U. Engel u.a. (Hrsg.):Erinnerungskulturen in transnationaler Perspektive

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Titel
Erinnerungskulturen in transnationaler Perspektive.


Herausgeber
Engel, Ulf; Middell, Matthias; Troebst, Stefan
Reihe
Transnationalisierung und Regionalisierung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart 5
Erschienen
Anzahl Seiten
253 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Heinlein, Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität München

Würde man als interessierter Beobachter des Wissenschaftssystems nach der thematischen Schnittmenge der Geschichts-, Kultur-, Literatur- und Sozialwissenschaften der letzten zehn Jahre fragen, würde man (unter anderem) auf zwei Felder stoßen, die sich mittlerweile in jeder der genannten Wissenschaften der professionellen Dauerbeobachtung sicher sein können: die Transnationalität bzw. Transnationalisierung gesellschaftlicher, kultureller und politischer Prozesse einerseits sowie die eng verschränkten Phänomene des Gedächtnisses, der Erinnerung und des Vergessens andererseits. Der vorliegende Sammelband hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese beiden Gebiete entlang konkreter empirischer Felder systematisch miteinander zu verknüpfen. Im Vorwort kritisieren die Herausgeber dann auch folgerichtig „die gängige national(staatlich)e Engführung kulturwissenschaftlicher Forschung im Bereich der europabezogenen Memory Studies“ (S. 10). Die Herausforderungen, die ein Aufbrechen dieser Engführung mit sich bringt, kann ein einzelner Sammelband natürlich nicht vollends meistern, doch gibt das Buch einen erfreulich breiten und sorgfältig komponierten Überblick zur Praxis des transnational(isiert)en Gedenkens und Erinnerns insbesondere an den Holocaust und den Mauerfall, ergänzt um „periphere“ und „semi-periphere“ europäische Erinnerungsereignisse (wie es die Herausgeber formulieren).

Der sowohl deutsch- als auch englischsprachige Beiträge umfassende Band ist hervorgegangen aus der siebten internationalen Sommerschule am Graduiertenzentrum Geistes- und Sozialwissenschaften der Research Academy Leipzig zum Thema „Erinnerungskulturen in transkultureller und transnationaler Perspektive/Memory in Transcultural and Transnational Perspective“. Die Sommerschule fand im Herbst 2009 statt und beleuchtete das Themenfeld in einer beeindruckenden Breite – mit insgesamt 14 Panels zu den unterschiedlichsten Fragestellungen (von der „Unmöglichkeit des kulturellen Gedächtnisses“ über „visuelle Erinnerungen“ hin zu „Musik als Erinnerungsmedium“). Aus diesen 14 Panels wurden 14 Einzelbeiträge ausgewählt und ergänzt um ein Vorwort der Herausgeber sowie eine an den Grenzen und Differenzierungen des europäischen Gedächtnisses interessierte Einleitung von Stefan Troebst. Die Auswahlkriterien bleiben dabei ebenso im Dunkeln wie die Frage, inwieweit die Texte die internationale Sommerschule inhaltlich und personell repräsentieren. Festzuhalten ist, dass der Großteil der Beiträge von Doktorandinnen und Doktoranden verfasst wurde und sich entsprechend auf die jeweiligen Promotionsvorhaben beziehen dürfte; das Vorwort schweigt sich auch dazu leider aus. Für die Veröffentlichung haben sich die Herausgeber (sinnvollerweise) entschieden, die Struktur der Sommerschule aufzubrechen und die Beiträge nur noch drei Abteilungen zuzuordnen.

