B. Schwelling (Hrsg.): Reconciliation, Civil Society, Politics of Memory

Cover
Titel
Reconciliation, Civil Society, and the Politics of Memory. Transnational Initiatives in the 20th and 21st Century


Herausgeber
Schwelling, Birgit
Reihe
Erinnerungskulturen / Memory Cultures 2
Anzahl Seiten
372 S.
Preis
€ 36,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ilse Raaijmakers, Department of History, Maastricht University

Zu den berühmtesten Symbolen transnationaler Versöhnung zählt wohl das Händereichen zwischen Helmut Kohl und François Mitterrand von 1984 in Verdun. Diese deutsch-französische Versöhnungsgeste hat viele Vorläufer, nicht nur auf Staatsebene. Schon kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gab es eine bemerkenswerte zivilgesellschaftliche Versöhnungsinitiative zwischen ehemals verfeindeten Kämpfern. Der französische Kriegsveteran René Cassin versuchte über die Internationale Arbeitsorganisation des Völkerbunds eine internationale pazifistische Veteranenbewegung ins Leben zu rufen. Das gemeinsame Interesse an der Anerkennung der Rechte kriegsversehrter Männer sollte die beiden ehemals feindlichen Lager verbinden. Tatsächlich hat Cassin seit Anfang der 1920er-Jahre Veteranen aus den alliierten Ländern, aus Deutschland und Österreich erfolgreich an einen Tisch gebracht – damals eine heikle Angelegenheit. Nach dem Aufstieg der Nationalsozialisten wurden die Treffen eingestellt, aber Cassin setzte sein Versöhnungswerk nach dem Zweiten Weltkrieg fort. 1968 erhielt er den Friedensnobelpreis für seine Mitarbeit an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Hier liegt auch eine langfristige Bedeutung der Veteranenbewegungen: Zumindest Teile von ihnen können als Vorläufer der Menschenrechtsbewegung während und nach dem Zweiten Weltkrieg interpretiert werden.

In dem hier vorzustellenden Sammelband hat Jay Winter eine Fallstudie zur Tätigkeit René Cassins beigesteuert. Verschiedene transnationale Versöhnungsinitiativen werden in dem Band analysiert; die Besonderheit ist das spezielle Interesse an der Zivilgesellschaft. Das Buch reagiert damit auf neue Tendenzen im Bereich der „Transitional Justice“, die als fragwürdig eingestuft werden. Die Kritik bezieht sich sowohl auf die Forschung als auch auf die Praxis. Die Herausgeberin Birgit Schwelling stellt in ihrer Einleitung fest, dass der Begriff „Transitional Justice“ einerseits über den Bereich des Rechts und der Rechtswissenschaften hinausgehe und heutzutage die verschiedensten Umgangsweisen mit grauenhaften historischen Erfahrungen umfasse. Andererseits konstatiert sie aber auch eine Verengung des Blickfelds, da sich durch die Institutionalisierung von „Transitional Justice“ unter dem Einfluss eines Expertennetzwerks ein globaler normativer Konsensus darüber gebildet habe, was der Umgang mit vergangenen Gräueltäten bedeuten und beinhalten sollte. Derartigen Annahmen vermeintlicher „Best Practices“ widersetzt sich der Sammelband.

Die elf Beiträge, die auf die Einleitung folgen, beschreiben transnationale zivilgesellschaftliche Versöhnungsprozesse vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Die Artikel sind teilweise nach historischen Ereignissen gruppiert. Zwei Aufsätze beschäftigen sich mit den Versöhnungsversuchen nach dem Völkermord an den Armeniern. Charlton Payne diskutiert eine Versöhnungsinitiative zwischen Deutschen – das Deutsche Reich war mit dem Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg verbündet – und Armeniern kurz nach dem Genozid. Ayda Erbal analysiert hingegen die öffentliche Entschuldigung von türkischen Intellektuellen für das Massaker, die fast ein Jahrhundert später – Ende 2008 – stattgefunden hat. Ulrike Schröber, Andrea Erkenbrecher und Christiane Wienand widmen sich dem Thema Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die ersten beiden Autorinnen erläutern Annäherungsversuche zwischen Franzosen und Deutschen, während Wienand die Aktivitäten von „Aktion Sühnezeichen“ in Israel beschreibt. In allen drei Beiträgen spielen religiöse Akteure und Motive eine wichtige Rolle für die Versöhnungsprozesse. Als weitere Fallbeispiele gibt es Aufsätze zur postkolonialen Versöhnung zwischen Portugal und Mozambique (Robert Stock) sowie zwischen Namibia und Deutschland (Reinhart Kössler). In der Sektion „Reconciliation and Human Rights“ findet sich neben dem erwähnten Beitrag von Jay Winter ein Aufsatz von Marco Duranti über Gruppen der europäischen Einheitsbewegung. Im Kapitel „Instruments of Reconciliation“ schreiben Melinda Sutton über die von Tony Blair 1998 für Nordirland initiierte „Bloody Sunday Inquiry“ und Anne K. Krüger über die globale Verbreitung von Wahrheitskommissionen.

