E. Becker: Medicine, Law and the State in Imperial Russia

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Titel
Medicine, Law and the State in Imperial Russia.


Autor(en)
Becker, Elisa M.
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 399 S.
Preis
€ 36,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexandra Oberländer, Forschungsstelle Osteuropa, Universität Bremen

Der „Verbrecher“ am Ende des 19. Jahrhunderts war ein ganz anderer als noch 50 Jahre zuvor. War ein Mörder beispielsweise kriminell oder nicht eher krank? Diese Frage wurde im Verlaufe des 19. Jahrhunderts in den russischen Gerichten – ebenso wie in denen des westlichen Europas – oft verhandelt. Den Schuldspruch fällten die Geschworenen, das Urteil der Richter; doch die eigentliche Instanz, die über die Schuldfähigkeit des Delinquenten entschied, waren Mediziner. Von Medizinern im und vor Gericht handelt das Buch Elisa M. Beckers. Sie spannt den Bogen weit: Chronologisch von den Militärstatuten Peters des Großen aus dem Jahre 1716, in denen erstmals die Rolle der Mediziner rechtlich geregelt wurde, bis zum Auftauchen der Psychiatrie am Ende des 19. Jahrhunderts. Sie analysiert Rolle und Funktion der Medizin und untersucht die Reichweite medizinischer Gutachten vor Gericht. Im Rahmen der Rechtsreform der 1860er-Jahre kam es zwischen Juristen und Medizinern zu einer spannungsreichen Diskussion um die Rolle der Mediziner und ihres Wissens. Elisa Becker stellt diese Spannungen ausführlich dar und liefert einen längst überfälligen institutionengeschichtlich inspirierten Beitrag zur Entstehung dessen, was heute gemeinhin als Gerichtsmedizin bezeichnet wird.

Becker skizziert, wie sich seit dem frühen 18. Jahrhundert in Russland Wissenschaftssphären des Rechts und der Medizin differenzierten und entwickelten. Sie betont die russischen Besonderheiten, ohne die Gemeinsamkeiten mit der westeuropäischen Entwicklung zu vergessen. Im Unterschied zum übrigen Europa vereinten die russischen Mediziner drei Funktionen in einer Person, die andernorts getrennt waren: die forensische, polizeiliche und therapeutische. Deshalb ist die Ausbildung der Medizin als Wissenschaftsdisziplin im ausgehenden 19. Jahrhundert ohne ihre Aufgaben vor Gericht nicht zu denken, so Becker. Weiterhin ist für sie die Inanspruchnahme des Ärztestandes durch die Autokratie typisch. Das riesige russische Territorium, dessen Verwaltung sich vor allem durch Personalmangel auszeichnete, wurde durch Pflichten und eng beschriebene Aufgaben regiert und weniger durch freiheitliche Entscheidungen von einzelnen. Trotzdem, so die Hauptthese Beckers, seien die Ärzte kaum kritisch gegenüber der Autokratie gewesen, sondern hätten sich mit dieser arrangiert.

Damit beteiligt sich Becker an einer der großen Debatten zur Geschichte des späten Zarenreiches. Die Russlandforschung des 19. Jahrhunderts geht gerne davon aus, dass die Professionalisierung und Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Berufe eine alternative, autokratiekritische BürgerInnengesellschaft hervorbrachte. Juristen wie Mediziner gelten als die Vorhut des Liberalismus, der in Russland angeblich 1905 und dann endgültig 1917 scheiterte. Elisa M. Becker hingegen betont, dass sich die Mediziner keineswegs gegen die Autokratie und den Zaren ihren Platz in der russischen Gesellschaft gesucht hätten, sondern die Identitätsangebote des Staates bereitwillig annahmen. Die Mediziner suchten nach Autonomie von der Autokratie und fanden die Autonomie in der Autokratie, so Beckers dialektische These (S. 269).

