W. Vergin: Das Imperium Romanum und seine Gegenwelten

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Titel
Das Imperium Romanum und seine Gegenwelten. Die geographisch-ethnographischen Exkurse in den „Res Gestae“ des Ammianus Marcellinus


Autor(en)
Vergin, Wiebke
Reihe
Millennium-Studien 41
Erschienen
Berlin 2013: de Gruyter
Anzahl Seiten
X, 316 S.
Preis
€ 109,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dariusz Brodka, Instytut Filologii Klasycznej, Uniwersytet Jagielloński, Kraków

Das Geschichtswerk des Ammianus Marcellinus steht seit einigen Jahren verstärkt im Fokus der modernen Forschung, wobei es immer intensiver mit Hilfe der modernen literaturwissenschaftlichen Theorien untersucht wird.1 Mit wachsendem Interesse werden auch die geographischen und ethnographischen Exkurse erforscht, wovon vor allem zwei umfangreiche Kommentare Feracos zeugen.2 Im Rahmen dieses Forschungsfeldes ist auch die Arbeit von Wiebke Vergin zu verorten, die überarbeitete Fassung einer Rostocker Dissertation.

Vergin geht davon aus, dass Ammians geographisch-ethnographische Exkurse bisher häufig nur im Hinblick auf ihre Unterhaltungs- und Belehrungsfunktion untersucht wurden, während ihr kontextgebundener Inhalt wenig Beachtung fand. Daher will sie der Frage nachgehen, inwiefern die Haupthandlung der „Res Gestae“ von den geographisch-ethnographischen Exkursen profitiert und welchen argumentativen Ertrag diese Einschübe für den Erkenntnisgewinn der Rezipienten boten (S. 10). Der Konzeption des Buches liegt die Vorstellung von „Identität“ und „Alterität“ zugrunde. Dieses Begriffspaar wertet Vergin als „ein Grundverhältnis jeder sozialen Ordnung und kulturellen Disposition, um den eigenen Lebensentwurf in seinen Strukturen und Wertsetzungen darzustellen und zu legitimieren“ (S. 26). So wird die eigene Identität aus dem Gegensatz zum Anderen definiert. Die Alteritäten werden in den sogenannten Gegenwelten verortet, die sowohl fremde Lebenswelten als auch mythische und imaginäre Welten umfassen. Diese Gegenwelten, die im Bewusstsein einzelner Gesellschaften existieren, können entweder Alternativen zur eigenen Lebensordnung bilden oder die Ängste einer Gruppe widerspiegeln (S. 26f.). In der Praxis besteht eine solche Gegenwelt aus bestimmten Topoi über fremde Welten; und gerade diese Topoi, die Ammians geographische und ethnographische Exkurse beherrschen, stehen im Fokus der Untersuchung Vergins, die mit Recht annimmt, dass das antike Bild des Anderen trotz aller politischen Veränderungen konservativ war. Die Frage, inwieweit sich Ammians Ausführungen in den einzelnen Exkursen mit den Erkenntnissen der modernen Forschung über die beschriebenen Völker und Länder decken, spielt hingegen in dieser Untersuchung keine Rolle.

Die ersten zwei Kapitel haben einen einführenden Charakter. Sie behandeln aus der Perspektive der Theorie der antiken Geschichtsschreibung das Problem der Exkurse im Werk Ammians (S. 12–25) und das Weltbild des Historikers (S. 26–44). Hier werden zwei Prämissen herausgearbeitet, die bei der folgenden Analyse der ethnographischen und geographischen Exkurse berücksichtigt werden: Zum einen werden die Exkurse als rhetorisch gestaltete Texte betrachtet, zum anderen nimmt Vergin an, dass sich Ammians Fremdenbild in den Exkursen vor allem aus den Topoi konstituiert, die sich in den traditionellen Vorstellungen über die beschriebenen Völker finden; Ammians Fremdenbild gründe also auf bereits existierendes Wissen über die einzelnen Völker (S. 31f.). Diese zweite Prämisse kann allerdings als auch ein Ergebnis der Untersuchung betrachtet werden, denn erst die detaillierten Analysen der einzelnen Exkurse zeigen, wie stark die Bilder der Völker bzw. Länder von den bestehenden Gemeinplätzen der griechisch-lateinischen Literatur abhängig sind und wie sehr sie auf das bestehende Vorwissen der Rezipienten rekurrieren.

