen Nachkriegszeit.1 Für einzelne Fälle wurden auch die (anfangs meist begrenzten) Bemühungen um Strafverfolgung untersucht.2 Daniel Stahl legt jetzt mit seiner in Jena bei Norbert Frei entstandenen Dissertation erstmals eine Gesamtdarstellung der Versuche vor, in Südamerika untergetauchte NS-Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stahl geht es um die Frage, wie „seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die unmittelbare Gegenwart hinein mit den nach Südamerika geflüchteten NS-Tätern und Kollaborateuren umgegangen wurde“ (S. 9). Die Nazi-Jagd will er als eine „Geschichte von Wechselwirkungen zwischen der Ahndung von NS-Verbrechen und dem Umgang mit der Repression durch südamerikanische Regime“ erzählen (S. 13). Für dieses umfangreiche Vorhaben greift er auf einen beeindruckenden Quellenbestand zurück, den er sowohl in europäischen als auch in südamerikanischen Archiven erhoben hat.

Das Buch setzt ein mit der Analyse des Bedrohungsszenarios eines „Vierten Reichs“ in Argentinien, das noch während des Zweiten Weltkriegs in Umlauf gebracht wurde. Da sich Argentinien dem wirtschaftlichen und politischen Druck der USA nicht beugen wollte und bis kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs eine Deutschland-freundliche Position beibehielt, geriet es in den Verdacht, ein sicherer Hafen für flüchtige Nazis und NS-Kapital zu sein. Im Zusammenspiel zwischen US-amerikanischen Gewährsleuten und der argentinischen Opposition gegen den Peronismus wurde die Befürchtung, dass Nationalsozialisten in Argentinien ein „Viertes Reich“ errichten könnten, noch vor der eigentlichen Flucht von NS-Tätern zu einer wirkmächtigen Erzählung. Auch wenn diese Erzählung, gerade im Hinblick auf das Nazi-Gold, zum Großteil auf gefälschten Dokumenten beruhte, griffen die Verfolger von NS-Verbrechen den „Mythos“ auch Jahrzehnte später immer wieder auf. Tatsächlich leistete die Regierung Perón in den Jahren nach dem Krieg eine bedeutende Fluchthilfe für NS-Täter, wobei Stahl die These vertritt, dass Peróns Interesse an den Nazis nicht nur auf den Mangel an Fachkräften und Rüstungsexperten in Argentinien zurückzuführen sei, sondern auch ideologische Motive gehabt habe: Perón sah in den ehemaligen Nazis Verbündete seines „Dritten Wegs“, der den Kommunismus und den Kapitalismus gleichermaßen ablehnte. Die geflüchteten Nationalsozialisten erfreuten sich in Argentinien also durchaus eines gewissen staatlichen Schutzes. Durch den Blick auf die Bemühungen der Bundesrepublik kann Stahl zeigen, dass die so genannte Nazi-Jagd bis Mitte der 1950er-Jahre auch hierzulande kaum von Relevanz war. Durch die hohe personelle Kontinuität in Justiz und Politik war das Interesse der bundesdeutschen Behörden an einer Strafverfolgung der NS-Täter nicht sehr groß, so dass viele Verfahren in Südamerika schon zu Beginn ins Stocken gerieten.

Diese Situation änderte sich erst nach der Entführung Adolf Eichmanns durch den israelischen Geheimdienst im Jahr 1960, wie im zweiten Kapitel erläutert wird („Nazi-Jagd gegen Widerstände, Fahndung unter Vorbehalt“). Mit dem Eichmann-Prozess in Israel und dem einsetzenden Wandel der Vergangenheitspolitik in der Bundesrepublik gerieten auch die in Südamerika lebenden NS-Täter wieder in den Fokus. Stahl unterstreicht, dass Eichmann für die Nazijäger, insbesondere für Simon Wiesenthal, in erster Linie ein aktuelles Sicherheitsrisiko darstellte. Eichmann galt ihnen, in Anlehnung an das Narrativ vom „Vierten Reich“, als Schlüsselfigur einer von Südamerika aus operierenden Naziorganisation, die den Weltfrieden weiterhin bedrohe. Durch den Eichmann-Prozess aufgeschreckt, suchten die westdeutschen Behörden jetzt auch weitere prominente NS-Flüchtlinge. Insbesondere für die angestrebte Ergreifung Mengeles wurde ein hoher Aufwand betrieben, bei dem es zu starken diplomatischen Spannungen mit Paraguay kam. Durch seine kritische Analyse kann Stahl zeigen, dass die Bundesregierung mit den (letztlich vergeblichen) Bemühungen um Mengele ihr vergangenheitspolitisches Engagement an einem prominenten Beispiel demonstrieren wollte, während sie sich zur gleichen Zeit innenpolitisch für eine Verjährung von Mord einsetzte – und damit für einen juristischen Schlussstrich unter die Verfolgung von NS-Tätern. Auch bei weniger bekannten NS-Flüchtlingen in Südamerika waren die westdeutschen Behörden in den 1960er- und 1970er-Jahren eher zurückhaltend. Sowohl justizökonomische Gründe (die hohen Kosten eines ungewissen Auslieferungsverfahrens) als auch die häufige Einstufung der Verbrechen als Beihilfe führten dazu, dass in diesen Jahrzehnten kaum tatsächliche Erfolge bei der Ergreifung von NS-Verbrechern in Südamerika vorzuweisen waren.

