N. Kollmann: Crime and Punishment in Early Modern Russia

Cover
Titel
Crime and Punishment in Early Modern Russia.


Autor(en)
Kollmann, Nancy
Reihe
New Studies in European History
Erschienen
Anzahl Seiten
XVI, 488 S.
Preis
£ 70.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Malte Griesse, Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“, Universität Konstanz

In ihrem neuen Buch untersucht Nancy Kollmann die Rechts- und Strafpraxis im frühneuzeitlichen Russland. Dabei wählt sie eine breit vergleichende Perspektive, die Russland im Rahmen von Gesamteuropa verortet. So setzt sie sich dezidiert von der immer noch häufig anzutreffenden Prämisse ab, das Moskauer Reich habe sich fundamental vom Rest Europas unterschieden.1 Die Annahmen von der russischen Anomalie führt sie auf zeitgenössische Berichte aus dem Westen zurück, deren Autoren in dem fernen Land vor allem einen Hort von Barbarei erblickten, was ihnen die Möglichkeit gab, sich selbst und die eigene Kultur in einem positiveren Lichte erscheinen zu lassen. So schrieben sie dem Volk rohe Sitten und einen besonderen Hang zu Kriminalität und Gewalt zu, und – mehr oder weniger als Pendant – der Regierung Despotismus. Vor allem letzteres korrelierte mit der autokratischen Selbstdarstellung der Zarenmacht – und dürfte ähnlich weit von den sozialen Realitäten im Land entfernt gewesen sein wie die Selbstinszenierungen absolutistischer Herrscher in Westeuropa von den dortigen Lebenswirklichkeiten. Für die Frühneuzeitforschung zu Russland spielen die Ausländerberichte aufgrund der vergleichsweise dünnen autochthonen Quellendecke nach wie vor eine wichtige Rolle – und auch Kollmann greift großzügig darauf zurück.

Sie kann die stereotypenanfälligen Berichte jedoch mit einer breiten Überlieferung von Gesetzestexten und – für die Rechtspraxis noch viel relevanter – gerichtlichen Prozessakten flankieren. Gerichtsakten mit Verhörprotokollen sind allerdings erst ab dem 17. Jahrhundert erhalten, eine Zeit, die damit auch das chronologische Zentrum der Studie bildet. Hier nimmt sie die Gerichtsakten für Beloosero und Arsamas als regionale Sonden, die sie allerdings um eine große Materialfülle auch aus anderen Regionen ergänzt, wobei sie neben den Quelleneditionen auch zusätzliche unveröffentlichte Archivdokumente heranzieht. Insgesamt nimmt Kollmann aber einen sehr viel größeren Gesamtzeitraum in den Blick, der vom langen 16. Jahrhundert, beginnend mit der Einverleibung Novgorods in den Machtbereich Moskaus (1470), bis weit ins 18. Jahrhundert reicht – eine Zeit, die sie vor allem im Zeichen staatlicher Zentralisierungsbemühungen betrachtet und so in Strukturprozesse einordnet, die für die gesamteuropäische Ebene Geltung haben.

