P. Stoffels: Wiederverwendung jüdischer Grabsteine im Spätmittelalter

Cover
Titel
Die Wiederverwendung jüdischer Grabsteine im spätmittelalterlichen Reich.


Autor(en)
Stoffels, Patrick
Reihe
Arye Maimon-Institut für Geschichte der Juden: Studien und Texte 5
Erschienen
Trier 2012: Kliomedia
Anzahl Seiten
228 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christine Magin, Arbeitsstelle Inschriften der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

Die hier zu besprechende materialreiche und gut disponierte Publikation unternimmt den erstmaligen Versuch, die situativen Kontexte jüdischer Grabsteine zu beschreiben, die bereits im späten Mittelalter wiederverwendet wurden, und auf dieser Basis eine Typologie von Verwendungsmöglichkeiten und -intentionen zu erstellen. Im Fokus liegt die Zeit zwischen den Judenverbrennungen während der Pestepidemie 1348/49 und dem Jahr 1519, in dem die Juden aus Rothenburg und Regensburg ausgewiesen wurden. Konkret lassen sich jüdische Grabsteine bzw. Grabsteinfragmente als Teile von städtischen Befestigungsanlagen, als Architekturteile in Kirchen, Rathäusern und Wohnbauten, gelegentlich auch als Grabplatten wiederfinden. Berühmt-berüchtigt und vielfach abgebildet ist etwa der im Jahr 1533 zum Abortsitz im Regensburger Rathaus umfunktionierte Grabstein für Gutel, Tochter des David, gestorben 1336/1337.

Das erste Kapitel befasst sich, nach einem Überblick über die Auflösung bzw. Zerstörung vieler mittelalterlicher Judenfriedhöfe und Synagogen, mit der Konzeption der Studie. Hier spricht der Autor das erste Mal einen Vorbehalt aus, den er im Folgenden mehrfach wiederholt und dem man als Leser/in nur beipflichten kann: Ohne schriftliche Quellen kommt man bei der Interpretation der Befunde „vielfach nicht über Vermutungen oder Hypothesen zu der Intention der Spoliennutzung hinaus“ (S. 19, vgl. S. 26, 33, 66, 73 und öfter).

Im zweiten Kapitel wird kundig der Forschungsstand zur christlichen Nachnutzung jüdischer Grabsteine, zur allgemeinen Wahrnehmung von (antiken) Spolien und zum Umgang mit enteigneten Synagogen referiert. Die genauen Beschreibungen der heutigen situativen Kontexte jüdischer Grabsteine in Kapitel vier, die in vielen Fällen durch Abbildungen ergänzt werden, lassen vermuten, dass der Autor sich der Mühe unterzogen hat, viele Steine in situ zu inspizieren. Darauf aufbauend entwickelt Stoffels in Kapitel fünf den „Versuch einer Typologie“ der Nachnutzung jüdischer Grabsteine: 1. die Wiederverwendung eines Steines, ohne seine Bedeutung als Zeugnis der jüdischen Kultur zu berücksichtigen; 2. die Wiederverwendung mit symbolisch-antijüdischer Intention; 3. die Rezeption der Grabsteine und ihrer Inschriften aus historisch-antiquarischem Interesse.

Fälle der dritten Kategorie sind nachvollziehbar zu klassifizieren, weil Autoren ihre diesbezüglichen Gedanken zu Papier bringen, so etwa im späten 15. Jahrhundert in Nürnberg der Baumeister Endres Tucher, in Ulm der Dominikaner Felix Fabri sowie schon vorher in Basel zur Zeit des Konzils Enea Silvio Piccolomini in seinen Beschreibungen der Stadt. Problematisch ist dagegen die Kategorisierung von Wiederverwendungsfällen, für die eine symbolisch-antijüdische Zielrichtung vermutet wird, deren Wirkungsabsicht jedoch nahezu ausnahmslos nur aufgrund des heutigen Bauzusammenhangs erschlossen, nicht aber durch schriftliche Nachrichten zweifelsfrei belegt werden kann. Auch hier keine Regel ohne Ausnahmen: Dieser Vorbehalt gilt beispielsweise nicht für viele Steine in Regensburg. Aus dieser Stadt wurden die Juden 1519 ausgewiesen, die Synagoge wurde abgebrochen, der jüdische Friedhof gezielt zerstört und sogar Tote ausgegraben. Zahlreiche Bewohner Regensburgs besorgten sich danach offenbar Grabsteine, mauerten sie gut sichtbar in ihre Wohnhäuser ein und ließen neue Inschriften anbringen, in denen explizit auf die gottgefällige Ausweisung der Juden hingewiesen wird. Es handelt sich also eindeutig um „Siegestrophäen“, wie Stoffels zutreffend schreibt.

