Titel
Geschichte Venedigs.


Autor(en)
Karsten, Arne
Reihe
Beck’sche Reihe 2756
Erschienen
München 2012: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
128 S.
Preis
€ 8,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bettina Pfotenhauer, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Deutschland scheint sich in einer neuen Venedig-Euphorie zu befinden: Das Interesse an der Geschichte und den Geschicken der Stadt boomt wieder. Die deutsche Medienlandschaft nimmt intensiv Anteil am Schicksal des an Benetton verkauften Fondaco dei Tedeschi, und Der Spiegel widmete der Stadt Anfang des Jahres eine Ausgabe seiner Geschichts-Hefte.1 Daneben stehen wissenschaftliche Publikationen, die auch ein breiteres Publikum ansprechen, wie Klaus Bergdolts „Deutsche in Venedig“2 und nun das Bändchen des Wuppertaler Historikers Arne Karsten zur „Geschichte Venedigs“ in der Reihe BeckWissen, eines Autors, der schon bei seiner „Kleinen Geschichte Venedigs“ 2008 gezeigt hat3, dass ihm die schwierige Aufgabe gelingt, inmitten der immensen Forschungsliteratur zu Venedig einen prägnanten Abriss über die Geschichte der Stadt zu liefern. Dabei ist es sein ausdrückliches Ziel, Venedig durch die Darstellung seiner Geschichte in seiner Faszination und Fragilität zu beschreiben und dem Leser – ob Wissenschaftler oder Laie (meist auch Venedig-Tourist) – die Besonderheit des Gebildes Venedig und die Gründe für seine Gefährdung zu vermitteln (S. 9).

Im Aufbau seiner Darstellung behält der Autor die klassische Epochengliederung zur Geschichte Venedigs bei und blickt dabei erfreulicherweise auch auf die Zeit nach dem Ende der Republik 1797. Er beginnt mit einer Übersicht vom Ursprung bis hin zum Aufstieg der Stadt zur bedeutenden Macht Südeuropas mit einem ersten Höhepunkt im Frieden von Venedig 1177 und im Vierten Kreuzzug 1204. Nach diesem ersten, ereignisgeschichtlichen Abriss schildert Karsten die „Glanzzeit“ der Republik (1204–1509) geschickt anhand einzelner zentraler Themen der Zeit, wie dem Handel als Grundlage für Reichtum und politische Macht der Stadt, der venezianischen Verfassung und ihrer Stilisierung zum Mythos oder der kulturellen Blüte. Es entsteht ein eindrückliches Bild der Bedeutung Venedigs im Spätmittelalter als einer politischen Großmacht, eines wirtschaftlichen „global players“ (S. 35) und eines mythisch überhöhten Kulturzentrums. Dagegen stellt der Verfasser im dritten Kapitel den Kontrast zwischen der herausragenden Stellung Venedigs als europäischem Kulturzentrum und dem gleichzeitigen politischen Niedergang heraus. Der differenzierten Darstellung der kritischen Situation um 1500 mit der Entdeckung neuer Handelswege und politischen Konflikten in Italien sowie der zunehmend existentiellen Auseinandersetzung mit den Osmanen steht ein ausführliches Kapitel zur Kunstentwicklung in Venedig gegenüber. Zur Verdeutlichung dieses Kontrastes ist die Expertise des Autors auf diesem seinem Fachgebiet sehr hilfreich. Eine ähnliche Ausführlichkeit bezüglich der künstlerisch-kulturellen Bedeutung des Sehnsuchtsorts Venedig um 1900 wäre auch für die Argumentation im letzten Kapitel, das die Zeit nach der Republik thematisiert, hilfreich gewesen. Zwar werden Figuren wie John Ruskin und Lord Byron erwähnt und die Symbolfigur der deutschen Venedig-Sehnsucht, Thomas Mann, sogar ausführlich zitiert. Doch beschränkt sich Karsten hierauf und lässt beispielsweise herausragende Maler wie Monet oder Turner unerwähnt, obwohl sie maßgeblich zum modernen Mythos Venedig beitrugen.4 Eine ausführlichere Darstellung hätte den Gegensatz zwischen der kulturellen Blüte und dem Verfall der Stadt im politischen Gewirr der Zeit ebenso stärker verdeutlicht wie jenen zwischen Venedig-Bild und Venedig-Realität, der sich bis in die Gegenwart fortsetzt: Der letzte Abschnitt, den der Autor treffend mit „Auf dem Weg nach Disneyland“ (S. 119) überschreibt und mit dem er den Leser ins Heute zurückführt, betont die Gefährdung des historisch gewachsenen Gebildes durch die zunehmende touristische Zurichtung Venedigs als Folge und gleichzeitig als negatives Gegenbild zur eingangs beschworenen Faszination.

