T. Pinheiro u.a. (Hrsg.): Ideas of/ for Europe

Cover
Titel
Ideas of/ for Europe. An Interdisciplinary Approach to European Identity


Herausgeber
Pinheiro, Teresa; Franco, José Eduardo; Cieszynska, Beata
Erschienen
Frankfurt am Main 2012: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
724 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ariane Brill, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Spätestens seit dem Vertrag von Maastricht ist die Frage nach der Existenz einer europäischen Identität ein bedeutender Bestandteil der historischen und sozialwissenschaftlichen Europaforschung. Der Fundus an zahlreichen, seit den 1990er-Jahren erschienenen Studien wird nun durch den von Teresa Pinheiro, Beata Cieszynska und José Eduardo Franco herausgegebenen, interdisziplinären Sammelband „Ideas of / for Europe“ erweitert. Der Titel und die darin veröffentlichten Beiträge gehen auf eine im Mai 2009 in Chemnitz veranstaltete Tagung zurück, an der Soziologen, Politikwissenschaftler, Historiker und Literaturwissenschaftler aus der ganzen Welt teilnahmen. Dementsprechend breit ist auch das thematische Spektrum der daraus resultierenden Publikation. Insgesamt 50 Artikel, verteilt auf sechs verschiedene Sektionen, befassen sich mit Europadiskursen in ihren verschiedenen politischen und historischen Kontexten sowie aus einer Vielzahl an Blickwinkeln: 1. Europaideen aus historischer Sicht, 2. Europaideen aus Sicht der Peripherien, 3. europäische Identität, 4. europäisches Gedächtnis, 5. außereuropäische Blicke und 6. Zukunftsaussichten Europas, die sich unter anderem auf Gedanken zur Überwindung gegenwärtiger Krisen beziehen.

„Europa“ wird von den Autoren als geistige Idee definiert, die sowohl auf essentialistische als auch auf konstruktivistische Weise begriffen werden kann. So wird einerseits von einem Europa ausgegangen, dass sich durch eine bereits existierende Natur und Identität auszeichnet, andererseits wird Europa als ein Projekt angesehen, dessen Verwirklichung noch nicht abgeschlossen ist. Der Großteil der Beiträge verfolgt einen philosophischen Ansatz und stützt sich auf Vorstellungen von Wissenschaftlern, Schriftstellern und politischen Akteuren.

Zeitlich beschränken sich die Artikel nicht nur auf die jüngste Zeit oder das 20. Jahrhundert, sondern blicken mitunter auf eine lange europäische Geschichte zurück. Dies trifft vor allem für den ersten Teil des Bandes zu, der sich historischen Annäherungen an vorwiegend intellektuelle Europaideen zuwendet – von der Antike über die Aufklärung und Moderne bis in die jüngste Zeit. Dass spezielle Ideen und Definitionen von Europa über die Jahrtausende immer wieder neu geformt wurden, zeigt Hiram Kümper, der den Gebrauch des Ausdrucks „Altes Europa“ nachzeichnet, welcher im Jahr 2003 durch Donald Rumsfelds Äußerungen über Deutschland und Frankreich seine Wiedergeburt im öffentlichen Diskurs feierte (S. 161–172).

