S. Hartong: Wie PISA die deutschen Schulen verändert hat

Cover
Titel
Basiskompetenzen statt Bildung?. Wie PISA die deutschen Schulen verändert hat


Autor(en)
Hartong, Sigrid
Reihe
Campus Forschung 955
Erschienen
Frankfurt am Main 2012: Campus Verlag
Anzahl Seiten
411 S.
Preis
€ 43,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Regula Bürgi, Faculty of Humanities, Arts and Educational Sciences, University of Luxembourg

Hinsichtlich der Frage, wie die Internationalisierung die nationalstaatliche Bildungspolitik verändert, spielen insbesondere die politikwissenschaftlichen Studien der Forschergruppe rund um Kerstin Martens eine Vorreiterrolle.1 Mit ihrer Dissertation „Basiskompetenzen statt Bildung? Wie PISA die deutschen Schulen verändert hat“ ergänzt die Bamberger Soziologin Sigrid Hartong diese Arbeiten für Deutschland und setzt in zweifacher Hinsicht neue Akzente: Zum einen entfaltet sie die strukturellen innenpolitischen Akteurskonstellationen in ihrem nahezu vollen nationalen und lokalen Ausmaß, wie gerade für föderale Staaten unabdingbar. Zum anderen wagt die Autorin auch den Sprung in die Schulpraxis. Das ist ein ambitioniertes Projekt, dessen inhaltliche Breite zweifelsohne bemerkenswert ist, auch wenn die Argumentation zuweilen oberflächlich bleibt und deswegen vereinzelt in Frage gestellt werden kann.

Anders als der Titel suggeriert weist die Dissertation sowohl über eine bloße Gegenüberstellung von neuen und alten Bildungskonzepten als auch weit über PISA hinaus. Hartong vertritt die These, dass das nationale Feld der Bildungspolitik durch die Emergenz einer neuen internationalen bildungspolitischen Ebene restrukturiert werde. Die entscheidende Rolle spielten dabei neu eingeführte Governancemodi und Leitbilder, die nicht mit den traditionellen zusammenpassten, wodurch starke Spannungen entstanden seien (S. 12f. und 44).

Die angenommene Restrukturierung analysiert Hartong in sechs Kapiteln: Nach einer sehr kurz gehaltenen Einleitung und theoretischen sowie methodischen Überlegungen zu Beginn folgen, gegliedert nach den Analyseebenen international, national und lokal, die drei Kernkapitel, deren Ergebnisse im letzten Kapitel zusammengefasst und mit bestehender Forschungsliteratur untermauert werden.

Innovativ ist die Dissertation von Hartong nicht nur aufgrund der Breite ihrer Untersuchung, sondern auch in Bezug auf die theoretische Konzeption: Die Autorin kombiniert drei Theoriestränge – die Feldtheorie Bourdieus, den soziologischen Neo-Institutionalismus bzw. die Weltkulturtheorie sowie die Governancetheorie im Mehrebenensystem – zu einem eigenen Forschungsansatz. Dieses Vorgehen ermöglicht es beispielsweise, eine zentrale Schwäche des Neo-Institutionalismus, nämlich sein blindes Auge für Macht- und Konfliktkonstellationen, zu überwinden. Trotz dieses vorbehaltlos gewinnbringenden Ansatzes wäre insgesamt zu diskutieren, ob und inwiefern die genannten Theorien überhaupt kompatibel sind, insbesondere im Hinblick auf ihr unterschiedliches Akteursverständnis.

Hartong selbst setzt internationale, nationale und lokale Akteure und deren Argumentation ins Zentrum ihrer Analyse. Dabei wählt sie einen methodischen Mix aus qualitativer Inhaltsanalyse von Dokumenten wie Positionspapieren, Stellungnahmen, Programmen und Berichten sowie teilstrukturierten Interviews, die sie mit DirektorInnen und Lehrkräften einzelner Schulen geführt hat. Hinsichtlich des Zeitraums ihrer Materialanalyse ist Hartong ungenau und gibt an, den Wandel von schulischen Leitbildern und Governancemechanismen nachzuzeichnen, wie er sich „in den letzten Jahrzehnten vollzogen und dann vor allem seit den späten 1990er Jahren“ entfaltet hat (S. 43). Ihr Quellenmaterial, dessen Selektionskriterien insgesamt zu wenig expliziert werden, zeigt einen starken Fokus auf den Jahren 2008 bis 2010.