Kollmann teilt ihre Arbeit in zwei große Blöcke. Im ersten Teil, den sie mit „Juridical culture“ betitelt, untersucht sie das Strafrecht mit seinen Institutionen, Personal und Prozedere; im zweiten Teil geht es ihr vor allem um die Strafpraxis, von Geld- über unterschiedliche Körper- bis hin zu Kapitalstrafen und deren konkreter Anwendung bei unterschiedlichen Arten von Verbrechen, vom minderen Delikt über Schwerverbrechen und Totschlag bis hin zu Verrat, Häresie, Hexerei und Rebellion. Auch wenn es keine gelehrte Jurisprudenz wie in westlichen Ländern mit ihren Universitäten gab und terminologisch weder klar zwischen Zivil- und Strafrecht, noch zwischen akkusatorischem und inquisitorischem Prozess unterschieden wurde, bildeten sich solche Differenzierungen in der Rechtspraxis und teilweise in personellen Zuständigkeiten ab. Die für den größten Teil Europas geltende Entwicklung hin zum inquisitorischen Verfahren zeichnet sich ähnlich auch in den Moskauer Gerichtsakten ab. Dabei verlagerte sich die Position des Anklägers weg vom Geschädigten selbst hin zur Justiz als Verfechterin der Interessen des Staates und der öffentlichen Ordnung – und es kam zu vermehrtem Einsatz von Folter als maßgeblichem Instrument der Wahrheitsfindung. Insofern bestätigt diese Entwicklung den Trend zur Zentralisierung und zur Errichtung eines staatlichen Gewaltmonopols. Allerdings zeigt Kollmann an zahlreichen Beispielen, wie sehr dieser Trend durch lokale Praxis und reale richterliche Handlungsspielräume konterkariert wurde, was nicht nur Raum für Bestechung und Korruption bot, sondern auch für Anpassung an lokale Gegebenheiten (vor allem an die Belange ethnisch-religiös differenter Lebenswelten, die in ihrer Vielfalt weitgehend bestehen bleiben konnten) und pragmatische Konfliktregelung. Die teilweise recht weiten lokalen Handlungsspielräume waren aber nicht einfach nur einem Mangel an Durchsetzungskraft der Zentralgewalt geschuldet, sondern schienen vielfach vom Zentrum sogar gefördert zu werden. So waren die zentralen Anweisungen häufig vage gehalten. Darüber hinaus blieben die rechtlichen Referenzrahmen disparat. Auch der Gesetzeskodex (Uloschenije) von 1649, mit dem im Zuge der Moskauer Städteaufstände erstmals eine umfassende Kompilation geltenden Rechts und eine gewisse, wenn auch in vielem unsystematische, Vereinheitlichung vorgenommen wurde, machte mit der bestehenden Heterogenität nicht Schluss. Ein ganzer Wust von Dekreten, die in der Folge das Uloschenije ergänzen und korrigieren sollten – auch Peter I. regierte und reformierte weitgehend auf der Basis von Dekreten –, leitete man im Prinzip zwar an die regional verantwortlichen Stellen, aber sie wurden anders als das Uloschenije nicht in hoher Auflage gedruckt, so dass in vielen Fällen unklar ist, ob die Verantwortlichen überhaupt von ihnen Kenntnis hatten. Vor allem arbeitet Kollmann eine Besonderheit der russischen Rechtsprechung und Strafpraxis heraus, nämlich den Vorzug unverzüglicher Vollstreckung von Todesurteilen vor durchgestylter symbolischer Inszenierung, wie sie uns aus dem „Theater der Schreckens“ geläufig ist.2 Insofern sollten lokale Stellen Todesstrafen schnell vollstrecken, um die Durchschlagskraft der Staatsmacht zu demonstrieren. Häufig wurde nicht einmal genügend Zeit für Reue und Buße sowie für priesterliche Begleitung gelassen. Auf der Ebene des Verhältnisses zwischen Zentrum und Peripherie bedeutete „schnell“ in erster Linie ohne Rücksprache mit dem Zentrum.

Zwar fanden symbolische Formen dabei durchaus ihren Platz, aber sie waren weniger ausgefeilt als in den westlicheren Ländern. Das änderte sich bei vielen Kategorien von Verbrechen auch in der Peter-Zeit nicht grundlegend, wohl aber im Hinblick auf Verrat und Rebellion. Wie in so vielen anderen Bereichen des Wandels und der Reformen lassen sich Anzeichen eines Paradigmenwechsels aber schon früher beobachten, besonders in der Reaktion auf den Rasin-Aufstand von 1670/71, wo die Vierteilung des Anführers und Zurschaustellung seiner abgetrennten Körperteile bereits mit langer Vorausplanung, ausgefeilter Dramaturgie und größtmöglicher Öffentlichkeit in Szene gesetzt wurden. Das beschreiben auch viele westliche Berichterstatter, die sich in der Zeit davor bezeichnenderweise über Hinrichtungen ausschweigen, ganz offenbar, weil sei kaum welche zu Gesicht bekommen haben.

