K. Härter u.a. (Hrsg.): Vom Majestätsverbrechen zum Terrorismus

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Titel
Vom Majestätsverbrechen zum Terrorismus. Politische Kriminalität, Recht, Justiz und Polizei zwischen Früher Neuzeit und 20. Jahrhundert


Herausgeber
Härter, Karl; Graaf, Beatrice de
Reihe
Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 268
Erschienen
Frankfurt am Main 2012: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
€ 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Désirée Schauz, Münchner Zentrum für Wissenschafts- und Technikgeschichte

Die aktuelle Konjunktur von Terrorismusstudien in der Zeitgeschichte scheint innerhalb der historischen Kriminalitätsforschung das Interesse an einem alten Themenfeld wieder erweckt zu haben: der politischen Kriminalität. Die Sonderstellung politischer Delikte sowie das ehedem klassisch politikgeschichtliche Interesse sind Gründe dafür, dass das Thema seit den 1980er-Jahren zunehmend in den Hintergrund rückte. Die stärker an sozial-, alltags- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen orientierte historische Kriminalitätsforschung hat dem Thema bislang wenig innovatives Potential zugeschrieben.

Die hier vorliegende Sammlung von 14 Einzelbeiträgen nebst einer Einleitung ist aus zwei Tagungen hervorgegangen, die vom niederländischen „Centre for Terrorism and Counterterrorism“ gemeinsam mit dem Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main und von den Arbeitskreisen „Historische Kriminalitätsforschung“ und „Policey/Polizei im vormodernen Europa“ in Stuttgart organisiert wurden. Die Beiträge verfolgen die Entwicklung politischer Kriminalität von der Frühen Neuzeit bis in die 1980er-Jahre, wobei sie eine große Bandbreite politischer Devianz behandeln: von Majestätsbeleidigung und Hochverrat, Korruption und anderen Dienstverletzungen, über Attentate auf Repräsentanten des Staates und terroristische Anschläge bis hin zu gewaltfreien Aktivitäten von politischen Bewegungen und Regimekritikern.

Beatrice de Graaf und Karl Härter verweisen in ihrer Einleitung darauf, dass es sich beim Terrorismus um keine objektive Kategorie, sondern um einen umkämpften, historisch variablen Begriff handele. In gewisser Weise gilt dies generell für politische Kriminalität wie für Devianz im Allgemeinen. Für die Kriminalitätsgeschichte ist diese Einsicht daher nicht ganz neu: Sie hat sich von einem rechtspositivistischen Verständnis von Kriminalität verabschiedet und versteht abweichendes Verhalten vor dem Hintergrund komplexer gesellschaftlicher wie rechtlicher Zuschreibungen von Normen. Der Beitrag der Terrorismusforschung besteht jedoch darin, den Blick für die mediale Inszenierung politischer Devianz zu schärfen. Der öffentliche Umgang mit politischer Kriminalität ist daher auch ein wiederkehrender Aspekt in den Beiträgen. Daneben lassen sich weitere verbindende Aspekte ausmachen, wie etwa das Interesse an der Herausbildung eines politischen Strafrechts sowie entsprechender Verwaltungs- und Polizeimaßnahmen.

Strafrecht und Gesetzgebung der Frühen Neuzeit kannten bereits politische Delikte wie Hochverrat und Verschwörungen, Majestätsbeleidigung oder auch Korruption von Beamten. Die rechtlichen Grundlagen und Auslegungen konnten jedoch je nach Staat sehr unterschiedlich sein. Im Russland des 18. Jahrhunderts etwa war die Majestätsbeleidigung geradezu ein massenhaft verfolgtes Delikt, womit sich das Land von der übrigen europäischen Strafpraxis deutlich abhob. Trotz der rigorosen Verfolgung und breiten Auslegung von Majestätsbeleidigungen sieht Angela Rustemeyer darin „keine Waffe autokratischen Machtwahns“ (S. 40). Nachdem Russland relativ spät das Konzept der ‚Guten Policey‘ rezipierte, ging es bei der Verfolgung der Majestätsdelikte nicht allein um Sühne der Herrscherehre, sondern, so Rustemeyer, vorrangig darum, die Integration der Untertanen in das staatliche Gemeinwesen voranzutreiben und sie entsprechend zu disziplinieren.

Im Versuch, eine longue-durée-Perspektive der politischen Kriminalität zu verfolgen, geht der Band behutsam und semantisch sensibel vor. Das Moment der Gefahrenabwehr etwa, wie es angesichts moderner terroristischer Anschläge betont wird, lässt sich durchaus schon in der Frühen Neuzeit finden. Wie André Krischer an britischen Beispielen verdeutlicht, reichte der Verdacht einer Verschwörung aus, um gegen rivalisierende Machtgruppen vorzugehen. Doch der entscheidende Umbruch vollzog sich erst im späten 18. und im 19. Jahrhundert. Die restaurativen Regierungen ließen politische Verbrechen strafrechtlich ausdifferenzieren und auf den Bereich der öffentlichen Kommunikation ausweiten. In seinem europäisch vergleichenden Überblicksartikel stellt Karl Härter heraus, dass im 19. Jahrhundert zunehmend Maßnahmen präventiver Gefahrenabwehr gesetzlich verankert wurden: Legitimiert durch die Idee des Staatsschutzes wurde fortan das moderne rechtliche Konstrukt des Ausnahmezustands institutionalisiert.