Um die Auswirkungen der Internationalisierung nachzuvollziehen, untersucht Hartong in einem ersten Analyseschritt Konstellationen und Dispositionen des nach dem Zweiten Weltkrieg neu entstandenen bildungspolitischen Feldes und fokussiert dabei insbesondere die Erfinderin von PISA, die OECD, sowie die EU. Primär gestützt auf eine Analyse bestehender Forschungsarbeiten wird die Expertise bzw. die Verwissenschaftlichung von Governance als Hauptcharakteristikum dieser Organisationen hervorgehoben. Im Gegensatz zu „politischem Kapital“ würde im internationalen Feld „wissenschaftliches Kapital“ dominieren, welches gemäß Hartong gegen Ende des 20. Jahrhunderts durch „informationelles Kapital“ (S. 71 und 116) ergänzt worden sei. Letzteres entstehe durch das Generieren von Daten und Kennziffern, so beispielsweise mit der Durchführung von internationalen Vergleichsstudien wie PISA, und degradiere die Nationalstaaten von ursprünglichen „Auftraggebern“ zu bloßen „Adressaten“ (S. 131). Neben diesem Wandel stellt Hartong für die 1970er- und 1980er-Jahre einen Leitbildwandel fest: Durch die Einführung des Konzeptes des lebenslangen Lernens würden, so die Autorin, bislang auch auf internationaler Ebene bestehende Spannungen zwischen an „Humankapital“ und „Chancengleichheit“ (S. 107) orientierten Bildungsidealen zunehmend aufgelöst und integriert. Mit einer Analyse der Beschaffenheit von PISA zeigt die Autorin jedoch beispielhaft, wie die „humanistischen Aspekte“ (S. 97) in der Tiefenstruktur zugunsten einer ökonomischen Orientierung verschwinden. Nicht nur die OECD, sondern auch die EU unterstütze das Ideal des lebenslangen Lernens und protegiere dieses mit derselben Argumentation wie die OECD, nämlich den „challenges of globalization“ (S. 92) und dem vermeintlichen Imperativ der „Wissensgesellschaft“ (S. 91), der jegliche Alternativen im Kern ersticke.

Genau denselben Wandel, mit denselben Hybridisierungseffekten, legitimiert mit derselben Argumentation, stellt Hartong auf der nationalen Ebene fest. Mit einem beachtlichen Panorama nationaler Akteure zeigt die Autorin, welche Effekte die internationale Governance-Kultur auf der nationalen Ebene zeitigt bzw. wie sie von dieser übernommen wird: Beispielsweise liefere PISA nur eine „Diagnose“, deren „Erklärung“ von nationaler Seite entwickelt werden müsse (S. 99). In diesem Prozess erhalte die so genannte empirische Bildungsforschung, die insbesondere in nicht universitären Forschungsinstituten wie dem Max-Planck-Institut oder dem Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung viel Raum einnimmt, enormen Aufwind – zulasten der traditionellen Erziehungswissenschaften. Diese Vermittler zwischen nationaler und internationaler Ebene etablierten nach Hartong eine verwissenschaftlichte Politikberatung, die informationelles dem politischen Kapital vorschalten würde. Die großen Verlierer seien diejenigen Akteure, welche für ihre Argumentation keine Daten generierten, sondern „primär ideologisch und politisch“ (S. 218) argumentierten wie beispielsweise Verbände. Anstatt sich jedoch der datengestützten Governance zu entziehen, scheinen sich, wie Hartong aufzeigt, durchweg alle Akteure aufgrund innenpolitischer Ränkespiele an der internationalen Ebene auszurichten und damit die „Logik des informationellen Kapitals“ (S. 217) zu adaptieren.