Gleichwohl leugnet Elisa Becker das konflikthafte Verhältnis zwischen den Medizinern und der Autokratie nicht, sondern schildert den Kampf der Mediziner um ihren seit den 1860er-Jahren zunächst schwindenden Einfluss vor Gericht. Praktizierende Ärzte waren nach der Rechtsreform 1864 und der Einführung der Geschworenengerichte seit 1866 verpflichtet, Gutachten für die untersuchungsrichterlichen Ermittlungen zu erstellen, vor Gericht zu erscheinen und womöglich erneute Gutachten anzufertigen. Entlohnt wurden diese Tätigkeiten nicht, im Gegenteil: Das Gericht war sogar berechtigt, drakonische Geldstrafen gegen nicht vor Gericht erscheinende Ärzte zu verhängen. Zwar waren ihre Gutachten teils prozessentscheidend, doch formal wurden die Mediziner als bloße Zeugen behandelt.

Mit dieser Degradierung hatten die Mediziner seit der Rechtsreform von 1864 einen Teil des Status verloren, den sie noch unter den von Becker als „Inquisitionsverfahren“ bezeichneten Gerichtsprozessen seit Peter dem Großen gehabt hatten. Damals, so Becker, sei die Autorität der Ärzte von niemandem bestritten worden. Richter zogen die Aussagen der ärztlichen Gutachten nicht in Zweifel. Die Ärzte produzierten Fakten, an denen sich die Richter zu orientieren hatten. Nach der Rechtsreform häuften sich Eifersüchteleien über die Relevanz medizinischer Gutachten vor Gericht. Anders als im 18. Jahrhundert war die Meinung des Arztes nicht mehr unangefochtene Richtschnur für das Urteil des Richters, sondern lediglich eine Interpretation, die genauso einer richterlichen Überprüfung unterlag wie alle anderen Zeugenaussagen.

Spätestens an dieser Stelle zeigt sich eine entscheidende Schwäche in Beckers Untersuchung. Sie legt zu viel Gewicht auf die Klagen der Ärzte. Dadurch, dass Becker nur wenige Gerichtsakten selbst, sondern vornehmlich die Akten des Medizinischen Rates oder der Reformkommissionen zur Kenntnis nimmt, entgeht ihr die oftmals prozessentscheidende Stellung, die Ärzte nach wie vor innehatten. Spätestens seit den 1880er-Jahren war eine der zentralen Fragen vor Gericht die der Schuldfähigkeit des Angeklagten. Auch wenn vielleicht im einzelnen Urteil den ärztlichen Gutachten nicht genug Gehör geschenkt worden sein mag, so zeigt doch allein die Bedeutung dieser Frage in nahezu jedem strafrechtlichen Prozess die wichtige Stellung, die die Medizin im Gerichtssaal nach wie vor hatte (und die nicht nur den Juristen viel zu weit ging). Das weiß auch Becker, weist sie doch auf eben jene Diskussionen hin. Dennoch haben bei ihr die Klagen der Mediziner meist mehr Gewicht als anderslautende Positionen.

Eine weitere Schwierigkeit des Buches liegt in Beckers Perspektive. Das Recht wird zu häufig als Repräsentant der Autokratie verstanden. Dabei geht vor allem verloren, dass die Juristen – so wenig wie die Mediziner des Russischen Imperiums – keine einheitliche Gruppe waren. Unter ihnen befanden sich Liberale wie Monarchisten, Befürworter wie Kritiker der Gerichtsmedizin und ihrer Gutachten. Beckers Fokus auf die Berufsgruppen nivelliert ihre soziale und kulturelle Vielfalt. Kein Wort vom Idealtyp des reisenden Bezirksrichters oder des überarbeiteten Provinzarztes, dem eine weniger zentrale Rolle vor Gericht vermutlich zupass gekommen wäre. Die Schriften, die Becker für ihre Institutionengeschichte zu Rate gezogen hat, sind ausschließlich von der medizinischen und juristischen Elite Russlands verfasst worden. Über die Bedingungen, unter denen die Mehrheit der gerichtsmedizinischen Gutachten entstanden ist, erfährt man deshalb wenig. Insofern bleibt das Buch eine „klassische“ Institutionengeschichte und verrät nur wenig über die Praxis der Menschen, die sich in diesen Institutionen bewegten.

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