U. Jureit u.a. (Hrsg.): Das Unbehagen an der Erinnerung

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Titel
Das Unbehagen an der Erinnerung. Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust


Herausgeber
Jureit, Ulrike; Schneider, Christian; Frölich, Margrit
Erschienen
Frankfurt am Main 2012: Brandes & Apsel Verlag
Anzahl Seiten
239 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Aleida Assmann, Fachbereich Literaturwissenschaft/Anglistik, Universität Konstanz

Unbehagen ist eine Intuition und daher ein vorreflexiver Zustand. Irgendetwas stimmt nicht, aber man weiß nicht so genau, was es eigentlich ist. Die Intuition kann ein Wegweiser für die Reflexion sein, die sich aufmacht und zu klären versucht, was das Problem ist und wie es behoben werden kann. In diesem Sinne werden die Thesen, die Ulrike Jureit und Christian Schneider bereits in einer vorangegangenen Publikation aufgestellt haben1, im vorliegenden Band von anderen Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Disziplinen aufgenommen und diskutiert.

So wie Alexander und Margarete Mitscherlich in den 1960er-Jahren der Kriegsgeneration ins Gewissen redeten und ihr ihre ‚Unfähigkeit zu trauern‘ vorwarfen, werfen Jureit und Schneider nun vierzig Jahre später der Nachkriegsgeneration der 68er falsches Erinnern vor. Die Gefühlslage der ‚nachholenden Trauer‘ sei absolut verfehlt, so die Botschaft an die 68er-Generation, weil sie auf einem falschen Bewusstsein gründe. Aus psychoanalytischer Perspektive hebt Schneider hier besonders die Überidentifikation mit den Opfern hervor, die zu einer einfachen Lösung des Schuldproblems durch Lossagung von den Eltern und dem deutschen Schuldkollektiv geführt habe. „Der ermordete Jude wurde das erste role model“ (S. 89), dem andere Erniedrigte und Beleidigte der Dritten Welt gefolgt seien (von den auf Plakaten hochgehaltenen ‚Helden‘ und Kämpfern dieser politischen Bewegung ist nicht die Rede). Der Opferbegriff spielt in weiteren Beiträgen eine wichtige Rolle. Mit klaren und griffigen Konturen arbeitet etwa Martin Sabrow den „Paradigmenwechsel von der historischen Heroisierung zur historischen Viktimisierung“ heraus (S. 42). Diese Wende führt er jedoch nicht auf die 68er-Generation zurück, sondern bezieht sie auf die Gegenwart. Gleichzeitig rekonstruiert er die Kontinuität eines „deutschen Opferdiskurses“, den er bis 1918 zurückverfolgt. Diese langfristige Perspektive wird möglich, weil er die heroische Opferbereitschaft der Deutschen nach dem ersten und ihre Selbstviktimisierung nach dem zweiten Weltkrieg als Manifestationen ein und derselben Grundhaltung darstellt.

Mit ihrem ‚Unbehagen an der Erinnerung‘ distanzieren sich die Autoren von einem vermeintlichen Grundkonsens der bundesdeutschen Erinnerungskultur. Jureits polemische Abwehr richtet sich dabei nicht nur gegen die Deutungsmacht der 68er, sondern viel grundsätzlicher auch gegen das Konzept einer gemeinsamen transgenerationellen Erinnerung, wie es weltweit praktiziert und seit Jahrzehnten in der internationalen Fachliteratur diskutiert wird. Für sie kann und darf es keine Erinnerung an Ereignisse geben, die man nicht selbst erlebt hat. Von kollektiver Identität und Gruppenzugehörigkeiten, die durch Übernahme einer nationalen Geschichte auf der Basis medialer und kultureller Überlieferung entstehen, hält sie nichts. Der Identitätsbezug der deutschen Holocaust-Erinnerung ist für sie deshalb ein reiner Selbstbetrug: „Wir tun schlicht so, als wenn es um Geschehnisse geht, die wir selbst erfahren und erlitten haben, und simulieren einen Selbstbezug, in den wir uns dann emotional hineinsteigern.“ (Der längere Abschnitt, in dem dieser Satz steht, findet sich textgleich auf S. 10 und S. 27.) Ich stehe ratlos vor solchen Sätzen, weil ich außer Binjamin Wilkomirski alias Bruno Dössekker niemanden kenne, auf den diese Beschreibung zutrifft. Ungewöhnlich für eine Historikerin ist, dass solche Behauptungen nirgends durch den Verweis auf Texte illustriert oder empirische Daten untermauert werden. Kulturelle Erinnerung wird von Jureit offensichtlich perhorresziert, weil sie sie mit Identitätswechsel und Selbstbetrug gleichsetzt. Deshalb plädiert sie auch für eine Historisierung des Holocaust, mit der der falsche Identitätsbezug zu diesem Geschehen endgültig aufgelöst werden soll.