„Erst mit der Entwicklung und der Verbreitung des Paradigmas vom lebenslangen Lernen“ (S. 140) kam es laut der Autorin zum allumgreifenden Wandel. Diese Argumentation überzeugt tendenziell nicht, insofern internationale Organisationen spätestens seit den 1960er-Jahren darum bemüht waren, unterschiedliche Bildungsideale in ihre Programme zu integrieren und mit so genannten Catch-all-Termini wie „development“ zu verbreiten. Hartong fällt an dieser Stelle von ihrer Ausgangsfrage des „wie“ in ein „wieso“, das eine umfassende Berücksichtigung historischer Kontexte verlangen würde, welche in ihrer Arbeit an keiner Stelle ausgeführt werden. Insgesamt steht der von Hartong ausgemachte Zeitpunkt des Governance-Wandels mit und durch PISA Ende der 1990er-Jahre auf einer eher wackeligen Basis, wenn berücksichtigt wird, dass die so genannten nationalen Vermittler, nämlich die Bildungsforschungsinstitute – wie die Autorin selbst darlegt –, nahezu allesamt in den frühen 1960er-Jahren gegründet wurden: genau in dem Zeitrahmen also, in welchem internationale Organisationen mit der Produktion von „informationellem“ Kapital starteten. Sicherlich stellen PISA und lebenslanges Lernen Neuerungen dar, doch entsprechen sie möglicherweise viel eher dem Höhepunkt eines Wandels, wie er sich in den 1960er-Jahren während des Kalten Krieges vollzogen hat, als selbst ursächlich zu wirken.

Dafür sprechen auch die Befunde der Autorin selbst, insofern sie zeigt, dass gleichzeitig mit PISA große deutsche Stiftungen wie Bertelsmann begannen, output-orientierte Qualitätserhebungsinstrumente für einzelne Schulen zu entwickeln. Die Auswirkungen dieses Prozesses auf die Schulpraxis stellt Hartong wiederum in einer bemerkenswerten Untersuchungsvielfalt auf lokaler Ebene am Bespiel des Bundeslandes Niedersachsen dar. Während sie für die bisherigen Analyseebenen eine Verdrängung des politischen Kapitals durch informationelles festhält, transformiere Letzteres auf der Ebene der Schulpraxis deren traditionell „kulturelles Kapital“ (S. 231). Um dieses zu generieren, müssten Schulen als innovativ gelten, das heißt neu mit datengestützten Evaluationen die Qualität ihrer Arbeit offenlegen. Auch auf der lokalen Ebene würde daher die internationale Steuerungslogik akzeptiert sowie adaptiert und damit einhergehend auch das inkludierende Konzept des lebenslangen Lernens. Gleichzeitig betont Hartong jedoch, dass neben der Diffusion dieser internationalen Regierungsmodi und Leitbilder auch Beharrungskräfte bestünden bzw. die internationalen mit nationalen Pfaden konfrontiert würden, deren Aufeinandertreffen in hybriden Konstellationen wie einer „bürokratisierten accountability“ (S. 336) mündeten. Die Dissertation schließt in Rückgriff auf Thomas Kuhn mit der Ausformulierung eines neuen Paradigmas der Wissensgesellschaft, das laut Hartong jedoch von historischen Kontinuitäten durchzogen sei. Dabei verweist sie sehr ausführlich auf bestehende Forschungsliteratur, lässt sich leider zu Gemeinplätzen zur Didaktik hinreißen und verpasst es, ihren eigenen, äußerst erkenntnisreichen und mannigfaltigen Befunden den Platz einzuräumen, den sie unbedingt verdient hätten.

Anmerkung:
1 Siehe beispielsweise: Kerstin Martens / Alessandra Rusconi / Kathrin Leuze (Hrsg.), New Arenas of Education Governance. The Impact of International Organizations and Markets on Educational Policy Making, Basingstoke 2007; Kerstin Martens / Alexander-Kenneth Nagel / Michael Windzio (Hrsg.): Transformation of Education Policy, Basingstoke 2010.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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