In vielen weiteren Fällen der Zweitnutzung jüdischer Grabsteine zeigt sich jedoch, dass auch nach einer genauen Beschreibung des Kontexts andere Faktoren ungeklärt bleiben, die ebenfalls von Bedeutung wären, wollte man daraus auf eine bestimmte Verwendungsabsicht schließen. So wird beispielsweise davon ausgegangen, dass die große Entfernung, über die ein Grabstein von einem jüdischen Friedhof an den Ort seiner Zweitverwendung transportiert wurde, vermuten lässt, dass der Stein nicht nur aufgrund seines Materialwerts, sondern als Zeugnis der jüdischen Kultur eine Rolle spielte (S. 102–104). Um jedoch eine solche Vermutung untermauern zu können, müsste man letztlich auch wissen, vonwo das übrige, ‚reguläre‘ Baumaterial bezogen wurde, ob also die Distanz, die der jüdische Grabstein zurückgelegt hat, im Kontext des gesamten Bauvorgangs wirklich nur für dieses eine Bauelement zutrifft und nicht auch für viele andere Steine.

Von Bedeutung wäre auch die Berücksichtigung von Usancen der Grabmalkultur der christlichen Umwelt, so etwa die Tatsache, dass die geläufigste mittelalterliche Grabmalform die liegende Grabplatte war, wohingegen es sich bei jüdischen Grabsteinen um aufrecht stehende Denkmale handelt. Des Weiteren kam die Wiederverwendung und Neubeschriftung von Grabplatten auch im „innerchristlichen“ Bereich prinzipiell weithin vor, ja war in bestimmten Regionen (etwa Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen) geradezu die Regel. Auch im Süden des Reiches wurde dies nicht nur in Einzelfällen praktiziert.

Die soeben geschilderten Gegebenheiten bleiben indes außen vor, wenn etwa die Studie aus dem in Parchim im südlichen Mecklenburg als Türschwelle einer Kirche zweitverwendeten Grabstein folgert, er sei dort in der Absicht verlegt worden, das Judentum symbolisch mit Füßen zu treten. Mit Füßen getreten wurden jedoch alle zunächst im Kircheninneren waagerecht auf Grabstellen liegenden Grabplatten, die vielfach später auch als Türschwellen, Trittstufen et cetera wiederverwendet wurden. Es erscheint daher fraglich, ob man sich hinsichtlich der vermuteten „tiefer liegenden Intentionen“ im Hinblick auf den jüdischen Grabstein in Parchim auch nur auf einigermaßen sicherem Boden bewegt.

Ähnliches gilt für einen Stein in Attenhofen südöstlich von Ulm. Dieser war zunächst für das Grab des 1375 verstorbenen Isaak, Sohn des Joseph errichtet worden und wurde 1505 für den Pfarrer Lienhard Manz auf der Rückseite neu beschriftet. In diesem Zusammenhang wurde – wie bei Pfarrergrabplatten üblich – auch ein Kelchrelief als Zeichen seines geistlichen Standes angebracht. Nun ist nicht ausgeschlossen, dass der Pfarrer sich gezielt einen jüdischen Grabstein besorgte (oder der Stein nach seinem Tod für ihn beschafft wurde) und dass ebenso gezielt ein Kelch als Symbol für das Blut Jesu Christi, dessen Wirken nach christlicher Auffassung das Judentum überwunden hatte, eingemeißelt wurde. Nachweisen lässt sich eine solche Verwendungsabsicht jedoch nicht, zumal Stoffels selbst berichtet, die Pfarrei Attenhofen sei alles andere als wohlhabend gewesen, daher habe man sich wohl nach einem möglichst preiswerten Stein umgesehen. Ein pragmatisch-ökonomischer Hintergrund ist also ebenfalls denkbar.

Somit besteht in vielen in dieser Studie behandelten Fällen gerade vor dem Hintergrund der innerchristlichen Wiederverwendungspraxis von Grabplatten ein breiter Interpretationsspielraum, der eindeutige Zuordnungen wiederverwendeter jüdischer Grabsteine zur Kategorie „symbolisch-antijüdische Absicht“ nicht gestattet. Dies wird vom Autor wie bereits erwähnt selbst konzediert. Dass bekanntermaßen antijüdische Vorstellungen im 14. und 15. Jahrhundert und darüber hinaus weithin verbreitet waren, enthebt nicht von der Verpflichtung, einen solchen Hintergrund im konkreten historischen Einzelfall nachzuweisen.

In Anbetracht der bis hierher formulierten Vorbehalte gilt es nachdrücklich festzuhalten, dass es sich bei dieser Studie um eine Prüfungsarbeit für das Erste Staatsexamen handelt, die das Niveau vieler solcher Arbeiten weit hinter sich lässt. Sie ist gut lesbar und – auch dies heutzutage nicht mehr selbstverständlich – weist nahezu keine Druck- und redaktionellen Fehler auf. Die Studie hat einen vielerorts zwar sichtbaren, bislang aber wenig thematisierten und schwer zu durchdringenden Aspekt der christlich-jüdischen Beziehungen behandelt. Sie wird sicher dazu beitragen, den Blick ihrer Leser für Phänomene der Aneignung von jüdischen Grabsteinen in verschiedenen Kontexten der christlichen Mehrheitskultur zu schärfen.