J. Roselt u.a. (Hrsg.): Theater als Zeitmaschine

Cover
Titel
Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven


Herausgeber
Roselt, Jens; Otto, Ulf
Reihe
Theater 45
Anzahl Seiten
260 S.
Preis
€ 27,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Koch, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam; Stefanie Samida, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Seit rund zwei Jahrzehnten lässt sich in ganz verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen ein Trend zum ‚Erleben‘ fassen. Er manifestiert sich zunehmend auch in performativen Praktiken, wie man sie etwa aus dem Theater kennt. Stellen sie dort nichts Neues dar, sind sie in den Künsten und der populären Geschichtsdarstellung bzw. Geschichtsvermittlung – jedenfalls in Deutschland – ein relativ junges Phänomen, das als ‚Reenactment‘ bezeichnet wird. Während jedoch die Wurzeln des ‚historischen‘ Reenactments deutlich weiter zurückreichen, spielt das Reenactment in den Künsten erst seit Beginn der Jahrtausendwende eine größere Rolle. Auch das wissenschaftliche Interesse an diesem Phänomen hat im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren deutlich zugenommen, wobei sich die Auseinandersetzung weitgehend auf historische Darstellungen und Inszenierungen in Freilichtmuseen und auf sogenannte ‚Mittelaltermärkte‘ beschränkte.1 Im Vordergrund der Forschung standen solche Formen, die das Nachstellen und Nachspielen konkreter historischer Ereignisse – wie zum Beispiel die Schlacht bei Gettysburg 1863 und solche des Ersten Weltkriegs – oder des urgeschichtlichen Alltags zum Gegenstand hatten. Letztere firmieren zumeist unter dem Begriff ‚Living History‘, bei dem es weniger um das Nachstellen von Ereignissen als vielmehr generell um die Darstellung vergangener Kulturen geht. ‚Living History‘, so könnte man festhalten, dient also als Oberbegriff für die verschiedenen Formen körperlichen Erlebens von Vergangenheit, wobei die Forschung zu diesem Phänomen noch am Anfang steht.2

Der von Jens Roselt und Ulf Otto herausgegebene Sammelband „Theater als Zeitmaschine“ geht auf eine Tagung des „Herder-Kolleg. Zentrum für transdisziplinäre Kulturforschung“ der Universität Hildesheim zurück. Er versammelt neben der Einleitung insgesamt zwölf Beiträge, die sich mit der performativen Praxis des Reenactments im Schnittfeld von Kunst, Film und Populärkultur befassen. Damit hebt sich der Band deutlich von den bisher erschienenen Büchern zum Thema ‚Reenactment‘ ab und stellt eine Betrachtungsweise ins Zentrum, die in der Diskussion weitgehend unbeachtet geblieben war: die medien- und theaterwissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Phänomen.3 Das ist umso erstaunlicher als das Theater schon immer, wie die Herausgeber zu Recht betonen (S. 10), eine Art „Zeitmaschine“ war, durch die „Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in eigentümlicher Weise“ verbunden sind.

Der Sammelband ist, trotz einer schmerzlich vermissten Filmographie und einer Auflistung der im Band besprochenen Performances, von besonderem Wert – und das nicht nur, weil er neue Einblicke aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu einer Thematik liefert, die in der historisch-kulturwissenschaftlichen Debatte kaum Erwähnung fanden.4 Das Buch besticht dadurch, dass sich einerseits verschiedene zentrale Aspekte – wie zum Beispiel die Sakralität, mythische Dimension, Erinnerungsfunktion und körperliche Praxis des Reenactments – durch nahezu alle Artikel ziehen; andererseits nehmen verschiedene Beiträge immer wieder die gleichen Fallbeispiele unter anderen Gesichtspunkten auf. Dazu gehören etwa die Aufführungen der Künstlerin Marina Abramović, die sie 2005 an sieben aufeinander folgenden Tagen im New Yorker Guggenheim Museum unter dem Titel Seven Easy Perfomances darbot. Diesen Reenactments von Performances der 1960er- und 1970er-Jahre widmen sich mal intensiver, mal weniger ausführlich die Beiträge von Erika Fischer-Lichte (S. 13ff.), Milo Rau (S. 71ff.) und Sandra Umathum (S. 101ff.). Ähnlich verhält es sich beispielsweise mit dem von Jeremy Deller 2001 gedrehten Film Battle of Orgreave. Der britische Künstler ließ die im Juni 1984 entstandene Eskalation zwischen mehreren Tausend Bergarbeitern und der Staatsmacht am Originalschauplatz – der Ortschaft Orgreave nahe Sheffield – von Laiendarstellern, aber auch Personen, die damals auf der einen oder anderen Seite an der Auseinandersetzung teilgenommen hatten, nachstellen: Aus dem Krieg wurde Konzeptkunst und das historische Ereignis dadurch in ein ästhetisches transformiert, so Jens Roselt (S. 55). Auch in den Beiträgen von Wolfgang Hochbruck (S. 189ff.) und Ulf Otto (S. 229ff.) begegnet uns Dellers Film. Während Otto (S. 248) in ihm eine Politisierung des Reenactment-Hobbys zu erkennen vermag, beschreibt Hochbruck Dellers Aktion als „relativ isoliertes wenngleich faszinierendes Projekt“ und bedauert die mangelnde Dokumentation der Reaktionen und Reflexionen von Teilnehmern und Zuschauern (S. 205). Er betrachtet Dellers Inszenierung wegen der sehr starken Regieeingriffe überdies nicht als klassisches Reenactment, sondern als Abwandlung eines Festaufzugs (pageant).5

