A. Humm: Auf dem Weg zum sozialistischen Dorf?

Titel
Auf dem Weg zum sozialistischen Dorf?. Zum Wandel der dörflichen Lebenswelt in der DDR von 1952 bis 1969 mit vergleichenden Aspekten zur Bundesrepublik Deutschland


Autor(en)
Humm, Antonia Maria
Erschienen
Göttingen 1999: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
352 S., 25 Tab., 3 Kart.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gesine Gerhard, History Department, University of the Pacific

Seit die Sozialgeschichtsforschung in den 90er Jahren auch die DDR ausgiebiger behandeln kann, ist der Frage nach der Wirkung der SED Diktatur wiederholt nachgegangen worden. Ein Bereich untersucht die Wandlungen der ländlichen Gesellschaft unter sozialistischer Agrarpolitik. In dieser Hinsicht ist Antonia Humm mit ihrer Studie der thüringischen Gemeinde Niederzimmern in guter Gesellschaft.1 Humm's Buch zeichnet sich insbesondere dadurch aus, daß sie die Veränderungen auf dem Lande in einer Zeitphase beobachtet, der sonst nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Sie beginnt ihre Untersuchung im Jahr 1952 - dem Beginn der Kollektivierung - und endet im Jahr 1969, als mit dem Übergang zu industriemäßiger landwirtschaftlicher Produktion eine neue Phase der Agrarwirtschaft begann. Sie ignoriert damit also die Bodenreform der unmittelbaren Nachkriegszeit, die gemeinhin als die entscheidendste und nachhaltigste Veränderung für die ländliche Bevölkerung verstanden wird. Humm begründet diese zeitliche Schwerpunksetzung überzeugend: Zum einen gäbe es schon einige Literatur dazu, zum anderen hat die Bodenreform regional unterschiedlich großen Einfluß gehabt.2 Die Besitzverhältnisse im Untersuchungsraum Thüringen sind aufgrund der überwiegend bäuerlichen Struktur und dem Fehlen landwirtschaftlichen Großgrundbesitzes von der Bodenreform fast gar nicht berührt worden. Erst mit der Intensivierung anti-großbäuerlicher Kampagnen in der ersten Hälfte der 50er Jahre haben "Großbauern" - laut Sprachgebrauch in der DDR waren dies Bauern mit mehr als 20 Hektar Land - auch in Thüringen Repressionen und unfreiwillige Veränderungen erfahren.

Am Beispiel des Dorfes Niederzimmern in Thüringen untersucht Humm die Auswirkungen der verschiedenen Phasen der Kollektivierung, die anfangs noch als "freiwillige Idee" Bauern schmackhaft gemacht werden sollte. In späteren Wellen wurde die Kollektivierung jedoch immer nachhaltiger forciert bis schließlich im Jahr 1960 in einer groß angelegten Aktion die private Landwirtschaft vollständig beseitigt wurde. Humm hat es aber nicht nur darauf angelegt, die oktroyierten Veränderungen der Landwirtschaft nachzuzeichnen. Vielmehr untersucht sie, inwieweit der Staat seine Herrschaftsansprüche durchsetzen konnte und inwieweit sich, trotz oberflächlicher Anpassung, die ländliche Gesellschaft tatsächlich gewandelt hat. Sie hinterfragt, ob bestimmte Handlungsmuster der Landwirte und Bauern nicht etwa als resistentes Verhalten interpretiert werden können, da sie sich zwar dem Kollektivierungszwang und Spezialisierungsdruck anpaßten, aber die traditionell bäuerliche Wertschätzung der Selbständigkeit in diesem neuen Rahmen, soweit wie möglich, aufrecht erhielten. So traten Bauern beispielsweise bevorzugt in den LPG Typ I ein, der nur den Ackerbau als einen Bereich der Landarbeit genossenschaftlich organisierte. Maschinen, Wirtschaftsgebäude und Vieh wurden nicht oder nur zögerlich in die Genossenschaft eingebracht. Eine andere Nische, die die Bauern sich erhielten und damit laut Humm ihren "Eigensinn" demonstrierten, war die Beibehaltung kleiner Grundstücke, die der eigenen Hauswirtschaft dienten und viel sorgfältiger bewirtschaftet wurden als das genossenschaftliche Land. Inwieweit dies als Resistenz zu werten ist, könnte diskutiert werden, zumindest ist es ein Verhalten, das "Opfer" als ein Mittel anwenden, um eigene Interessen durchzusetzen und ihr Selbstverständnis nicht vollständig aufzugeben.