So verwirrend für mich diese inzwischen mehrfach wiederholte Grundthese des Buches weiterhin ist, so dankbar nehme ich die begrifflichen Differenzierungen auf, mit denen der Sammelband entstandene Missverständnisse korrigiert. Werner Konitzer zum Beispiel unterscheidet zwischen ‚Opferidentifizierung‘ und ‚Opferorientierung‘ im Gedenken. Seine Unterscheidung kann helfen, unterschiedliche Rahmen transgenerationeller Weitergabe präziser zu beschreiben. Mit dem Label ‚opferidentifiziertes‘ Erinnern würde ich zum Beispiel die zweite Generation der Holocaust-Überlebenden erfassen, die sich selbst als ‚2G‘ (Kürzel für ‚zweite Generation‘) bezeichnen und ihre eigene Biografie als transgenerationelle Extension des elterlichen Traumas begreifen. In Deutschland dagegen kann man mit Konitzer argumentieren, dass der Durchbruch in Richtung auf eine Orientierung an den jüdischen Opfern erst 1979 mit der US-amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“ einsetzt. Diese Serie löste eine Empathie-Blockade in der deutschen Bevölkerung und legte damit den Grundstein zu einer neuen, generationenübergreifenden Erinnerungskultur. Mit der opferorientierten Erinnerungskultur ordnen sich die Deutschen, wie Konitzer schreibt, in die europäische und weltweite Erinnerungskultur ein. Im Anschluss daran wäre zu fragen, ob wir damit schon eine Erinnerungskultur haben wie andere Länder auch. Sicher fällt die Erinnerung im Land der Täter anders aus als in Ländern, die zwar kollaboriert haben, aber historisch auch durch starke Widerstandstraditionen geprägt sind. Deshalb gibt es in Deutschland zum Beispiel bis heute keine ‚Straße der Deportierten‘ wie in Paris, aber inzwischen jede Menge Stolpersteine, die auf Initiativen der Zivilgesellschaft zurückgehen. Eine Welt ohne Empathie und Parteinahme für unschuldige zivile Opfer wäre, so Konitzer, „ungleich unbehaglicher als die gegenwärtige Erinnerungskultur“ (S. 124). Aus psychologischer Sicht betont auch Gudrun Brockhaus, dass „die räuberische Aneignung einer unschuldigen Opfer-Identität“ (Modell Wilkomirski) nur wenigen gelungen sei (S. 109). Sie plädiert für eine Entmoralisierung der Diskussion, die es erlaubt, das Gefühlsspektrum zu erweitern und auch politisch unkorrekte Gefühle zuzulassen. Vor allem wünscht sie sich für die nachfolgenden Generationen die Freiheit, endlich: ‚Wir sind anders!‘ sagen zu können und sich damit aus einem kollektiven Identitätszwang zu lösen.

Die Bedeutung der 68er für die deutsche Erinnerungsgeschichte steht im Mittelpunkt mehrerer Beiträge. Jörn Rüsen kritisiert die 68er-Generation, die die Schuld zwar thematisiert, aber sich selbst dabei moralisch von ihr distanziert habe. Diese Erinnerung sei zudem neurotisch, weil sie nicht auf Kontinuität, sondern auf einen Bruch gegründet sei (S. 152). Fortschritte für eine humanere Geschichtskultur ergeben sich für ihn erst mit fortschreitenden Inklusionen in eine lange Geschichte. Margrit Frölich steuert eine prägnante Lektüre von Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“ als Selbstporträt der 68er-Generation bei, in dem freilich nicht die Identifikation mit den Opfern, sondern mit einer Täterin als eine Allegorie der Schuldverstrickung mit der Erfahrungsgeneration der Eltern im Mittelpunkt steht. Die Verfilmung des Romans geht einen Schritt weiter und entlässt die dritte Generation aus diesem Nexus der Verstrickung, indem die Tochter am Schluss die Freiheit hat zu sagen: ‚Ich bin anders!‘