Insgesamt entsprechen die meisten Aufsätze den Prämissen der Einleitung. Sie dokumentieren für das 20. und das beginnende 21. Jahrhundert ein breites Spektrum transnationaler Versöhnungsinitiativen, die allesamt auf der zivilgesellschaftlichen Ebene stattgefunden haben. Von „Best Practices“ kann man tatsächlich kaum sprechen. Der jeweilige sozio-kulturelle und politische Kontext, innerhalb dessen sich die Versöhnungsversuche beweg(t)en, spielt eine wichtige Rolle und ist interessanter als etwaige Generalisierungen. Dass in der Einleitung einige Schlussfolgerungen vorweggenommen werden, mag zunächst befremdlich wirken, wenn man das Buch noch nicht gelesen hat, doch ergeben sich daraus hilfreiche Leitlinien. Am wichtigsten ist die Beobachtung, dass Versöhnung ein inhärent umstrittenes und daher auch utopisches Projekt mit vielen beteiligten Akteuren und ebenso vielen Interessen ist. Wann und wodurch ist wer genau versöhnt? Diese Frage drängt sich immer wieder auf. Die Beiträge zeigen überzeugend, dass Versöhnung besser als Prozess der kleinen Schritte denn als Endzustand zu betrachten ist. Damit schließt das Buch an einen breiteren Trend in den Kulturwissenschaften und vor allem in den „Memory Studies“ an, der sich weniger mit kulturellen Artefakten beschäftigt, sondern mehr mit der Frage der kulturellen Praxis.1

Die detaillierten Fallstudien bilden eine wertvolle Ergänzung für die Forschungslandschaft, die sich bei Fragen der „Transitional Justice“ einerseits oft zu sehr auf staatliche Akteure konzentriert und andererseits dabei sehr theoretisch vorgeht. Das Hauptproblem des Sammelbands ist aber, dass die unterschiedlichen Verfasser/innen nicht vom gleichen Versöhnungsbegriff ausgehen. Das führt zu unnötigen Wiederholungen, da viele Autorinnen und Autoren zunächst versuchen, den Begriff theoretisch einzuordnen. Interessanter wäre es gewesen, wenn alle Forscher/innen dem von der Herausgeberin gewählten Ansatz gefolgt wären und die Akteure selbst mit deren Verständnis von Versöhnung ins Zentrum gerückt hätten. Zum Glück gibt es dafür im Sammelband einige spannende Beispiele. Zu nennen wären die christliche Auffassung von Versöhnung in transnationalen Initiativen zwischen Frankreich und Deutschland oder die unterschiedlichen Deutungen von Versöhnung im postkolonialen Umfeld.

Am Ende des Buches bleibt schließlich die Frage, in welche Forschungslandschaft der Band genau einzuordnen ist. Er reagiert auf Tendenzen im Feld der „Transitional Justice“ und erweitert dieses als Forschungsgegenstand temporal durch die Einbeziehung von Versöhnungsprozessen, die lange nach den ursprünglichen Gräueltäten stattgefunden haben. Die Sicht ist also nicht auf die Übergangsphase beschränkt. Damit wird die Abgrenzung zum allgemeineren Feld der Gedächtnisforschung und Geschichtspolitik aber diffus. Die Frage nach der Einordnung in ein bestimmtes Forschungsfeld drängt sich umso mehr auf, da im Titel des Sammelbands nicht „Transitional Justice“ genannt ist, sondern „Politics of Memory“. Leider wird dieser Begriff nicht näher bestimmt, obwohl die zivilgesellschaftliche Perspektive des Bands auch dazu einen wichtigen Beitrag hätte liefern können. Im Forschungsfeld wird nämlich noch zu wenig anerkannt, dass Geschichtspolitik auch maßgeblich „von unten“ betrieben wird – also von nicht-staatlichen Akteuren. Überdies wird „transnational“ ebenfalls nicht näher definiert, obwohl es zur transnationalen Geschichte bekanntlich eine wachsende Menge an Literatur gibt.2 Zu beachten wäre dabei, dass der Begriff „transnational“ in einem postkolonialen Zusammenhang eine andere Bedeutung hat als im Kontext benachbarter Länder. Diese Einwände ändern jedoch nichts am Gesamteindruck eines gelungenen Sammelbands, der mit der Breite seiner Beispiele das Verständnis von Versöhnungsprozessen jenseits nationaler Grenzen erweitert.

Anmerkungen:
1 Peter Burke, Was ist Kulturgeschichte?, Frankfurt am Main 2005 (rezensiert von Wolfgang E.J. Weber, in: H-Soz-u-Kult, 19.04.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-2-047> [02.04.2013]); Astrid Erll / Ansgar Nünning (Hrsg.), Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook, Berlin 2008 (rezensiert von Malte Thießen, in: H-Soz-u-Kult, 23.01.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-1-061> [02.04.2013]).
2 Siehe als Überblick etwa Philipp Gassert, Transnationale Geschichte, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.10.2012, URL: <http://docupedia.de/zg/Transnationale_Geschichte_Version_2.0_Philipp_Gassert?oldid=85577> (02.04.2013).