Der Hauptteil des Buches besteht aus vier Kapiteln, die sich mit vier „Alteritätskonstruktionen“ befassen, welche sich laut Vergin in den Exkursen erkennen lassen. Zuerst widmet sich Vergin den Germanen und Galliern (Alteritätskonstruktion I: Germanen und Gallier bei Ammian, S. 45–85), indem sie die Exkurse über den Rhein und den Bodensee (Amm. 15,4,2–6) sowie über Gallien (Amm. 15,9–12) analysiert. Sie zeigt auf, wie der Historiker auf die traditionellen Vorstellungen über die Germanen zurückgreift, um durch die Darstellung der wilden Region um den Oberrhein und den Bodensee, die als Heimat der Alammanen betrachtet wird, den Topos des metus Germanicus hervorzurufen. In der Analyse des Gallien-Exkurses wird vor allem auf Ammians Tendenz hingewiesen, diese Region als einen Erinnerungsraum darzustellen. Mit überzeugenden Argumenten wird so gezeigt, dass die Germanen und Gallier in den „Res Gestae“ als Komponenten des römischen kulturellen Gedächtnisses konzipiert werden.

Es finden sich hier aber auch einige Einzelinterpretationen, die fraglich bleiben. Vergin meint etwa, dass Ammian mit seiner Präsentation der gallischen Mentalität seinen Rezipienten eine Schablone liefere, durch die diese Rückschlüsse auf die Bewohner der Gebiete ziehen können (S. 82). Dieser Meinung kann man völlig zustimmen, weil die Elemente dieser Charakteristik auch im Hauptbericht ihre Entsprechung finden (vgl. zum Beispiel Amm. 30,10,1). Mit der anschließenden Feststellung, dass der ethnographische Abriss über die Gallier das Bedrohungspotential der Bewohner dieser Region versinnbildliche, wobei so Galli und Germani auf die gleiche Stufe gestellt werden, kann der Rezensent jedoch nicht übereinstimmen: Warum sollten Ammian oder seine Rezipienten die römische Bevölkerung Galliens als ähnliche Bedrohung wie die Alamannen begreifen? Es fehlt wohl in diesem Kapitel an einigen Stellen eine klare zeitliche Perspektive – zum einen geht es hier um die Vergangenheit, die in beiden Exkursen evoziert wird, zum anderen um den inneren Zusammenhang der Exkurse mit der zeitgeschichtlichen Haupthandlung. So bleibt letztlich unklar, ob Vergin den Begriff Barbaricum, wie er von Ammian in den Exkursen über Rhein und Bodensee sowie über Gallien entworfen wird, nur auf die Vergangenheit Galliens oder auch auf das zeitgenössische Gallien bezieht (vgl. zum Beispiel S. 43).

Im nächsten Kapitel wird der Exkurs über Persien behandelt (Alteritätskonstruktion II: Der alius orbis Persien, S. 86–126). Hier werden die Eigenschaften der persischen Gegenwelt überzeugend herausgearbeitet, so dass die Kontextgebundenheit dieses Exkurses auf verschiedenen Ebenen verdeutlicht wird. Anschließend konzentriert sich Vergin auf die Exkurse über die Provinzen des Orients (Amm. 14,8,1–15), über den Pass von Succi (Amm. 21,10,3–4), über Thrakien und die Regionen am Schwarzen Meer (Amm. 22, 8) sowie über Ägypten (Amm. 22,15–16) (Alteritätskonstruktion III: Der Orbis Romanus, S. 127–210). Sie meint zu Recht, dass diese Exkurse vor allem eine Unterhaltungsfunktion verfolgen. Gleichzeitig erkennt sie darin auch eine argumentative Strategie Ammians. Es gehe hier ebenfalls darum, die Regierungszeit Julians zu strecken, um vom frühen Tod des Kaisers während seines Persienfeldzugs abzulenken. Mit diesen Texten wendet sich Ammian an ein sehr gebildetes Publikum, denn diese Ablenkung erfolgt durch ein intellektuelles Spiel mit literarischen Genres und Sujets, das nur von gut geschulten Rezipienten verstanden werden konnte (S. 209f.). Auch in diesem Kapitel sind allerdings Interpretationen zu finden, die man für allzu kühn halten kann. Zu bezweifeln ist so die These, dass Ammian den Pass von Succi als eine Grenze zwischen Imperium Romanum und einer „Gegenwelt“ begreife und durch entsprechende Bilder in der Beschreibung des Passes das Bedrohungspotential dieser barbarischen Gegenwelt kommuniziere (S. 144).