Dieses "Nischen-Suchen" ist durchaus dem Verhalten westdeutscher Kleinbauern in den 50er Jahren gleichzusetzen, die unter enormen Umstellungs- und Modernisierungsdruck häufig in andere Berufe abwanderten, ihr Land aber behielten und als Zuerwerb oder für die Eigenversorgung nutzen konnten. Auf diese Weise wurde der allgemeine Strukturwandel eben nicht nur als einer erfahren, der traditionelle Werte negiert und zu einer völligen Abwendung von ländlicher Arbeit geführt hätte. Das eigensinnige Verhalten der Bauern sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland kann meines Erachtens als ein Puffer verstanden werden, aufgrund dessen die Transformation auf dem Lande ohne nennenswerte Zwischenfälle verlaufen konnte.

In diesem Punkt erfüllt das Buch die Erwartungen nicht ganz. Der Untertitel "Zum Wandel der dörflichen Lebenswelt in der DDR und der Bundesrepublik Deutschland 1952-1969" verspricht eine gleichgewichtigere Behandlung der ost- und westdeutschen Landgemeinden. Der Vergleich kommt in Humm's Untersuchung allerdings sehr kurz. Zwar erläutert die Autorin in der Einleitung, daß aufgrund der eingeschränkten Zahl von Arbeiten, die sich mit der DDR befassen, ihr Schwerpunkt auf der thüringischen Gemeinde liege und nur für bestimmte Probleme eine komparative Perspektive gewählt wurde (S. 19), die Auswahl jedoch, welche Bereiche vergleichend behandelt werden, ist nicht immer nachvollziehbar.

Im ersten Kapitel wird der Strukturwandel in den Gemeinden Niederzimmern, Thüringen, und Bernstadt, Baden-Württemberg, untersucht und Veränderungen in der Erwerbsstruktur, der Entbäuerlichung und der Urbanisierung anschaulich gegenübergestellt. Trotz ähnlicher Ausgangslage verlaufen die Entwicklungen unterschiedlich. In Niederzimmern stagniert die Bevölkerung, die Alteingesessenen bleiben unter sich und der Bedeutungsverlust der in der Landwirtschaft Beschäftigten ist geringer als im westdeutschen Bernstadt, wo starke Flüchtlingszuwanderung und gleichzeitig hohe Abwanderung das Verhältnis zwischen bäuerlicher und nichtbäuerlicher Bevölkerung aufmischen. Bernstadt wird somit zu einem typischen Beispiel westdeutschen Strukturwandels: das Dorf wächst ins Umland hinein, wird infrastrukturell erschlossen, die Zahl der Land-Stadt-Pendler nimmt zu und ländliche und städtische Lebensbedingungen gleichen sich einander an. In Niederzimmern dagegen bleibt der bäuerliche Charakter des Dorfes erhalten und es wird versucht, die Attraktivität der ländlichen Gemeinde als geschlossene Einheit zu steigern.

Die staatliche Agrarpolitik, ihre Folgen für den allgemeinen sozioökonomischen Wandel sowie bäuerliche Handlungsstrategien ist das Thema des zweiten Kapitels. Der bundesdeutschen Agrarpolitik ist hier allerdings sehr wenig Raum gelassen und der Hinweis auf die unersetzlichen Studien von Ulrich Kluge reicht nicht aus, um die Unterschiedlichkeit hervorzuheben.3 Gerade hier wäre es interessant gewesen, die unterschiedlichen Agrarpolitiken in Ost- und Westdeutschland zu beleuchten, nicht zuletzt da staatliche Eingriffe sich gegenseitig bedingten. So lautet eine These, daß die DDR die landwirtschaftliche Produktion unbedingt steigern wollte, um so mit der BRD mitziehen zu können bzw. "kapitalistische Länder zu überflügeln" (Schulze).4 Der Abschnitt zum soziökonomischen Wandel in Niederzimmern liefert wertvolles Material zu den verschiedenen Bereichen landwirtschaftlicher Arbeit im Zeichen sozialistischer Agrarpolitik. Der Teil des Kapitels, der die Reaktionen und Handlungsstrategien der Bauern behandelt, suggeriert einen eigenen Abschnitt zum Vergleich, der allerdings sehr stichpunktartig bleibt.

Das dritte Kapitel behandelt die Kommunalpolitik und die politische Partizipation auf Gemeindeebene. Die Frage stellt sich, ob das Verhalten der ländlichen Bevölkerung als Loyalität oder Resistenz zum Staat bewertet werden kann. Humm belegt anschaulich ihre These, daß sich die Menschen in Niederzimmern zwar oberflächlich den neuen Strukturen angepaßt haben, demonstrative Passivität und fehlendes Engagement jedoch eine Identifizierung mit dem sozialistischen Staat ausschlossen. Kapitel vier untersucht, inwieweit sich die dörfliche Kultur zwischen Transformation und Tradition behauptet hat. Vereinsleben, Jugendkultur und Kirche werden als Fallbeispiele herangezogen und dabei interessante Details aufgedeckt. So wurden etwa kirchliche Bindungen auf dem Lande länger aufrecht erhalten als anderswo in der DDR. Allerdings wäre an dieser Stelle die Erläuterung des größeren Kontexts hilfreich gewesen. Für einen Vergleich sei stellvertretend auf die Studie von Peter Exner hingewiesen, der bäuerliche Resistenz und Anpassung in Westfalen anhand dörflicher Freizeitkultur, Heiratsverhalten und Elitenbildung untersucht hat.5

In ihrem Schlußteil kommt Humm nun noch einmal auf die Ausgangsfrage zurück. Wie weitreichend waren die Transformationen in der ländlichen Gemeinde, inwieweit hat sich Niederzimmern auf den Weg zu einem sozialistischen Dorf eingelassen? Ihre differenzierte Antwort ist nach vollendeter Lektüre gut nachvollziehbar. Das Dorf und seine Einwohner haben sich zwar verändert, aber eben nicht in der vom sozialistischen Staat beabsichtigten und erwünschten Weise, da die ideologische Übernahme von sozialistischen Werten bei der bäuerlichen Bevölkerung nicht zu bemerken war. Es ist der Verdienst von Humm, uns diesen "Wandel ohne Tiefenwirkung" (S. 321) verständlich gemacht zu haben.

Anmerkungen:
1 Bauerkämper, Arnd: "Agrarwirtschaft und ländliche Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Eine Bilanz der Jahre 1945-1965." in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 38/97 (1997), S. 25-37.
2 Bauerkämper, Arnd (Hg.): "Junkerland in Bauernhand"? Durchführung, Auswirkungen und Stellenwert der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 1996.
3 Kluge, Ulrich: Vierzig Jahre Agrarpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Vol. 1. Hamburg/Berlin: Parey, 1989.
4 Schulz, Dieter: "Kapitalistische Länder überflügeln". Die DDR-Bauern in der SED-Politik des ökonomischen Wettbewerbs mit der Bundesrepublik von 1956 bis 1961. Berlin: Helle Panke, 1994.
5 Exner, Peter: Ländliche Gesellschaft und Landwirtschaft in Westfalen 1919-1969. Paderborn, 1997.

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