Die Vielzahl internationaler Autoren markiert eine Stärke des Sammelbandes, die insbesondere in den Sektionen über die Sicht der europäischen Peripherie und der Außenperspektive erkennbar wird. Neben Beiträgen zu Europavorstellungen, die in der Literatur ehemaliger Ostblockstaaten konstruiert wurden, lenkt der zweite Teil des Bandes den Fokus auf die südlichen Randstaaten Portugal, Spanien, Griechenland sowie auf die Türkei. Die Artikel von José Eduardo Franco/Teresa Pinheiro (S. 231–249) und Micaela Ramon (S. 251–259) zeigen auf, dass sowohl bereits das Europa des 16. Jahrhunderts als auch die europäische Einigung nach 1945 in den oftmals als peripher wahrgenommenen Staaten Süd- und Osteuropas als Referenzpunkte galten, die die nationale Selbstwahrnehmung beeinflussten. Ramon verweist in diesem Kontext auf den Wandel des portugiesischen Images, der sich nach dem Zusammenbruch der Militärdiktatur aufgrund der Aufnahme außereuropäischer Migranten sowie der Mitgliedschaft in der EU vollzogen hat: Portugal entwickelte sich von einem armen, rückständigen Land, dessen Einwohner sich auf eine jahrhundertealte, durch Sprache und Tradition geprägte Identität beriefen, zu einer multikulturellen und global aufgeschlossenen Gesellschaft (S. 251). Diese Wahrnehmung, so argumentiert Roman, fand sich auch in Novellen portugiesischer Schriftsteller wieder. Diese fiktionalen Texte zeichneten ein realistisches Bild der „alten Nation“ Portugal, die sich durch die Adaption europäischer Werte wie Toleranz und Offenheit erneuert habe (S. 259). Die Artikel über Spanien (S. 261–270) und die Türkei (S. 285–302) befassen sich hingegen nicht mit intellektuellen, sondern vor allem mit politischen Europavorstellungen beider Staaten. Insbesondere im Fall der Türkei ist es dabei bedauerlich, dass sich der Autor nur auf aktuelle Debatten zum türkischen EU-Beitritt beschränkt. Gerade bei dem Grenzland zwischen Europa und Asien hätte die Einbeziehung literarischer Quellen neue Impulse geben können. Genauso wäre es von Vorteil gewesen, einen breiteren Zeitraum abzudecken, um die Entwicklung türkischer Europawahrnehmungen nachzuzeichnen.

Im Themenkomplex über die außereuropäische Wahrnehmung stehen die Begegnung und sowie der Vergleich zwischen Europäern und den Bewohnern (ehemaliger) Kolonialstaaten im 20. Jahrhundert im Mittelpunkt. Christian Koller widmet sich in diesem Zusammenhang Erfahrungen, die afrikanische und indische Soldaten im Ersten Weltkrieg in Europa sammelten (S. 517–527). Er stellt auf der einen Seite die Unterlegenheitsgefühle der Kolonialsoldaten gegenüber der europäischen Modernität und Kultur heraus, auf der anderen Seite aber auch ihre Bereitschaft, sich so schnell wie möglich zu „europäisieren“. Europa sei für die afrikanischen und indischen Soldaten nicht weniger als ein Spiegel zur Herausbildung ihrer eigenen Identität gewesen, so Koller (S. 526). Darüber hinaus verweist der Beitrag von János Riesz „Europe as Seen from Africa“ (S. 505–516) auf eine doppelte Dimension, die sich in den 1930er-Jahren herausgebildet habe: Erstens die seit Jahrhunderten vorhandene Reaktionen der Kolonialstaaten auf fremde „Eindringlinge“, zweitens das in den 1930er-Jahren herangewachsenes Interesse europäischer Wissenschaftler und Literaten an Europavorstellungen der „Anderen“ (S. 508).

Der Sammelband kann durch die außergewöhnlich hohe Artikelanzahl zwar eine große thematische Bandbreite vorweisen, jedoch führt diese Quantität auch zu einigen Schwächen. Dies liegt in erster Linie an der Tatsache, dass die veröffentlichten Texte auf Tagungsbeiträgen beruhen, die offensichtlich kaum für die Publikation bearbeitet wurden. Die meist nur wenige Seiten umfassenden Abhandlungen bleiben mitunter sehr überblicksartig und wenig quellenfundiert, weswegen eine geringere Anzahl an ausführlicher ausgearbeiteten Texten wünschenswert gewesen wäre. Besonders die Sektionen zur historischen Annäherung und zur europäischen Identität hätten zugunsten origineller Beiträge über die außer- und innereuropäische Wahrnehmung kürzer gehalten werden können.

Dennoch bietet der Sammelband interessante und erweiterte Kenntnisse zur Bestimmung „Europas“, die sich aus vielschichtigen Konzepten, Ideen und globalen wie europäischen Blickwinkeln zusammensetzen.

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