Seinen Kulminationspunkt erreicht der Wandel in der Strafpraxis sicherlich mit den Massenhinrichtungen aufständischer Strelitzen 1698/99 in Moskau. Hier argumentiert Kollmann mit Peters Erfahrungen auf seiner Großen Gesandtschaftsreise. Nicht nur Schiffbau habe er sich bei den Niederländern abgeschaut, sondern auch die Grundregeln westeuropäischer Strafpraxis. Dass er in Amsterdam zu einem ausschweifenden Strafritual eingeladen wurde, ist quellenmäßig belegt, und niederländische Beschreibungen betonen die große Aufmerksamkeit, mit der der Zar die Ereignisse verfolgt haben soll. Auf seiner übereilten Rückreise nach Moskau habe Peter nun, so Kollmann, seine neuen Erfahrungen sofort umsetzen wollen und diese Umsetzung an den Strelitzen auch in eindrücklicher Weise durchexerziert. Die sorgfältig vorbereitete Massenhinrichtung blieb keine Eintagsfliege, wie es in der Folge eine ganze Reihe von weiteren Exekutionen wegen Hochverrats demonstrieren, die Kollmann zusammengetragen hat – besonders bekannt die Exekutionen der angeblichen Verschwörer im Prozess gegen Peters Sohn Alexei, den der Zar aufgrund seiner Flucht ins Ausland anstrengte und im Zuge dessen der Zarensohn einer öffentlichen Exekution nur deshalb entging, weil er (angeblich) im Gefängnis starb, kurz nachdem ihm die Todesstrafe verkündet worden war. (Ob eine Begnadigung in letzter Sekunde anvisiert war, lässt sich kaum ermitteln.)

Ähnlich erreichen die Verfolgungen von Altgläubigen und Häretikern erst unter Peter einen Wende- und Höhepunkt. Hier häufen sich die öffentlich inszenierten Todesstrafen, während die Praxis zuvor eigentlich immer primär auf Läuterung der Ketzer abzielte. Immer differenzierter wurden Strafen in ihrer ganzen Vielfalt eingesetzt. Insofern zeichnet Kollmann eine Art negative Dialektik der Aufklärung. Was Peter auf der Ebene der Rechtspraktiken vom Westen kopierte, seien gerade die gewesen – ausgefeilte Foltermethoden und brutalste Hinrichtungen mit größtmöglicher Öffentlichkeit –, die wir heute als besonders barbarisch und grausam empfinden. In Peters Augen standen sie dagegen für Fortschritt, Staatsräson und Gemeinwohl. Allerdings waren diese Praktiken auch für Westeuropäer noch vollkommen normal und selbstverständlich und blieben weitgehend unhinterfragt. Nur eine Handvoll Aufklärer übte mehr oder weniger grundsätzliche Kritik an der Folter, die aber vor allem die Zweckmäßigkeit der Institution zur Wahrheitsfindung in Frage stellte.

Insgesamt ging man aber selbst unter Peter mit der Todesstrafe vergleichsweise sparsam um, ein Trend, der sich ebenfalls schon in den vorangegangenen Jahrzehnten abzeichnete. Das hing nicht zuletzt mit ökonomischen Überlegungen zusammen. Nicht nur litt das Land ohnehin schon an chronischem Bevölkerungsdefizit, auch brachte die Expansion in den Osten erhebliche neue Aufgaben mit sich, die nicht zuletzt im 17. Jahrhundert mit einem Ausbau des Exilsystems angegangen wurden. Verbannung ins Exil (vor allem nach Sibirien) wurde zur regulären Strafform. Das hatte maßgeblichen Einfluss auf die Ahndung von Schwerverbrechen. Immer mehr ging man von der Vollstreckung der Todesstrafe ab und verlagerte sich darauf, die Angeklagten zur Strafarbeit nach Sibirien zu schicken. Ähnliches gilt für die Praxis der körperlichen Verstümmelung, die man durch Stigmatisierungen ersetzte, um die Arbeitsfähigkeit der Exilierten zu erhalten, bei maximaler Erkennbarkeit und Kontrolle.

