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Titel
Theodor Heuss. Der Bürger als Präsident. Biographie


Autor(en)
Merseburger, Peter
Erschienen
Anzahl Seiten
672 S., 30 Abb.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ines Soldwisch, Historisches Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen

Theodor Heuss (1884–1963) gehört zweifelsohne zu den interessantesten Persönlichkeiten der deutschen Zeitgeschichte. Er hat die Umwälzungen zwischen der wilhelminischen Ära und der Etablierung der Bundesrepublik nicht nur aus national-demokratischer Sicht kommentierend begleitet, sondern als liberaler Politiker auch selbst zu prägen versucht. Lange blieb ein ausführliches Lebensbild dieses Mannes auf wissenschaftlicher Grundlage ein Desiderat. Nach der schmalen Heuss-Biografie des Historikers Ernst Wolfgang Becker1 ist nun die weit ausführlichere Lebensbeschreibung des Journalisten Peter Merseburger erschienen, der zuvor schon mehrere, vielbeachtete Biografien veröffentlichte, unter anderem über Willy Brandt und Rudolf Augstein.2

Für Kenner der Materie sei gleich angemerkt: Die Heuss-Biografie bietet keine neuen Erkenntnisse innerhalb der Forschung, ist aus vielerlei Gründen aber trotzdem lesenswert, denn sie ist stilistisch sicher und sorgfältig formuliert. Merseburger lässt seinen Protagonisten oft selbst zu Wort kommen, mit seinen Briefen (meist nach der „Stuttgarter Ausgabe“) und Tagebuchaufzeichnungen. Gleichzeitig schildert Merseburger das Leben und Wirken Heuss’ immer in einem ausführlichen Geflecht von Personen und Zeitgeschichte, das die tiefen Umbrüche in seinem Leben besser verstehen hilft. Zu betonen ist hier besonders die Beziehung zu seiner Ehefrau Elly Heuss-Knapp, die Zeit ihres gemeinsamen Lebens großen Einfluss ausübte, ohne ihre eigenen Ziele (Gründerin des Müttergenesungswerks) aus den Augen zu verlieren.

Merseburger schildert Heuss mit Recht als einen interessierten, wissbegierigen und kommunikativen Menschen, der sich intellektuell und politisch an für ihn wichtigen Männern seiner Zeit orientierte. Gleich im ersten Kapitel: „Die Legenden der 1848er Revolution. Eine Kindheit und Jugend im Schwäbischen“ betont Merseburger vor allem den prägenden Einfluss des Vaters auf das Denken und Leben Theodor Heuss’, der ihn mit den Traditionen der 1848er und der württembergischen Demokratie aufwachsen ließ. Ein Blick auf die Mutter wäre hier durchaus lohnend gewesen – sie spielte nicht selten den ausgleichenden und emotionalen Part zwischen den drei Söhnen und dem Vater Louis Heuss.

Als „Studiosus zwischen Politik, Kunst und Bohème in München“ (2. Kapitel) und als Redakteur bei Friedrich Naumanns „Hilfe“ (3. Kapitel) wurde der junge Heuss ein teils klassischer, teils unorthodoxer Bildungsbürger, der sich etwa neue Städte über deren Museen erschloss und den „frühe Bildungsreisen“ (S. 129) in verschiedene europäische Städte führten – ganz im Sinne des Vaters und des Mentors.

Friedrich Naumann wurde die prägende Person in seinem Leben; Heuss galt schnell als sein „junger Mann“ (S. 119). Dies öffnete Heuss viele Türen, nicht nur für seine spätere Arbeit als Geschäftsführer beim Deutschen Werkbund (S. 120ff.). Über Naumann baute sich Heuss ein Netzwerk von Personen auf, das ihn sein Leben lang intellektuell und politisch beeinflusste, das ihm aber auch beruflich weiterhalf, etwa bei seiner Tätigkeit für verschiedene liberale Zeitungen (Kapitel 3–5) und in seiner Funktion als Dozent an der Hochschule für Politik in Berlin (5. Kapitel). Dieses Netzwerk ermöglichte es ihm, ab 1924 Reichstagsabgeordneter der Deutschen Demokratischen Partei zu werden und sich als „Naumannianer“ und „Kulturpolitiker“ Anerkennung zu erarbeiten (6. Kapitel). Dieses Netzwerk fing ihn auch nach 1933 auf, selbst wenn es nicht ganz zutreffend ist, er habe die Jahre des Nationalsozialismus in der „inneren Emigration“ (Merseburger) durch das Schreiben von Biografien überstanden. Erstens waren diese Biografien – unter anderem über seinen Mentor Naumann, aber auch über den Industriellen Robert Bosch und den Architekten Hans Poelzig (7. Kapitel) – nur scheinbar unpolitisch. Und zum anderen war Heuss, obwohl ein „verbrannter Autor“, weiterhin journalistisch tätig, auf einem schmalen Grat zwischen Dissidenz und Anpassung.

