Cover
Titel
Sexualisierte Gewalt 1500–1850. Plädoyer für eine historische Gewaltforschung


Autor(en)
Loetz, Francisca
Reihe
Campus Historische Studien
Erschienen
Frankfurt am Main 2012: Campus Verlag
Anzahl Seiten
249 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Kerstin Bischl, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Das Anliegen von Francisca Loetz überrascht. Trotz der Tatsache, dass die Gewaltforschung in der Geschichtsschreibung weitgehend etabliert ist, beginnt die Zürcher Historikerin noch einmal von ganz vorn. Ihr Buch über „Sexualisierte Gewalt 1500–1850“ im Stadtstaat Zürich ist auch ein „Plädoyer für eine historische Gewaltforschung“, so heißt es im Untertitel.

Die heuristische Begründung für ihr Plädoyer führt Loetz im ersten Teil des Buches aus. Hier entwickelt sie einen Gewaltbegriff, der weniger den physischen Akt selbst meint, sondern nach der Gesellschaft fragt, in der die Gewalt stattfindet. Denn „Gewalt ist, was eine Gesellschaft als Gewalt anerkennt“ (S. 18). Loetz argumentiert, dass ein solches Verständnis von Gewalt in Kombination mit den Sanktionen, mit denen der Täter belegt wird, aufzeigen könne, wie historische Subjekte ihrer Umwelt Bedeutung verliehen und was sie als (nicht-tolerierbare) Grenzverletzung des Körpers, eventuell auch der Seele ansahen. Ihr Gegenstand, die sexualisierte Gewalt in Zürich 1500 bis 1850, schließt zudem Fragen nach Geschlechter- und Alterskonzepten, nach Privatheit, Moral, Scham und Religion ein. Von den „spekulativen“ Fragen nach den Motiven der Täter wird hingegen abgesehen: Diese ließen sich nicht aus dem Quellenkorpus extrahieren, schließlich würden in den ausgewerteten Gerichtsakten lediglich „Bewertungen von Handlungen“ ausgetauscht und es würde auf das „soziale Wissen einer Gesellschaft und damit die in dieser Gesellschaft gültigen Normen“ verwiesen (S. 33, 35).

Diese Normen will Loetz im Hauptteil ihres Buches freilegen, ohne dass sie DIE eine These zur sexualisierten Gewalt in der Zürcher Frühen Neuzeit präsentiert, sondern viele unterschiedliche Aspekte des Gegenstands anspricht. Im ersten Kapitel verweist sie auf die zeitgenössischen Diskurse in Medizin, Recht und Theologie, die die untersuchten Gerichtsverfahren flankierten und das Phänomen der sexualisierten Gewalt wenig eindeutig klassifizierten. Trotz dieser Uneindeutigkeit übernimmt Loetz mit einigen Modifikationen die zeitgenössischen Begriffe: „Notzucht“ kennzeichnet bei ihr „illegitime, nicht tolerierte Formen penetrierender Sexualität“; „Missbrauch“ hingegen „illegitime, nicht tolerierte Formen nicht penetrierender Sexualität.“ In beiden Fällen sind „die sexuellen Übergriffe unter Anwendung physischer oder verbaler Gewalt, das heißt unter Androhung von Gewaltanwendung, gegen den Willen oder zumindest ohne Willen des erwachsenen oder unmündigen Opfers und damit in verletzender Form vollzogen“ worden (S. 43). Loetz fällt es schwer, die eigene, heuristisch sehr aufschlussreiche Gewaltdefinition widerspruchsfrei und konsequent durchzuhalten. Immer wieder tauchen Formulierungen wie die zitierte auf, in denen Gewalt nicht vorrangig das ist, was von der Gesellschaft als solche definiert wurde, sondern in denen durchscheint, dass Loetz mit „Gewalt“ auch ein Verhalten meint, das sich allein dadurch definiert, dass die Täter unter Zuhilfenahme ihrer physischen Kraft den Opfern ihren Willen aufzwingen.

Auch das zweite Kapitel des Hauptteils wendet sich dem setting zu, in dem die Gerichtsakten produziert wurden: Hier zeichnet Loetz nach, wie es im genannten Zeitraum überhaupt zu einem Verfahren wegen Notzucht und Missbrauch kam und welche Instanzen von Bedeutung waren. Sowohl in diesem, wie auch in den folgenden Kapiteln wird deutlich, dass Vieles in den Quellen im Dunkeln bleibt. So zum Beispiel, wer die Gerichtsverfahren in der Regel anstrebte oder wie viele Fälle sexualisierter Gewalt nicht gemeldet oder als andere Straftatbestände verhandelt wurden. Die wenigen verhandelten Fälle machen zudem eindeutige statistische Aussagen über Alter und soziale Position der Täter und Opfer unmöglich. Insgesamt waren die (gerichtlich belangten) Täter laut Loetz wohl Männer unter vierzig Jahren jedweder sozialer Couleur, die ihnen bekannte junge, unverheiratete Frauen bedrängten.