Eine dritte Phase begann, als Beate Klarsfeld in Bolivien Klaus Barbie aufspürte – damit eröffnet Stahl zugleich sein drittes Kapitel („Nazi-Jagd als Regimekritik“). Die Klarsfelds setzten, im Gegensatz zu dem konservativeren Wiesenthal, auf eine öffentliche Skandalisierung der in Südamerika lebenden NS-Täter. Gleichzeitig wurde die Suche nach diesen Akteuren durch die Opposition zu den mittlerweile in vielen Ländern herrschenden Militärdiktaturen politisiert. Südamerikanische Menschenrechtsaktivisten und Nazijäger hatten nun gemeinsame Interessen. Doch trotz der sich verstärkenden Bemühungen auch der bundesdeutschen Behörden hatten die ehemaligen Nazis unter den südamerikanischen Diktaturen wenig zu befürchten. Die Auslieferung Barbies an Frankreich im Jahr 1983 wurde erst während des Demokratisierungsprozesses in Bolivien möglich. Nach dem Ende der Diktaturen diente das Entgegenkommen bei der Strafverfolgung von NS-Tätern den südamerikanischen Regierungen als Beweis ihrer Demokratisierung. Die sich Anfang der 1980er-Jahre herausbildenden transnationalen Strukturen der Nazi-Jagd zwischen europäischen Aufarbeitungs- und südamerikanischen Menschenrechtsaktivisten führten zu deutlich verstärkten Ahndungsbemühungen. Aber wie Stahl am Beispiel Mengeles aufzeigt, für den noch sechs Jahre nach seinem Tod in Brasilien beeindruckende internationale Ermittlungen zu seinem Aufenthaltsort stattfanden, kam die Mobilisierung von staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen häufig zu spät.

Im vierten und letzten Hauptkapitel („Zweierlei Umgang mit staatlichen Gewaltverbrechen“) wendet sich Stahl wieder der „Sonderrolle“ (S. 374) Argentiniens zu, wo in den 1990er-Jahren zwei Vergangenheitspolitiken aufeinandertrafen. Während die peronistische Regierung Menem gegenüber den früheren Verbrechern der Diktatur im eigenen Land Amnestiegesetze erließ, versuchte sie ihr Ansehen in der internationalen Öffentlichkeit durch ein resolutes Vorgehen gegen untergetauchte Nazis aufzubessern. Gerade um das Image des Peronismus als Verbündeter der Nazis loszuwerden, wurden Archive geöffnet, eine Historikerkommission zur Untersuchung der Naziflucht eingerichtet und Auslieferungsanträge wie in den Fällen der NS-Täter Priebke und Schwammberger gefördert. Dieses Verhalten wirkte allerdings auf die eigene Vergangenheitspolitik zurück. So verurteilten argentinische Gerichte den ehemaligen Diktator Videla 1998 erneut – und zwar mit Bezug auf die Urteile gegen geflüchtete Nationalsozialisten, die aufgrund von nicht verjährbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausgeliefert wurden. Auch hier gelingt es dem Autor, die internationalen Wechselwirkungen der Nazi-Jagd aufzuzeigen.

Insgesamt legt Daniel Stahl ein beeindruckendes Buch vor, in dem die politischen, diplomatischen und juristischen Verflechtungen des Themas überzeugend nachgezeichnet werden. Teilweise wird dabei der Einfluss der Nazi-Jagd auf die südamerikanische Politik etwas überschätzt. So muss man für Peróns Verhalten wesentlich stärker einen nationalistischen Diskurs mitdenken: Die Abgrenzung gegenüber US-amerikanischen Diplomaten, die ihn des „Faschismus“ verdächtigten, erlaubte es ihm, Wählerstimmen zu gewinnen. Auch der Einfluss auf die argentinische Vergangenheitspolitik, gerade im Hinblick auf die öffentliche Wahrnehmung im Land, war nicht sehr groß. Dort bestimmte die Debatte um die „eigenen“ Verbrecher den Diskurs. Irreführend ist schließlich der Untertitel des Buches, denn weder der Peronismus noch die Regierung Menems, denen zwei von vier großen Kapiteln gewidmet sind, waren „Diktaturen“. Dies schmälert jedoch nicht die Leistung Stahls, dem es gelingt, die Geschichte des Aufspürens und der Strafverfolgung von einzelnen in Südamerika untergetauchten NS-Tätern immer wieder in die nationalen und internationalen politischen Zusammenhänge einzubetten.

Anmerkungen:
1 Holger Meding, Flucht vor Nürnberg? Deutsche und österreichische Einwanderung in Argentinien 1945–1955, Köln 1992; Uki Goñi, Odessa. Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher, Berlin 2006 (rezensiert von Ruth Bettina Birn, in: H-Soz-u-Kult, 25.10.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-4-075> [28.06.2013]); Gerald Steinacher, Nazis auf der Flucht. Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen, Innsbruck 2008 (rezensiert von Kerstin von Lingen, in: H-Soz-u-Kult, 06.05.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-2-087> [28.06.2013]).
2 Jüngst z.B. Bettina Stangneth, Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders, Hamburg 2011 (rezensiert von Peter Krause, in: H-Soz-u-Kult, 02.09.2011, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-3-131> [28.06.2013]).