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Titel
Der erinnerte Halbmond: Islam und Nationalismus auf der Iberischen Halbinsel im 19. und 20. Jahrhundert.


Autor(en)
Hertel, Patricia
Reihe
Ordnungssysteme 40
Erschienen
München 2012: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hedwig Herold-Schmidt, Bereich Volkskunde/Kulturgeschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die Iberische Halbinsel bildete, wie auch der Balkan, jahrhundertelang eine Zone intensiven Kontakts zwischen – als europäisch begriffenem – Christentum und – außereuropäisch konnotiertem – Islam. Dies hat vielfältige Spuren hinterlassen, durch Begegnung und Auseinandersetzung, Kooperation, Toleranz oder mehr oder weniger gleichgültiges Nebeneinander. Dadurch entstanden teils langlebige Vorstellungen, die im Laufe der Zeit vielfältige Veränderungen erfuhren. Über das „Spanien der drei Kulturen“, über die Koexistenz von Christen, Muslimen und Juden im spanischen Mittelalter und ihre Bedeutung für die weitere spanische Geschichte, ist viel gestritten worden. Während jedoch in Spanien noch im 20. Jahrhundert darüber eine heftige historiographische Kontroverse entbrannte, mit Fernwirkungen bis in die Gegenwart, spielten in Portugal unterschiedliche Deutungen der muslimischen Vergangenheit eine weitaus geringere Rolle.

Ausgehend von der Eigenschaft der Iberischen Halbinsel als fast achthundertjährige Kontaktzone mit dem Islam – begriffen als breite und fluktuierende Grenzzone, als „frontier“ – widmet sich Patricia Hertels Dissertation „Bedeutung und Funktionen des Islam in den Prozessen kultureller Nationsbildung im 19. und 20. Jahrhundert“ (S. 22) in Spanien und Portugal und fragt danach, wie die muslimische Präsenz in verschiedenen Phasen und von unterschiedlichen politischen Regimen konstruiert, erinnert und bewertet wurde. Dass der Islam Teil der iberischen Geschichte war, ließ sich nicht leugnen; umstritten blieb jedoch, wie diese Vergangenheit in das Selbstbild der katholischen Nationen Spanien und Portugal eingepasst werden konnte und welche Bedeutung ihr in den jeweiligen nation-building-Prozessen zukam. Die Rahmenbedingungen hierfür gestalteten sich durchaus unterschiedlich: Während sich in Spanien die Nationsbildung mit den peripheren Nationalismen, vor allem in Katalonien und dem Baskenland, konfrontiert sah und die Beschwörung eines gemeinsamen Feindes Islam als integrierende Klammer dienen konnte, gab es in Portugal keine solche Infragestellung der Nation. Dementsprechend trat in Spanien – wie im Laufe der Ausführungen überzeugend entwickelt wird – die religiös-ethnische Abgrenzung bei der Konstruktion der Ursprünge der Nation, in Portugal die politisch-territoriale Willensentscheidung in den Vordergrund.

In der Frühen Neuzeit war ein Feindbild „Islam“ entstanden, das sowohl die frühneuzeitliche Historiographie als auch literarische Werke, besonders eindrucksvoll Cervantes Don Quijote und die Lusiaden des Luiz de Camões, tradierten, welche im 19. Jahrhundert als „nationale Mythen“ überragende Bedeutung erlangten. Waren deren Islambilder trotz allem heterogen, ambivalent und in manchen Aspekten interpretationsoffen, setzten sich im 19. und 20. Jahrhundert an den Bedürfnissen der Zeit orientierte Interpretationen durch. So „erfand“ die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts etwa den „politische(n) Mythos einer angeblichen reconquista“ (S. 22), die die „Rückeroberung“ der Halbinsel als zielgerichtete und abgestimmte Politik aller christlichen Herrscher betrachtete, oder der Franquismus das Konzept eines „spanischen Islam“, das die Tatsache erklären sollte, dass sich die Aufständischen im Bürgerkrieg marokkanischer Truppen bedienten.

Die auf gedruckten Quellen (und teils Bildmaterial) basierende Studie orientiert sich an den ideen- und kulturgeschichtlichen Ansätzen der neueren Nationalismusforschung, setzt aber unter anderem dadurch eigene Akzente, dass sie das 20. gegenüber dem üblicherweise intensiv behandelten 19. Jahrhundert ebenfalls ausführlich berücksichtigt. Durch unterschiedliche Quellengattungen und Zugriffe werden „signifikante räumliche und chronologische Ausschnitte exemplarisch“ untersucht (S. 28–30).

In diesem Sinne thematisiert das zweite Kapitel auf der Grundlage historiographischer Werke, erschienen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Errichtung der Diktaturen in den 1930er-Jahren, das Bild des Islam als Gegner im Mittelalter. Damit wurde immer auch die Frage nach den Ursprüngen der Nation gestellt, deren Beantwortung in Zeiten politscher Umbrüche und Unsicherheit Orientierung für die Zeitgenossen anbieten sollte. Die heterogenen Entwürfe in Spanien konnten die reconquista entweder als religiöses oder nationales Unternehmen akzentuieren; intensiv diskutiert wurde dabei die Frage nach dem „Wesen Spaniens“ und seinem Verhältnis zu Europa, ganz besonders im Regenerationismus nach 1898. Zudem waren der „Maure“ und damit der Islam durch den Kolonialkrieg im Marokko ständig präsent. In der portugiesischen Historiographie hingegen war die jahrhundertealte Gegnerschaft zu Kastilien/Spanien von weitaus größerer Bedeutung als das Feindbild Islam. Es kam allerdings in keinem der beiden Staaten zu einer chronologisch linearen Entwicklung hin zu positiveren Urteilen, etwa im Sinne einer Akzentverschiebung vom religiösen Feind zu den kulturell-zivilisatorischen Leistungen der Muslime.