Weitere Beiträge beziehen sich auf religiöse, philosophische und politische Dimensionen des Erinnerns. Johann Kreuzer untersucht den Zusammenhang von Erinnern und Vergessen an aufschlussreichen Zitaten von Plato bis Theodor Adorno. Hermann Düringer rekapituliert die Auseinandersetzung zwischen Max Horkheimer und Walter Benjamin über die Frage der Abgeschlossenheit oder Offenheit der Geschichte und betont damit die wichtige Unterscheidung zwischen Historisieren und Erinnern. Benjamins Einsicht bestand ja darin, „dass Geschichte nicht allein eine Wissenschaft, sondern nicht minder eine Form des Eingedenkens ist“ (S. 57), womit sich, wie Jürgen Habermas dann später hinzufügte, „unsere Verantwortung auch noch auf die Vergangenheit ausdehnt“ (S. 59). Weit über dieses Ziel hinaus schießt allerdings die Hoffnung auf Versöhnung zwischen Tätern und Opfern, die Düringer als „ein Angeld auf die große, die messianische Erlösung“ versteht (S. 63).

Wichtige aktuelle Probleme werden in dem Sammelband unter anderem von Harald Schmid angesprochen. Er verfolgt die beispiellose Karriere des Begriffs ‚Erinnerungskultur‘ und untersucht ihre politischen und diskursiven Rahmenbedingungen. Das neue Unbehagen an derselben führt Schmid auf ihre erfolgreiche Institutionalisierung und den damit verbundenen affirmativen Charakter zurück, dem alles Beunruhigende und Verstörende abgehe. Auch er wünscht sich den Identitätswechsel von einem negativen zu einem positiven Freiheits- und Demokratieverständnis. Claus Leggewie schreibt über die Problematik der sogenannten ‚Erinnerungsgesetze‘, die die Leugnung der jeweils staatstragenden Erinnerung unter Strafe stellen und als Machtmittel politischer Selbstimmunisierung eingesetzt werden. Jens Kroh erinnert an die Gründungsgeschichte der transnationalen Holocaust-Task-Force, die den institutionellen Kern der europäischen und globalen Holocaust-Erinnerung bildet, und beschreibt nationale Exkulpationsstrategien, die mit dieser Erinnerung verbunden werden. Am Ende, so stellt er in Aussicht, könnte sich Europa als eine inklusive Gemeinschaft der Opfer ohne Täter imaginieren. Der Opferbegriff wird in Astrid Messerschmidts Beitrag noch einmal erweitert, indem er nun auch noch die Opfer der Holocaust-Pädagogik mit einschließt. Sie kritisiert einen Ansatz, der zu moralischer Selbstbestätigung und Selbstversicherung führt und argumentiert, dass in der Migrationsgesellschaft eine größere Sensibilität für eine Pluralität historischer Schlüsselereignisse erforderlich sei.

In postsouveränen Gesellschaften, so die Herausgeber, haben kollektive Identitäten, Moralisierung und absolut gesetzte Glaubensformeln keinen Platz mehr. Sie plädieren deshalb für eine konsequente Historisierung der deutschen Erinnerungskultur, tun dies aber paradoxerweise auf eine hochmoralische Weise durch die Entlarvung falscher Gefühle, Verschleierungstaktiken und Formen der Inauthentizität. Man gewinnt deshalb den Eindruck, dass hier das alte argumentative Rüstzeug der 68er noch einmal gegen die 68er in Anschlag gebracht wird. Ob dieses intergenerationelle Gefecht um Deutungsmacht wirklich den Nerv der aktuellen deutschen Erinnerungskultur trifft, müssen die Leserinnen und Leser für sich entscheiden. Umso mehr ist zu begrüßen, dass diese Thesen nun in einen vielstimmigen Sammelband eingelagert sind, der es ermöglicht, unterschiedliche Positionen zu vergleichen und sich dabei selbst ein Bild von der Geschichte und dem aktuellen Stand der deutschen Erinnerungskultur zu machen.

Anmerkung:
1 Ulrike Jureit / Christian Schneider, Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010; vgl. die Rezension von Cornelia Siebeck, in: H-Soz-u-Kult, 11.03.2011, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-1-181> (04.04.2013).

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