Zuvor gab es „ein Ja, das aus der Lebensgeschichte nicht auszulöschen ist“, nämlich das Ja zum „Ermächtigungsgesetz“, welches Heuss Zeit seines Lebens innerlich belastete. Hier liefert Merseburger eine differenziertere Lesart, indem er Heuss’ eigene Position kritisch befragt, die dieser später in der Öffentlichkeit vertrat, etwa vor einem Landtags-Untersuchungsausschuss 1947. Gleichwohl betont Merseburger das Bemühen Heuss’, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegen das Vergessen der Diktatur einzutreten. Als „Journalist, Kultminister und Verfassungsvater“ (8. Kapitel; die Bezeichnung „Kultminister“ war eine baden-württembergische Besonderheit) wurde Heuss ein „Erzieher zur Demokratie“, der die demokratische Tradition der jungen Bundesrepublik als ihr Präsident (9. und 10. Kapitel) bis heute maßgeblich geprägt hat. Hier geht Merseburger unter anderem auf das nicht spannungsfreie, doch sehr respektvolle Verhältnis zwischen Heuss und Adenauer ein, die in ihrem Wesen und Habitus durchaus verschieden, für den Neubeginn der Bundesrepublik aber beide eminent wichtig waren. Merseburger zufolge sah Heuss sich mehr in der beratenden und erzieherischen Position, konnte aber bei Fragen, die sein Amt als Bundespräsident und dessen Ansehen und Funktion betrafen, durchaus zu einem widerspenstigen Partner werden, wie nicht nur Adenauer erkennen musste. Auch auf den Kurs der FDP, deren erster Vorsitzender er für kurze Zeit gewesen war, suchte Heuss als Bundespräsident weiterhin Einfluss zu nehmen.

In Merseburgers Biografie ist die bisherige Forschungsliteratur ebenso eingeflossen wie die umfangreichen publizierten Dokumente. Nicht berücksichtigt wurde Archivmaterial. Merseburger erscheint in seiner Analyse wie ein stiller Beobachter. Wertungen und Interpretationen überlässt er meist etablierten Heuss-Historikern wie Ernst Wolfgang Becker, Thomas Hertfelder, Jürgen C. Heß oder Jürgen Frölich. Das macht es schwierig, die Interpretation Merseburgers zu erkennen. Nur an wenigen Stellen, etwa bei der schon erwähnten Rechtfertigung Heuss’ bei der Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz, tritt der Biograf mit eigener Wertung in den Vordergrund.

Der Autor schreibt mit erkennbarer Sympathie für seinen Protagonisten, aber nicht hagiografisch. Herausgekommen ist ein anschauliches Lebensbild dieses bedeutenden Liberalen, das den vielen Facetten seiner Persönlichkeit, seinen Verdiensten und Schwächen durchaus gerecht wird. Zu betonen ist schließlich, dass alle Lebensphasen Heuss’ gleichrangig behandelt werden; somit ist die Biografie auch eine populäre Geschichte der Liberalen vom ausgehenden Kaiserreich bis in die 1960er-Jahre. Der Titel „Der Bürger als Präsident“ erweist sich nach der Lektüre des Buches als zutreffend für das Heuss-Bild Merseburgers, der sich damit der Interpretation Beckers in groben Zügen anschließt. Lässt man Fehler bei Namensnennungen und manche etwas deplatziert wirkende Verweise auf die heutige Zeit unberücksichtigt (etwa S. 133: Sport – Banker – Boni), kann diese Biografie uneingeschränkt zur Lektüre empfohlen werden.

Anmerkungen:
1 Ernst Wolfgang Becker, Theodor Heuss. Bürger im Zeitalter der Extreme, Stuttgart 2011 (siehe dazu meine Rezension, 28.2.2012: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-1-137> [8.2.2013]).
2 Peter Merseburger, Willy Brandt 1913–1992. Visionär und Realist, München 2002 (rezensiert von Siegfried Schwarz, 8.1.2003: <hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-1-009> [8.2.2013]); ders., Rudolf Augstein, München 2007 (rezensiert von Christoph Kleßmann, 28.2.2008: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-1-166> [8.2.2013]).