Die erste Abteilung widmet sich mit sechs Beiträgen den transnationalen Bezügen in der Erinnerung an den Nationalsozialismus. Frank Usbeck analysiert, auf welche Weise „Indianthusiasm“, das heißt die romantisierende Auseinandersetzung mit nordamerikanischen Indianergesellschaften, die Identitätsbildung der extremen Rechten in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts und während der NS-Zeit beeinflusst hat. Merle Funkenberg widmet sich den „Opferzeugen“ im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965) und ihren in der Forschung bisher wenig beachteten Interaktionen mit ehrenamtlichen deutschen Betreuern. Der Beitrag von Melanie Eulitz beschäftigt sich unter dem Begriff der „immigrierten Erinnerung“ mit dem spannungsreichen Aufeinandertreffen und dem sukzessiven Verändern der Erinnerungen und Selbstverständnisse von Jüdinnen und Juden, die in den 1990er-Jahren aus Gebieten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland eingewandert sind, dort auf Jüdinnen und Juden getroffen sind, „die viele Jahre von der deutschen Öffentlichkeit als Mahnmal verstanden wurden bzw. sich selbst als Mahnmal wahrgenommen haben“ (S. 47), und mittlerweile die jüdischen Gemeinden in Deutschland dominieren. David Christopher Stoop rekonstruiert die von unterschiedlichen ökonomischen und pädagogischen Interessen durchzogene Debatte um die gegenwärtige Nutzung der NS-Ordensburg Vogelsang in der Eifel und interpretiert diese Debatte als „Kampf“ um einen Ort der europäischen Erinnerung. Daniel Stahl lenkt den Blick weg von Deutschland und Europa nach Südamerika und zeigt, dass die „Entdeckung“ des Holocaust-Gedenkens als politisches Betätigungsfeld in Argentinien und die damit verbundene Geschichtsrevision eine Folge transnationaler Aushandlungsprozesse darstellt. Leonie Treber rundet die erste Sektion mit kritischen Überlegungen zur Darstellung und Rezeption deutscher Trümmerfrauen in massenmedial verbreiteten Fotografien ab.

In der zweiten Abteilung des Sammelbands finden sich drei Beiträge, die sich mit dem Jahr 1989 und den damit verbundenen Veränderungen der Erinnerungskulturen beschäftigen. Kirsten Gerland diskutiert in ihrem gesellschafts- und identitätstheoretisch orientierten Artikel die Generation der „89er“ und fragt dabei auch nach den Möglichkeiten einer als Generation gerahmten globalen Erinnerungsgemeinschaft. Marina Renault verfolgt die deutsche Erinnerung an den Mauerfall 20 Jahre nach dem Geschehen; sie stellt einen Zusammenhang her zu den Konzepten des „nation-building“ und „nation-branding“. Jens Kroh begibt sich auf die Suche nach den Ursprüngen der europäischen Geschichtspolitik, indem er den „Stockholm Process“ näher betrachtet. Dieser umfasst nicht nur die Gründung der „Task Force für Internationale Kooperation bei Holocaust-Bildung, Gedenken und Forschung“ (ITF) (deren Name vor Kurzem in „International Holocaust Remembrance Alliance“ [IHRA] geändert wurde) im Jahr 1998, sondern bezieht sich auch auf das im Januar 2000 veranstaltete, für das europäische Holocaust-Gedenken zentrale „Stockholm International Forum on the Holocaust“.

Die im Vergleich zu den beiden vorhergehenden Blöcken thematisch recht ‚bunt‘ organisierte dritte Abteilung ergänzt den Sammelband schließlich um fünf Beiträge, die Erinnerungskulturen in den Peripherien und Semi-Peripherien Europas beschreiben und analysieren. Anahid Babayan widmet sich dem komplexen Fall Armenien, das 1991 seine Unabhängigkeit von der sowjetischen Herrschaft erlangte, jedoch bereits zwischen 1918 und 1920 eine demokratische Phase erlebte. Die Autorin fragt, inwiefern aus der Erinnerung an diese Zeit Lehren für die von einer schleppenden Demokratisierung geprägte Gegenwart gezogen werden können. Patrizia Kern untersucht das im August 2002 eröffnete „Atatürk and the War of Independence Museum“ in Ankara; sie zeigt die vielfältigen Verflechtungen des Museums mit der öffentlichen Erinnerung in der Türkei auf. Felix Münch analysiert die Geschichtspolitik des ehemaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko und konzentriert sich dabei auf den Januar 2010, als Juschtschenko im Sinne eines „letzten Kampfes um Anerkennung“ unermüdlich mit einer „Festigung und Propagierung eines nationalukrainischen Geschichtsbildes“ (S. 199) beschäftigt war. Aline Sierp skizziert die von spannungsreichen politischen Interessen durchzogene Entwicklung des italienischen Nachkriegsgedächtnisses und adressiert dabei auch die Dimension einer europäischen Erinnerung. Marije Hristova schließt den Sammelband ab mit einer Untersuchung der von den spanischen Journalisten Juan Goytisolo und Javier Reverte verfassten Beschreibungen des Bosnienkriegs im Jahr 1992. In diesen Beschreibungen wurden die spanische und bosnische (Kriegs-)Geschichte verknüpft und damit auf je individuelle Weise transnationale Erinnerungsräume aufgespannt.