Angesichts der rechtlichen Ausnahmeregelungen diskutieren einige Beiträge die Frage der Rechtsstaatlichkeit im Umgang mit politischen Delinquenten. So etwa die Studie von Carola Dietze zu Attentaten in Europa und in den USA im späten 19. Jahrhundert: Während Max Hödel für seinen fehlgeschlagenen Versuch, den deutschen Kaiser Wilhelm I. zu töten, ein nach den damaligen Standards rechtmäßiges Verfahren erhielt, verweist Dietze auf die Missachtung rechtstaatlicher Vorgaben beim Umgang mit Attentätern in den USA und im zaristischen Russland. Doch Rechtsstaatlichkeit ist ein schwieriges Kriterium, und zwar nicht nur aufgrund der gesetzlichen Ausnahmeregelungen. Wie Dietze im Fall der deutschen Kaiser-Attentäter Hödel und Karl Eduard Nobiling betont, wich die politische Inszenierung der Täter als Anhänger sozialistischer oder anarchistischer Bewegungen vom juristischen Urteil deutlich ab und diente bekanntermaßen als Legitimierung für die repressiven Sozialistengesetze.

Die unterschiedlichen Deutungen politischer Bedrohung, ein weiterer zentraler Aspekt, lassen sich am Fall des Sozialdemokraten Friedrich Adlers, der 1916 den österreichischen Ministerpräsidenten Karl Reichsgraf Stürgkh erschoss, besonders gut aufzeigen. Die Behörden versuchten den Prozess als politisch unbedeutend herabzustufen. Die Sozialdemokraten stellten das Attentat als Tat eines Wahnsinnigen hin. Wie John Zimmermann zeigt, nutzte der Angeklagte dagegen den Prozess, um seine politischen Motive darzulegen und das „Burgfriedensszenario“ (S. 239) ins Wanken zu bringen. Der zeitgeschichtliche Beitrag von Beatrice de Graaf wiederum lässt die nationalen Unterschiede erkennen. Trotz der Gewalterfahrungen, die die niederländische Gesellschaft in den 1970er-Jahren mit Anschlägen machte, wurde sowohl von offizieller Seite als auch in den Medien der Begriff Terrorismus vermieden. De Graaf interpretiert diesen Etikettierungsverzicht als Ausdruck einer im Vergleich zur BRD abweichenden politischen Kultur, in der präventive und integrative Politik einen großen Stellenwert besaßen.

Andere Autoren thematisieren die Rolle der Medien und des strategischen Umgangs mit der Öffentlichkeit bei diesen Deutungskämpfen. Krischer hat seinen Beitrag mit vielen Abbildungen frühneuzeitlicher Stiche versehen, in denen Verschwörungstheorien und Bedrohungsszenarien visualisiert wurden. Angesichts der konfessionellen Spannungen vermittelten sie ein klares Feindbild: die katholische Kirche und ihre Anhänger. Dieser Antikatholizismus prägte sich tief in die britische Kultur ein. Gerhard Sälters Analyse interner Schauprozesse führt dagegen vor, wie differenziert das DDR-Regime die Öffentlichkeit einsetzte, um die Verurteilung von Grenzpolizisten wegen Dienstvergehen mit dem Ziel der Abschreckung zu inszenieren. Es wurden spezifische Teilöffentlichkeiten bestimmt, um die Beamten zu disziplinieren und gleichzeitig die Krisen des Regimes vor der Bevölkerung zu verheimlichen.

Insgesamt ist es dem Sammelband anzumerken, dass er aus zwei unterschiedlichen Tagungen hervorgegangen ist. Während sich ein Teil der Beiträge explizit damit auseinandersetzt, inwieweit sich Fragestellungen der Terrorismusforschung zurückverfolgen lassen, verbindet die anderen Beiträge nur die thematische Klammer der politischen Kriminalität. Aus der Perspektive der historischen Kriminalitätsforschung wirft diese Sammlung aktueller Arbeiten zur politischen Devianz die Frage auf, wie das Themenfeld künftig in die Kriminalitätsgeschichte integriert werden könnte. Wichtig wäre erstens, das Attribut „politisch“ historisch näher zu bestimmen. Die ältere Protestforschung etwa hatte bei der Unterscheidung zwischen sozialem und politischem Protest weitgehend unreflektiert die Etikettierung der zeitgenössischen Eliten übernommen.1 Die Versuche, Grenzen zwischen politischen und sozialen Zuschreibungen zu ziehen, müssen als Teil historischer Deutungskämpfe und sozialer Machtverteilungen verstanden werden. Zweitens müsste die Sonderstellung politischer Delinquenz stärker im Vergleich zur allgemeinen Kriminalität diskutiert werden. Auch diese Grenzen waren variabel oder wurden bewusst unterlaufen. Es erscheint fruchtbar, den Umgang mit politischer Devianz vor dem Hintergrund allgemeiner strafrechtlicher, kriminologischer oder polizeilicher Entwicklungen zu untersuchen. Es gibt viele offene Fragen, die neue Studien zur politischen Kriminalität anstoßen könnten. Ob die im Sammelband präsentierten Arbeiten den Anfang einer neuen epochenübergreifenden Themenkonjunktur „politischer Kriminalität“ markieren und an welche Forschungsrichtungen sich dieses Themenfeld in Zukunft anschließen wird, bleibt noch offen.

Anmerkung:
1 George Rudé, Paris and London in the Eighteenth Century. Studies in Popular Protest, London 1970; Eric Hobsbawm, Primitive Rebels. Studies in Archaic Forms of Social Movement in the 19th and 20th Centuries, Manchester 1971; Charles Tilly / Louisa A. Tilly / Richard Tilly, The Rebellious Century 1830–1930, Cambridge (MA) 1975; Heinrich Volkmann / Jürgen Bergmann (Hrsg.), Sozialer Protest. Studien zu traditioneller Resistenz und kollektiver Gewalt in Deutschland vom Vormärz bis zur Reichsgründung, Opladen 1984.