F. Bajohr u.a. (Hrsg.): Fremde Blicke auf das „Dritte Reich“

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Titel
Fremde Blicke auf das „Dritte Reich“. Berichte ausländischer Diplomaten über Herrschaft und Gesellschaft in Deutschland 1933-1945


Herausgeber
Bajohr, Frank; Strupp, Christoph
Reihe
Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 49
Erschienen
Göttingen 2011: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
600 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Bernard Wiaderny, Post-Doc.-Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Bauerkämper des Friedrich-Meinecke-Instituts, Freie Universität Berlin

Der Band dokumentiert die Ergebnisse eines an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg angesiedelten Projektes, dessen Ziel es war, das „Dritte Reich“ aus dem Blickwinkel ausländischer Diplomaten zu zeigen. Gewählt wurden Vertreter von zehn Ländern, darunter die Briten, die US-Amerikaner, die Franzosen, die Polen, die Schweizer und die Italiener. Die beteiligten Forscher konzentrierten sich auf drei inhaltliche Leitfragen. Es ging darum festzustellen, wie die totalitäre Herrschaft, ferner das Verhalten der deutschen Bevölkerung sowie die Verfolgung der Juden durch die fremden Beobachter wahrgenommen wurden. (S. 8) Im ersten Teil des Buches wird die Sichtweise der Diplomaten analysiert, darauf folgen querschnittartige Auszüge aus der Berichterstattung der jeweiligen Länder.

In fast jedem Fall hatten es die Forscher mit einer schwierigen Quellenlage zu tun. Einerseits weisen die untersuchten Länder mit Ausnahme der Schweiz große Verluste in ihren Archivbeständen aus. Zum Beispiel wurden in Italien 1943 „ganze Waggonladungen“ von Dokumenten aus dem Archiv des Außenministeriums durch die Deutschen beschlagnahmt und nach Berlin abtransportiert. Ihr Verbleib ist bis heute unbekannt. (S. 306) Andererseits sind die diplomatischen Berichte oft in solchen Mengen verfügbar, dass es nicht möglich war, sie alle auszuwerten, und man beließ es bei Stichproben.

Die Berichte wurden quellenkritisch untersucht. Wie einführend mit Recht vermerkt wird, wäre es methodologisch naiv, ihnen Objektivität zuzuschreiben. (S. 14) Viele der Diplomaten orientierten sich an den Erwartungen der Vorgesetzten. So wurde auf die Vertreter Italiens seitens Mussolini regelrecht Druck ausgeübt, ihre Berichte in „tono fascista“ zu verfassen. (S. 304) Manche von ihnen, zum Beispiel einige Amerikaner, kamen dem faschistischen Gedankengut nahe. (S. 73) Viele Schweizer standen für einen militanten Antikommunismus; deswegen appellierten sie – insbesondere nach Juni 1941 – an die Vorgesetzten, dem NS-Regime „eine gewisse Sympathie“ zu zeigen. (S. 211)

Im NS-Deutschland gab es keine unabhängige Öffentlichkeit, umso mehr stellt sich die Frage nach den Informationsquellen der Diplomaten. Sie stammten – so der Befund der Autoren – vor allem aus den Regierungskreisen und dem Milieu des großstädtischen Bürgertums. Verallgemeinernden Aussagen über größere gesellschaftliche Gruppen (wie die Haltung „der Arbeiter“ oder „der Katholiken“), die in den Berichten oft vorkamen, fehlte die empirische Basis, dementsprechend dürfen sie nicht unkritisch übernommen werden. Die Meldungen können kein annähernd vollständiges Bild des „Dritten Reiches“ zeigen bzw. mit dem Wissensstand der jeweiligen Regierungen gleichgestellt werden. In der Forschung wird darüber gestritten, welche Bedeutung die Berichte für die Außenpolitik des jeweiligen Landes trugen – die Antwort dieses Bandes fällt eindeutig aus: Sie waren bedeutungslos. (vgl. S. 19, 79, 117, 135 u. 319)