Trotz dieser inspirierenden Fülle an empirischen Bezügen, Fragen und analytischen Zugängen lassen sich zwei Kritikpunkte an der Konzeption des Sammelbands formulieren: Der erste Punkt betrifft die Frage nach der Beobachterperspektive, die schon im Titel des Bands als „transnational“ ausgewiesen wird. Der Impetus, mit dem der Perspektivwechsel von „national“ zu „transnational“ nicht zuletzt im Vorwort der Herausgeber artikuliert wird, deckt sich nicht vollständig mit dem Eindruck, den die Lektüre des Sammelbands hinterlässt. Worin genau die Transnationalität der Perspektive liegt, bleibt in vielen Beiträgen offen, da ganz überwiegend nationale Kontexte und nationale Binnenprozesse der Erinnerung thematisiert werden. Zwar wird immer wieder Bezug genommen auf Topoi und Narrative, die aus anderen (Erinnerungs-)Kulturen und nationalen Zusammenhängen stammen, doch dies erschließt noch keine Erinnerungsräume, die jenseits national(staatlich)er Kontexte angesiedelt sind und sich dort mitunter spannungsreich entfalten.

Der zweite, letztlich eng mit dem ersten Einwand verbundene Punkt betrifft die theoretische und methodologische Fundierung. So detail- und materialreich die empirischen Bezüge in den Texten nämlich entfaltet werden, so blass bleibt auf der anderen Seite die Rezeption und Entwicklung theoretischer Figuren und method(olog)ischer Ansätze, die einem tieferen Verständnis des Zusammenwirkens von Erinnerung und Transnationalisierung dienen könnten. (Ausnahmen stellen die Einleitung sowie die Beiträge von Melanie Eulitz und Kirsten Gerland dar.) Dazu gehört auch, dass nicht immer klar genug vermittelt wird, an welchen Begriffen und Verständnissen von Erinnerung und Transnationalisierung sich die materialen Analysen denn nun orientieren. (Neben den eben genannten Beiträgen verweisen Aline Sierp und Marije Hristova immerhin auf etablierte Theorietraditionen.) Ein entsprechendes Resümee der Herausgeber, das von der empirischen Vielfalt der Beiträge abstrahieren und konzeptionell-analytische sowie theoretische Bau- und Leerstellen sichtbar machen würde, oder aber ein den Analysen vorangestellter Artikel, der explizit Theorie- und Methodenprobleme adressieren könnte, die sich mit der Verknüpfung von (Konzepten der) Transnationalisierung und Erinnerung ergeben, hätte diesbezüglich für mehr Tiefenschärfe gesorgt.

Ungeachtet dieser Kritik bietet der vorliegende Sammelband ein spannendes, gut lesbares und sorgsam zusammengestelltes Kaleidoskop des transnational(isiert)en Erinnerns im Europa der Gegenwart. Er dürfte für jede Leserin und jeden Leser lohnend sein, die bzw. der sich für die Europäisierung und Transnationalisierung nationaler Erinnerungsräume interessiert.