Nicht nur hier, sondern in allen Beiträgen zeigt sich die Schwierigkeit, den Begriff ‚Reenactment‘ zu fassen. Während Rau (S. 73) Reenactments als „Re-Inszenierungen medialer und historischer Ereignisse“ begreift, sind sie für die Theaterwissenschaftlerin und Performerin Nina Tecklenburg (S. 83) „Aufführung und Wiederholung“ zugleich. Umathum (S. 122) wiederum fragt sich am Ende ihres Beitrags zur Geschichte der Performance, was Reenactments sind: „Sind es Wiederbelebungen? Sind es andere, neue Formen der Dokumentation? Oder sind es selbst Vorlagen für neue Reperformances?“. Annemarie Matzke versucht in ihrem Beitrag über Tanz und Choreographie, den Reenactment-Begriff nicht nur gegenüber den Termini ‚Re-Inszenierung‘, ‚Remake‘, ‚Revival‘, ‚Re-Staging‘ und ‚Re-Invention‘ abzugrenzen (S. 129), sondern auch gegenüber der ‚Rekonstruktion‘ (S. 130). Während die Rekonstruktion von der Wiederherstellung einer Choreographie als Werk ausgehe, verschiebe das Reenactment den Fokus auf die Darstellungspraxis: „den Akt der Verkörperung“ (S. 130). Den Unterschied zwischen Ritualisierung und Reenactment hat Matthias Warstat (S. 213ff.) anhand des alljährlichen ‚Pilgerns‘ zur Grabstätte von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg nachvollziehbar erläutert. Könne man den Sternmarsch der Anhänger am 10. Jahrestag der beiden 1919 von Freikorps-Soldaten ermordeten Sozialisten im Sinne rituellen Handelns deuten – die Teilnehmer handelten damals nach einem ganz bestimmten Muster und bekannten Trauerkonventionen, also gemäß tradierter Regularien –, müsse man den Marsch der Linkspartei und ihrer Anhänger zu den Gräbern im 21. Jahrhundert hingegen völlig anders bewerten, nämlich als „bewusstes DDR-Reenactment“ (S. 222). Die Märsche wiederholten, ja re-inszenierten lediglich ein Ritual, „das in der DDR mit größter Selbstverständlichkeit vollzogen wurde“ (S. 222). Die Politprominenz der Linkspartei agiere als ‚Autorenkollektiv‘, das intentionell und reflektiert handelt, um die eigene „ambivalente Geschichte mit einer Politik für die Gegenwart zu verbinden“ (S. 223).

Der von Roselt und Otto herausgegebene Band bietet dem an der Praxis des Reenactments interessierten Leser eine Fülle an Anregungen für weitergehende Analysen. Die Beiträge machen zugleich aber einmal mehr deutlich, wie Komplex der Terminus ist; darauf haben die Herausgeber in ihrer Einleitung ebenfalls abgehoben: „Der Begriff Reenactment wurde auf vielfältige Weise aufgegriffen, gewendet und weitergereicht. Seine Kontur ist dadurch nicht eben schärfer geworden“ (S. 8). Das mag auf den einen oder die andere, die sich mit dem Thema beschäftigen, ernüchternd – ja entmutigend – klingen, sollte es aber nicht sein, denn eine verbindliche Definition gibt es schlicht nicht. Die Offenheit des Begriffs bietet vielmehr die Chance, über die Fächergrenzen hinweg mit ihm zu ‚spielen‘. Der Sammelband verdeutlicht eindrücklich, dass genau darin sein Wert liegt.

Anmerkungen:
1 Vgl. beispielsweise Jan Carstensen / Uwe Meiners / Ruth-E. Mohrmann (Hrsg.), Living History im Museum. Möglichkeiten und Grenzen einer populären Vermittlungsform, Münster 2008; Heike Duisberg (Hrsg.), Living History in Freilichtmuseen. Neue Wege der Geschichtsvermittlung, Rosengarten-Ehestorf 2008; Judith Schlehe u.a. (Hrsg.), Staging the Past. Themed Environments in Transcultural Perspectives, Bielefeld 2010; Dachverband Archäologischer Studierendenvertretungen (DASV) e.V. (Hrsg.), Vermittlung von Vergangenheit. Gelebte Geschichte als Dialog von Wissenschaft, Darstellungen und Rezeption, Weinstadt 2011; Berit Pleitner, Living History, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 62, 2011, S. 220–233.
2 Seit 2011 setzt sich das von der VolkswagenStiftung geförderte Projekt „Living History: Reenacted Prehistory between Research and Popular Performance“, das am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und an der Eberhard Karls Universität Tübingen durchgeführt wird, mit verschiedenen Aspekten der Living History auseinander, <http://www.livinghistory.uni-tuebingen.de> (10.10.2012).
3 Vgl. aber z.B. Inke Arns / Gabriele Horn (Hrsg.), History Will Repeat Itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien-)Kunst und Performance, Frankfurt am Main 2007.
4 Dazu gehört auch die Frage nach Reenactments im Film, die bislang weitgehend unbeachtet blieb, aber hier von Volker Wortmann (S. 139ff.), Stefanie Diekmann (S. 155ff.) und Simon Rothöhler (S. 175ff.) aufgegriffen wird.
5 Fischer-Lichte hat sich in ihrem Beitrag ausführlich mit den Wurzeln des Reenactments beschäftigt und darin u.a. auch die englisch-amerikanische Pageant-Bewegung beschrieben (S. 24ff.).

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