Das dritte Kapitel behandelt den Islam als Gegenstand der Wissenschaft und untersucht zum einen die Institutionalisierung der universitären Arabistik mit ihren Geschichts- und Islambildern. Zum anderen geht es um die Interpretationen von Konservatoren, Restauratoren, Archäologen und (Lokal-)historikern, die am Beispiel des Umgangs mit der maurischen Architektur aufgezeigt werden. Da sich die Arabistik in Portugal erst erheblich später als in Spanien etablieren konnte und man auch die muslimische Vergangenheit vergleichsweise spät „entdeckte“, wurden hier unterschiedliche Untersuchungszeiträume gewählt: Für Spanien das 20. Jahrhundert bis zum Bürgerkrieg, für Portugal: Republik und Diktatur 1910–1974. Dabei benutzte man die kulturellen Leistungen der muslimischen Zeit mitunter auch dazu, die schwache politische Stellung unter den europäischen Mächten der Gegenwart zu kompensieren.

Im darauf folgenden Abschnitt über den Islam in den Kolonien (Marokko bis 1956, portugiesisches Afrika bis 1974) kann die Autorin aufgrund der Analyse einschlägiger Diskurse in Politik, Militär und Kirche nachweisen, dass beide Diktaturen den Islam zu bestimmten Zeiten aufwerteten. Im franquistischen Spanien, für dessen Sieg im Bürgerkrieg Marokko und die marokkanischen Truppen eine Schlüsselrolle spielten, griff man auf das Konzept eines „spanischen Islam“ zurück und betonte Jahrhunderte alte Gemeinsamkeiten, während der republikanische Gegner stereotyp am traditionellen Feindbild in Schrift und Bild festhielt. Das Portugal Salazars ging erst in der Krise der afrikanischen Kolonien in den 1960er-Jahren zu positiveren Wertungen über.

Angesichts der Konzentration dieser Diskurse auf die schmalen Bildungseliten stellt sich die Frage nach der sozialen Reichweite dieser Vorstellungen und den Mechanismen und Strategien ihrer Propagierung. Im fünften Kapitel wird dies „von der Intention ihrer Produzenten […] nicht von der Rezeption her“ (S. 30) angegangen und für das 20. Jahrhundert zum einen öffentlichkeitswirksame Inszenierungen nationaler Mythen in Jubiläen, zum anderen die Darstellung in Schulbüchern untersucht. Während in Spanien die Erinnerung an die reconquista etwa bei den Centenarfeiern der Schlachten von Las Navas de Tolosa (1912) und Covadonga (1918) in den Krisenjahren Orientierung geben und integrierend wirken sollte, betonte der Salazarismus in den Jubiläumsjahren 1940 (1140: „Geburt der Nation“; Wiedererlangung der Unabhängigkeit von Spanien 1640) und 1947 (1147 Eroberung Lissabons) mit der imperialen Größe des Landes in der Frühen Neuzeit die koloniale Tradition als Seemacht und den erfolgreichen Widerstand gegen den Konkurrenten Kastilien.

Der Vermittlung von Geschichtsbildern mittels Schulbildung waren infolge der Entwicklung des Bildungssystems und des Alphabetisierungsgrads auf der Iberischen Halbinsel engere Grenzen gesetzt als in großen Teilen des übrigen Europa. Politisch unterschiedlich akzentuierte nationalistische Aufladungen des Islambilds wurden in spanischen Schulbüchern erst ab der Jahrhundertwende intensiver thematisiert – mit deutlicher Zunahme von Informationen über die maurischen Jahrhunderte bei liberalen Autoren; mit dem Franquismus setzte sich das „konservative Narrativ der intrinsischen Katholizität Spaniens durch und verleibte diesen gleichzeitig die kulturellen islamischen Leistungen ein“ (S. 177).

Um die Reichweite tiefer auszuloten und die Frage nach der Imagination des islamischen Anderen und dessen Bedeutung für die Stabilisierung lokaler Identitäten zu klären, werden im letzten Kapitel („Der Islam als folkloristische Figur“) jährlich begangene, lokale Feste in den Blick genommen. Dazu untersucht die Autorin die moros y cristianos-Feste in der spanischen Levante sowie verschiedene ländliche Feste in (Nord-)Portugal. Der portugiesische Begriff des „mouro“ wie auch die damit verbundenen Feste haben dort allerdings weitergehende mythologische Bedeutungen als Bestandteil traditionellen Brauchtums als in Spanien; die ländlichen Inszenierungen sind zudem in der Gegenwart – anders als im Nachbarland – vom Verschwinden bedroht.

So füllt die auf sprachlich hohem Niveau und auf breiter Quellen- und Literaturbasis stets stringent argumentierende Studie eine wichtige Forschungslücke, indem sie durch Verbindung mehrerer kulturgeschichtlicher Forschungsfelder und -zugänge wertvolle Einsichten in Nationsbildungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen liefert: Übergreifend gilt dies für das Verhältnis von Nation und Religion, auf iberischer Ebene werden parallele und unterschiedliche Entwicklungen herausgearbeitet (wobei wohl die Unterschiede überwiegen), und innerhalb der beiden Vergleichsobjekte wiederum Inklusion und Exklusion, Kontinuitäten und Brüche in historischen Erzählungen untersucht – vor dem Hintergrund der großen Auseinandersetzungen der letzten beiden Jahrhunderte: zwischen Liberalismus und Konservativismus sowie Diktatur und Demokratie.

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