Bei der Bewertung der NS-Herrschaft wiesen die Diplomaten auf die Elemente des gesellschaftlichen Konsenses hin. Zu diesen gehörten vor allem die außenpolitischen Ziele des Regimes: die Überwindung des Versailler Vertrages und der Aufstieg Deutschlands. In der Schaffung „Großdeutschlands“ 1938 sahen viele Diplomaten das größte Maß an Übereinstimmung zwischen der Bevölkerung und dem Regime, ähnlich wie dies die heutige Forschung (Ian Kershaw) bewertet. Viele von ihnen betonten die Transformationsdynamik des Regimes und die besondere Rolle Hitlers als Bindeglied zwischen den Machthabern und der Bevölkerung. Sie bezeichneten das entstandene System als „Zustimmungsdiktatur“ (S. 69). Ebenfalls hoben viele die öffentliche Inszenierung des NS-Regimes hervor; einige von ihnen, wie z. B. der französische Botschafter André François-Poncet, wurden durch diese manchmal mitgerissen. So beschrieb Poncet 1935 den Nürnberger Parteitag als „ein grandioses Spektakel [...] [und] eine halluzinierende Abfolge von lebenden Bildern in riesenhaftem Ausmaß“. (S. 436) Von Anfang an hatten die Diplomaten, unabhängig von ihrem Herkunfsland, die Gewissheit, dass kein Hindernis die Nazis aufhalten konnte. Zu keinem Zeitpunkt sahen sie eine nennenswerte Opposition, die der Diktatur schaden konnte. (S. 27, 122, 134, 210)

Bewegend und oft empathisch beschrieben diejenigen von ihnen, die bis 1945 in Deutschland bleiben konnten, die Folgen der alliierten Bombardements. Sie hoben den Zerfall der Gesellschaft hervor, womit sie sich gegen den Mythos der „Volksgemeinschaft“ aussprachen und die Position der heutigen Forschung bestätigen.

In Bezug auf die Judenverfolgung fällt in den Berichten auf, dass ihre Autoren zu keiner Zeit von einem Ende der Entwicklung sprachen, sondern immer eine Verschärfung der Maßnahmen voraussahen. Mehrmals, bereits seit 1935, prophezeiten sie „die einfache, nackte Eliminierung“ der Juden als Ziel der NS-Politik. (S. 438)

Insbesondere unmittelbar nach dem Novemberpogrom mehrten sich die Stellungnahmen, die auf die drohende physische Vernichtung der Juden hinwiesen. So z. B. gab ein schweizerischer Bericht im Dezember 1938 eine Aussage Ernst von Weizsäckers wieder, wonach die Juden „über kurz oder lang ihrer vollständigen Vernichtung entgegen[gehen]“. (S. 208) Ähnlich sahen es die Amerikaner. „Jews [...] are being condemned to death“, schrieben sie zur selben Zeit. (S. 117).

Der Novemberpogrom 1938 selbst bildet das durch die Diplomaten am besten dokumentierte Einzelereignis. Dies verwundert nicht, er spielte sich ja in der Öffentlichkeit ab und viele von ihnen beobachteten die Ereignisse stundenlang persönlich. Was sie sahen, bezeichnete ein britischer Diplomat als „outbreak of sadistic cruelty“. (S. 4) Seinem US-amerikanischen Kollegen fiel dabei die Jugend auf, die „infected by the antisemitic agitation“ worden war (S. 430) und – so ein Schweizer Diplomat – „nicht genug Sadismus zeigen“ konnte. (S. 206)

Wie die Herausgeber selbst vermerken, bietet die Publikation keine sensationellen Neuigkeiten zur Erforschung des NS-Deutschlands an. Dies bedeutet aber in keinem Fall, dass sie nicht beachtenswert ist. Es sind die vielen methodischen Überlegungen und die Befunde sowie die Vielfältigkeit der Berichte selbst, die den Band lesenswert machen. Dabei wird der Leser zu einem Vergleich zwischen der Sichtweise des jeweiligen Landes animiert.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/