Die großen Aufstände des 17. Jahrhunderts untersucht Kollmann in erster Linie im Hinblick auf die staatlichen Sanktionsmaßnahmen. Aber sie weist auch darauf hin, wie sehr sich in den Praktiken der Aufständischen selbst Muster staatlicher Strafrituale wiederspiegeln und bemüht dafür E.P. Thompsons Konzept der „moral economy“. Populärer Widerstand artikuliert sich meist im Namen des Herrschers selbst.3 Kollmann unterstreicht, dass die Akteure des Protests immer eine persönliche Verbindung zum Zaren gesucht und auf das alte Petitionsrecht rekurriert hätten, auch wenn das im Uloschenije von 1649 faktisch abgeschafft wurde. Die weitgehende Amnestie nach Unterdrückung eines Aufstands bei vergleichsweise wenigen Kapitalstrafen, die exemplarisch an realen oder vermeintlichen „Rädelsführern“ vollstreckt wurden, zeige an, dass der Zar die moralische Ökonomie der Bevölkerung letztlich anerkannt habe, bis Peter ein abstrakteres Modell bürokratischer Herrschaft eingeführt habe, innerhalb dessen für die alte Petitionsrhetorik kein Platz mehr gewesen sei.

Allerdings sprechen die Ereignisse eine etwas andere Sprache: Konzessionen machte die Regierung nur in ärgster Bedrängnis, so beispielsweise Zar Alexei Michailovitsch 1648, als die aufständische Menge in den Kreml eindrang und die Herausgabe und Hinrichtung mehrerer korrupter hoher Würdenträger einforderte (und teilweise auch durchsetzen konnte). Mit der Bestrafung von Rädelsführern im Nachspiel wurden zuvor in der Not gemachte Zusicherungen ostentativ gebrochen, offenbar um den Aufständischen jedwede Legitimität abzusprechen. Dass man nicht mehr Beteiligte hinrichtete, war wohl eher dem Kalkül geschuldet, dass man damit Verzweiflung gesät und so ein Wiederaufleben des Widerstands provoziert hätte.

Das große Verdienst von Kollmanns Arbeit ist ihr Fokus auf Rechts- und Strafpraktiken, die sie mit einer außerordentlichen Materialfülle dokumentiert, um auf diese Weise größere Entwicklungstrends und Kontinuitäten in der Herrschaftspraxis des frühneuzeitlichen Moskauer und Petersburger Staates abzubilden. Damit knüpft sie an die Arbeiten von Christoph Schmidt zu Kriminalität und Sozialkontrolle in Moskau, sowie vor allem an die besonders materialreiche und ebenfalls in einen breiten europäischen Vergleich eingebettete Arbeit von Angela Rustemeyer zum Majestätsverbrechen im frühneuzeitlichen Russland an.4 Hinsichtlich der Materialdichte wäre manchmal weniger sicherlich auch mehr gewesen, denn als Leser kann man sich bisweilen in der Vielzahl der Beispielfälle verlieren, die teilweise so kurz und holzschnittartig umrissen werden, dass sich kein wirkliches Gesamtbild erschließt. Aber das liegt zum Teil sicherlich an der lakonischen Art der Gerichtsakten selbst. Trotzdem tauchen manchmal Einzelkonstellationen in anderen Kapiteln aus veränderter Perspektive erneut auf, so dass man die Mosaiksteine mit etwas Mühe zu einem kompletteren Bild eines Falles zusammensetzen könnte. Aber es ist die Mühe wert und das Buch sei nicht nur Russland-Historikern empfohlen, sondern auch allen, die sich für Kriminalitäts-, Polizei- und Rechtsgeschichte in der Frühen Neuzeit insgesamt interessieren.

Anmerkungen:
1 Diese These von der Andersartigkeit Russlands und der despotischen Natur seines Regimes vertritt heute z.B. Marshall Poe, The Truth about Mucovy, in: Kritika: Exploration in Russian and Eurasian History 3.3 (2002), S. 473–486, der sich dezidiert gegen die „Harvard School“ und ihre Einebnung von Differenzen zwischen Rußland und Resteuropa wendet. Zur „Harvard School“ rechnet er die Schüler Edward Keenans, auch Nancy Kollmann.
2 Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 2010 (1. Aufl., 12. Nachdruck); Richard van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtsrituale und Strafpraxis in der Frühen Neuzeit, München 1988.
3 Edward Palmer Thompson, The Moral Economy of the English Crowd in the 18th Century, in: Past and Present 50 (1971), S.76–136; Heinz-Dietrich Löwe, Volksaufstände in Rußland. Von der Zeit der Wirren bis zur „Grünen Revolution“ gegen die Sowjetherrschaft, Wiesbaden 2006.
4 Christoph Schmidt, Sozialkontrolle in Moskau. Justiz, Kriminalität und Leibeigenschaft 1649–1785. Stuttgart 1996.

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