In den weiteren Kapiteln fragt Loetz nach den Vorstellungen über Frauen, Männer und Kinder, die in den Akten artikuliert werden, und wie die „Zeitgenossen das Kräfteverhältnis [zwischen Opfer und Täter, kb] einschätzten“ (S. 69). Mit einem selektiven Zugriff auf die Quellen verweist sie auf eine ‚offizielle‘ Erwartungshaltung, die davon ausging, dass sich Frauen der Übergriffe hätten widersetzen können, auch wenn sie als physisch schwächer galten. Ansonsten wurden sie zu Mitverantwortlichen im Tatbestand der „Unzucht“. Für Loetz wird auf diese Weise deutlich, wie gefährdet die Ehre einer Frau war: Selbst „versuchte Notzucht“ konnte einen Ehrverlust für sie und ihre Familie bedeuten, den es durch die Anzeige bei Gericht wieder einzuklagen galt. Schließlich war es ihre „Ehre“, die über „Heiratswert“ und den gesellschaftlichen Status der Frauen (und ihrer Familie) entschied (S. 72ff.). Aufschlussreich am Tatbestand der Ehre ist weiterhin, dass auch die beklagten Männer sich auf ihn beriefen, um die Rechtmäßigkeit ihres Verhaltens aufzuzeigen, beziehungsweise um den Leumund und die moralische Integrität der Betroffenen in Frage zu stellen. Relevant für die Verteidigungsstrategien waren Vorstellungen „natürlicher Sexualität“: Diese billigten Männern, die ihre Triebe nicht befriedigen konnten, zu, dass sie in Not gerieten und daher zu Übergriffen neigten.

Alle diese Argumentationsmuster und -strategien lassen sich auch im Umgang mit Fällen wiederfinden, in denen Kinder die Geschädigten waren. Auch sie mussten einen entsprechenden Leumund vorweisen oder konnten zur Mitverantwortung gezogen werden, so dass Loetz zu dem Ergebnis kommt, dass sie insgesamt wie Erwachsene vor Gericht behandelt wurden. Nichtsdestotrotz hatten es insbesondere Kinder schwer, sich in ihrem sozialen Umfeld Gehör zu verschaffen, wie Loetz an Fällen nachweist, in denen es Jahrzehnte dauerte, bis es zur Anzeige kam. Sie folgert, dass „Gerichtsverhandlungen wegen sexualisierter Gewalt mit einem hohen Verlustrisiko [für die geschädigten Frauen und deren Familien, kb] geknüpft waren“ und dass „Männer […] bessere Chancen hatten, auf die Kräftekonstellationen vor Gericht einzuwirken,“ so dass wohl viele Geschädigte vor einer Anzeige „zurückscheuten“ (S. 76f., 83).

Trotz der günstigeren Ausgangslange der Männer wurden diese in der Regel gerichtlich verurteilt, wie im Kapitel zum Prozessablauf und zur Urteilsfindung deutlich wird. Leider löst Loetz diese Widersprüchlichkeit nicht hinreichend auf, genauso wie sie nicht hinreichend erörtert, warum sexuelle Gewalt im Laufe der Zeit juristisch immer mehr zu einer „Beleidigung der öffentlichen Sicherheit“ und dennoch weiterhin als „Sünde“ aller Beteiligten gedacht wurde (S. 180, 190). Diese zweifache Deutung ist umso irritierender, wenn man in Betracht zieht, dass Loetz im Kapitel zum Thema „Körper“ argumentiert hatte, dass sexuelle Gewalt vor allem als Schädigung und Wertverlust des weiblichen Körpers galt. Nichtsdestotrotz ist ihre Einschätzung der Urteilspraxis als „präventive Sozialpolitik“ (S. 174) überzeugend, denn die Verurteilten hatten zusätzlich zur eigentlichen Strafe die Schädigung zu kompensieren und die Versorgung der Geschädigten sicherzustellen. Insgesamt pflegte das Gericht, wie Loetz ebenfalls plausibel darstellt, einen ambivalenten Umgang mit den Körpern der Geschädigten, da es diesen zwar als so schambehaftet ansah, dass er bereits durch illegitime Blicke entwürdigt werden konnte, im Zuge des Prozesses jedoch einen offenen Blick auf ihn forderte.

Im letzten Teil des Buches nimmt Francisca Loetz die verschiedenen Fäden ihres Hauptteils noch einmal auf. Sie diskutiert sie hinsichtlich der Fragen, die sie in der Einleitung gestellt hat, sowie hinsichtlich von Problemen, die sich an die Quellenauswertung anschließen. Dabei verweist Loetz noch einmal auf den Erkenntniswert ihres Gewaltbegriffs, der insgesamt überzeugt, auch wenn Loetz ihn nicht immer konsequent anwendet. Es stellt sich gleichwohl die Frage, warum Loetz ihr Buch in zwei höchst unterschiedliche Teile geteilt hat – in die Ausführungen zu Gewalt und in die Quellenarbeit – zumal die Quellenarbeit neben überzeugenden Ausführungen auch Inkonsistenzen und Redundanzen aufweist. Da letztere aufgrund der thematischen Gliederung des Buches und der engen Quellenarbeit wohl unausweichlich sind, wäre es wünschenswert gewesen, wenn Loetz, die eine Spezialistin auf ihrem Gebiet ist, sich stärker von ihrem Quellenkorpus getrennt und vielmehr eine Geschichte der Geschlechterverhältnisse und der Scham sowie des juristischen Zugriffs anhand der sexualisierten Gewalt in Zürich 1500 bis 1850 erzählt hätte.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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