Die Darstellung von Kontrasten dient Karsten dabei nicht nur als Methode, sondern stellt auch ein Leitmotiv seiner Darstellung dar. So ist es ihm ein Anliegen aufzuzeigen, wie sehr Venedig und seine Geschichte durch grundlegende Widersprüche und deren Austarieren geprägt wurden. Die Ausführungen stehen dabei im Zeichen des anfangs dargestellten Kontrastes zwischen den heutigen auf Venedig bezogenen Idealvorstellungen und seiner historischen Wirklichkeit. Doch auch in der Folge bemüht sich der Autor immer wieder, die Widersprüchlichkeiten venezianischer Geschichte als deren zentrale Charakteristika darzustellen, beispielsweise mit der Gegenüberstellung von Liberalität und Rücksichtslosigkeit als Momenten der venezianischen Blütezeit (S. 59). So gelingt es Karsten, die Ambivalenz Venedigs ebenso überzeugend darzulegen wie die eingangs von ihm beschworene „Irritation“ (S. 9), die die Stadt auslöse.

Das zweite große Leitthema bildet der Mythos Venedig, nach wie vor ein zentrales Paradigma der Forschung. Bereits die Einleitung stellt der Autor dabei ins Zeichen zweier zentraler Ausformungen dieses Mythos: der Schönheit und Faszination der Stadt sowie der historischen Wahrnehmung Venedigs als ideales Gemeinwesen.5 Dieser Mythos wird in seinen Erscheinungsformen und seiner Rezeption wiederholt eindrücklich beschrieben. So führt der Autor dem Leser beispielsweise die Wirkkraft seiner künstlerischen Verbreitung anhand des Barbari-Plan von 1500 auch bildlich vor Augen oder lässt ihn mit Gustav Aschenbach den morbiden Sehnsuchtsort des fin de siècle nachempfinden.

Der Autor richtet sich mit seiner Darstellung nicht nur an Historiker. Wiederholt gibt er nützliche Hinweise für Nichthistoriker, zum Beispiel über die Schwierigkeit von Zahlenangaben im Mittelalter oder zur Subjektivität von Geschichtsbildern. Eine große Stärke des Buches ist jedoch vor allem Karstens außerordentliches sprachliches Geschick. Die gelungene Argumentation wird durch prägnante Formulierungen vortrefflich unterstützt. So wird dem Leser die ganze Dramatik der gegenwärtigen Situation bewusst, wenn Karsten konstatiert, dass der „Verdrängungswettbewerb zwischen den Einheimischen und Touristen“ (S. 119) wohl zugunsten Letzterer entschieden sei. Dass so in Venedig eine Karnevalsmaske heute leichter zu finden sei als ein frisches Brot (S. 120), beschreibt aufs Treffendste den gegenwärtigen Konflikt zwischen den Bedürfnissen der Venezianer und den Wünschen des Tourismus.

Karsten gelingt es mit seiner informativen, aber knappen Darstellung, die von Venedig ausgehende Faszination nachvollziehbar zu machen. Dem an einem umfassenderen Einstieg Interessierten sei Karstens „Kleine Geschichte Venedigs“ ans Herz gelegt. Vor allem aber verdeutlicht der Autor diese Faszination, die durch reine Fakten nicht erklärbar ist, auch durch seine offensichtlich persönliche Sympathie für die Stadt Venedig, ihre Geschichte und ihre heutige Situation.

Anmerkungen:
1 Kia Vahland, Venedig zu verscherbeln. Konsumtempel in Italien, in: Süddeutsche Zeitung (2011), Nr. 275, 11; Spiegel Geschichte 3/2012: Venedig.
2 Klaus Bergdolt, Deutsche in Venedig. Von den Kaisern des Mittelalters bis zu Thomas Mann, Darmstadt 2011.
3 Arne Karsten, Kleine Geschichte Venedigs, München 2008; vgl. Georg Christ: Rezension zu: Karsten, Arne: Kleine Geschichte Venedigs. München 2008, in: H-Soz-u-Kult, 03.08.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-3-095> (23.11.2012).
4 Vergleiche hierzu die Ausstellung in der Fondation Beyeler 2008–09: Martin Schwander / Delia Ciuha (Hrsg.), Venedig. Von Canaletto und Turner bis Monet, Ostfildern 2008.
5 Franco Gaeta, Alcune considerazioni sul mito di Venezia, in: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance 23 (1961), S. 58–75.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension