M. David-Fox u.a. (Hrsg.): Fascination and Enmity

Titel
Fascination and Enmity. Russia and Germany as Entangled Histories, 1914–1945


Herausgeber
David-Fox, Michael; Holquist, Peter; Martin, Alexander R.
Reihe
Pitt Series in Russian and East European Studies / Kritika Historical Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
VI, 309 S.
Preis
€ 22,10
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Schmitten, Sonderforschungsbereich 640/Humboldt-Universität zu Berlin

Das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat Gerd Koenen in seinem Buch über den „Russland-Komplex“ als ein „Changieren zwischen Angst und Bewunderung, phobischer Abwehr und emphatischer Zuwendung […] von beiden Seiten und vielfach in engem Bezug aufeinander“ 1 charakterisiert. Diese Überlegungen scheinen Michael David-Fox, Peter Holquist und Alexander M. Martin nicht nur mit dem Titel „Fascination and Enmity“, sondern auch mit der methodischen und zeitlichen Ausrichtung des von ihnen herausgegebenen Sammelbandes aufzugreifen: Statt eines Vergleichs in der Tradition der Totalitarismusforschung geht es hier um Verflechtung und Transfer, und über den engen Fokus auf das stalinistische und nationalsozialistische Regime hinaus werden auch der Erste Weltkrieg und die gesamte Zwischenkriegszeit in den Blick genommen. Damit behandelt der Sammelband jene Fragen, die sich aus der kontroversen Diskussion um Timothy Snyders Studie „Bloodlands” ergeben haben. 2

Situationen der Interaktion und gegenseitigen Beobachtung stehen im Zentrum des Bandes. Als „entanglements“ bezeichnet Michael David-Fox „persistent and deep-seated reactions to the other side” (S. 4), die in den chronologisch angeordneten Fallbeispielen anhand unterschiedlicher Quellen – von Presseberichten über amtliche Dokumente bis hin zu Feldpostbriefen, Memoiren und Literatur – ausgelotet werden. Die von namhaften amerikanischen, deutschen und russischen Forscher/innen verfassten Beiträge umfassen ein weites Themenspektrum. Sie reichen vom brutalen Überfall deutscher Truppen auf die polnische Kleinstadt Kalisz 1914 (Laura Engelstein) über das Zusammentreffen deutscher und russischer Kommunisten in der Zwischenkriegszeit (Bert Hoppe) bis hin zu Reflexionen über den Gegner während des Zweiten Weltkrieges. Mit fünf von acht Beiträgen – verfasst von Jan C. Behrends, Peter Fritzsche, Jochen Hellbeck, Katerina Clark und Oleg Budnitskii –liegt der Schwerpunkt eindeutig auf der Konfrontation von Nationalsozialismus und Stalinismus. Dabei schließen die Beiträge an die lange Tradition der Erforschung der „Bilder vom Anderen“, Stereotypen und Propagandakonstrukte an 3, diskutieren diese aber stärker als es bisher geschehen ist im Kontext direkter Begegnungen wie Reisen, Kriegsgefangenschaft und Besatzung.

Oksana Nagornaya greift mit den 1,5 Millionen im Deutschen Reich internierten russischen Kriegsgefangenen einen zentralen Aspekt des Zusammentreffens von Deutschen und Russen während des Ersten Weltkrieges auf. Überzeugend arbeitet sie heraus, wie kolonialistische und rassistische Stereotype sowohl das Interesse der Bevölkerung an den Kriegsgefangenen als auch ihre Behandlung durch offizielle Stellen beeinflussten. Sie kann außerdem zeigen, dass die Situation der Kriegsgefangenen zum zentralen Thema von Propaganda und internationaler Politik wurde. Etwas kurz kommt hingegen die Perspektive der Gefangenen selbst. Eine ähnliche Konstellation der Begegnung außerhalb direkter Gefechtshandlungen behandelt Oleg Budnitskii für den Zweiten Weltkrieg, verfolgt dabei aber einen gänzlich anderen Ansatz. Sein Fokus liegt neben einigen zeitgenössischen Aufzeichnungen vor allem auf Memoiren von Mitgliedern der sowjetischen Intelligenzija, die das Kriegsende als Offiziere der Roten Armee in Deutschland erlebten. Neben ihrer Sicht auf Deutschland und die Deutschen nimmt hier die Reflexion des oft gewalttätigen Verhaltens der eigenen Truppe gegenüber der Zivilbevölkerung breiten Raum ein.

Fremdheit, Irritation und Missverständnisse trotz ideologischer Verbundenheit sind Thema des Aufsatzes von Bert Hoppe über russische und deutsche Kommunisten in der Zwischenkriegszeit. Anhand einer lesenswerten „cultural history of the political everyday“ (S. 60) der Komintern-Funktionäre kann Hoppe zeigen, dass Konflikte zwischen Bolschewiki und deutschen Kommunisten weniger durch ideologische Differenzen als durch ihre völlig unterschiedliche Sozialisation und das Agieren in sehr verschiedenen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontexten begründet waren. So ließ sich das Modell einer konspirativen Kaderpartei, das die russischen Kommunisten während der Verfolgung durch die zaristische Geheimpolizei in jahrelangen Untergrundaktivitäten entwickelt hatten, kaum auf die Herausforderungen in einem offenen, pluralistischen politischen System wie der Weimarer Republik übertragen. Deshalb sorgten die verschiedensten Anlässe – sei es das Tragen von Waffen im Alltag, Sprachregelungen oder die Geheimhaltung parteipolitischer Interna – für Unverständnis und Befremden zwischen „Iron Revolutionaries and Salon Socialists“.

Jan C. Behrends nimmt anhand der Anti-Komintern-Publikationen die massive nationalsozialistische Propaganda gegen die Sowjetunion in den Blick. Hauptziel dieser ab 1935 forcierten und nur während des Hitler-Stalin-Paktes ausgesetzten Kampagne war es, im Feindbild des „jüdischen Bolschewismus“ den Juden als Feind im Inneren mit der äußeren Bedrohung durch die Sowjetunion zu verbinden. Dabei kann Behrends zeigen, dass die Nationalsozialisten die sowjetische Propaganda intensiv beobachteten und sowohl Methoden als auch narrative Strategien übernahmen und mit deutschen Traditionen verbanden. So wurde beispielsweise an die sowjetische Technik des Augenzeugen- und Reiseberichts durch die Erfindung des „anti-fellow-travelers“ angeknüpft, der nicht von den Aufbauleistungen des kommunistischen Systems, sondern von Armut, Willkür und Unterdrückung berichtete. Deutsche Spezialisten, die angesichts der Wirtschaftskrise Arbeit in der Sowjetunion gesucht hatten, kamen in diesen Publikationen ebenso zu Wort wie geflohene Russen und deutsche Sozialisten, die dem sowjetischen System enttäuscht den Rücken gekehrt hatten.

Die Anti-Komintern-Publikationen erweisen sich als spannende Quellen, denn neben gängigen Klischees vom rückständigen, schmutzigen Osten und der jüdisch-bolschewistischen Herrschaft finden sich hier positive Charakterisierungen des russischen Volkes und offene Kritik am sowjetischen System von Terror, Lager und Zwangsarbeit. Implizit werden somit individuelle Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit als Prinzipien hochgehalten, während diese zeitgleich in Deutschland systematisch ausgehöhlt wurden. Die Gefahr, dass diese Kritik gegen das nationalsozialistische System selbst gerichtet werden könnte, wurde aber offenbar als gering erachtet – ein deutlicher Hinweis darauf, wie sicher die Nationalsozialisten sich der Unterstützung breiter Teile der Bevölkerung waren. Die Analyse des im Rahmen der anti-sowjetischen Propaganda „Sagbaren“ lohnt also, um den Charakter des NS-Regimes zwischen den Polen Terrorherrschaft und Zustimmungsdiktatur genauer zu bestimmen. Hier zeigt sich das Potential der entangled history, über den Blick auf Nuancen und zunächst paradox anmutende Aspekte der Auseinandersetzung mit dem ideologischen Kontrahenten neue Erkenntnisse über das jeweilige Regime hervorzubringen.

Wer sich auf den letzten Seiten von Dietrich Beyraus Beitrag „Mortal Embrace. Germans and (Soviet) Russians in the First Half of the Twentieth Century” die in Sammelbänden allzu oft ausbleibende zusammenfassende Diskussion der Beiträge erhofft, wird leider enttäuscht – hier handelt es sich statt einer Synthese um den unveränderten Abdruck der Einleitung einer Ausgabe der Zeitschrift Kritika aus dem Jahre 2009, in der die Aufsätze erstmals publiziert wurden.4 So sei dem Leser, der sich für eine prägnante Diskussion der russischen und deutschen Bilder vom jeweils anderen vom 19. Jahrhundert bis zum Zeitalter der Weltkriege interessiert, dazu geraten, Beyraus Text als Ergänzung zur Einleitung von Michael David-Fox zu lesen.

In der Gesamtschau des Bandes fällt der fast ausschließliche Fokus auf Situationen der Konfrontation und ideologischen Abgrenzung auf. Man vermisst demgegenüber die Untersuchung von Phasen der Kooperation – etwa die Rüstungszusammenarbeit in den 1920er-Jahren und die Zeit des Hitler-Stalin-Paktes. Auch hätte eine ausgewogenere Streuung der Aufsätze ein tiefergehendes Ausloten der Kontinuitäten und Brüche zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg ermöglicht. Gleichwohl ist das titelgebende Oszillieren zwischen Faszination und Feindseligkeit spannend zu beobachten, finden sich doch immer wieder Übernahmen und Abgrenzungen an unerwarteten Stellen, wenn etwa in nationalkonservativen Kreisen über ‚Nationalbolschewismus’ diskutiert (S. 8f., 84ff., 114) oder unter deutschen Kommunisten Schmutz und soziale Not in der Sowjetunion mit der überlegenen deutschen Zivilisation kontrastiert wurden (S. 68f.). Insgesamt handelt es sich hier um einen ebenso facettenreichen wie kohärenten Band, dem hoffentlich weitere Erkundungen zur Verflechtung von Deutschland und Russland im „Zeitalter der Extreme“ folgen werden.

Anmerkungen:
1 Gerd Koenen, Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900-1945, München 2005, S. 9.
2 Timothy Snyder, Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin, New York 2010. Vgl. die ausführlichen Rezensionen im Journal of Genocide Research 13 (2011), 3; sowie in Contemporary European History 21 (2012), 2.
3 Vgl. für den Zeitraum von 1914 bis 1945 die umfangreichen Bände aus der Reihe der west-östlichen Spiegelungen: Karl Eimermacher / Astrid Volpert (Hg.), Verführungen der Gewalt. Russen und Deutsche im Ersten und Zweiten Weltkrieg, München 2005; Dies. (Hg.), Stürmische Aufbrüche und enttäuschte Hoffnungen. Russen und Deutsche in der Zwischenkriegszeit, Paderborn 2005.
4 Kritika. Explorations in Russian and Eurasian history 10 (2009), 3.