Im letzten Kapitel (Alteritätskonstruktionen IV: Nomaden bei Ammian, S. 211–276) befasst sich Vergin mit dem Nomadenbild Ammians, wobei hier nicht nur die Exkurse über die Hunnen und Alanen (Amm. 31,2), sondern auch der Exkurs über die Sarazenen (Amm. 14,4) und die beiden Rom-Exkurse (Amm. 14,6; 28,4) analysiert werden. Der erste Teil des Kapitels ist indes den Goten gewidmet. Zwar findet sich bei Ammian kein ethnographischer Exkurs über dieses Volk, Vergin versucht jedoch dem Exkurs über Thrakien (Amm. 27,4) den Gedanken zu entnehmen, dass diese Region in den letzten Büchern der „Res Gestae“ von Ammian als eine (literarische) Heimat der Goten konzipiert werde (S. 213 u. 239f.), wobei der Autor die alten Skordisken und Odrysen stellvertretend für die zeitgenössischen Goten nenne. Die von Vergin zur Untermauerung ihrer These herangezogenen Argumente sind aber wenig überzeugend. Es verwundert zudem, dass die beiden Rom-Exkurse gerade in diesem Teil analysiert werden. Allerdings charakterisiert Vergin beide als ethnographische Exkurse (S. 241). Sie verweist auf die von Ammian dargestellte moralische Dekadenz der stadtrömischen Bevölkerung und betont den Gegensatz zwischen den Stadtrömern und den Nomaden. Zu beachten wäre dabei aber die Frage, in welchem Maß man den in beiden Rom-Exkursen dargestellten moralischen Verfall der Bewohner Roms auf das ganze Imperium Romanum übertragen kann.

In der Analyse der Ausführungen Ammians zu den Nomaden wird klar gezeigt, wie stark er die herkömmlichen Nomadentopoi rezipiert. Es gehe ihm dabei vor allem darum, das Bedrohungspotential insbesondere der Hunnen zu betonen (S. 259ff. u. 275). Bei der Analyse der Nomadenexkurse verweist Vergin insbesondere auf ihre kontextgebundene Funktion: Indem Ammian die Nomaden mit den bekannten Topoi darstelle und so zeige, dass diese Gegner insgesamt bekannt seien, drücke er seinen Optimismus aus, weil auch diese neuen Feinde ähnlich wie die alten zu besiegen seien. Allerdings ist Vergin der Meinung, dass Ammians Belehrung des Lesers vor allem moralischer Art ist: Nur, wenn sich das römische Volk auf sein kulturelles Erbe besinne, könne der drohende Niedergang des Römischen Reiches aufgehalten werden (S. 275). Die Frage nach den Methoden der Krisenbewältigung ist aber meines Erachtens nicht so einseitig zu beantworten und man kann auch auf andere Lösungen verweisen.3 In diesem Teil gibt es ebenfalls zuweilen gewisse Vereinfachungen, etwa wenn Vergin feststellt, dass alle späteren Berichte über die Hunnen in ihrem Kern von Ammian abstammen (S. 253). Die Arbeit endet mit einem Appendix (Flüsse als Konstituenten römischer Raum- und Herrschaftsauffassung, S. 277–283) und einer Zusammenfassung (S. 284–287).

Vergin kann überzeugend aufzeigen, dass die Exkurse in Ammians „Res Gestae“ nicht allein auf die Unterhaltung der Rezipienten abzielen, sondern auch in einem engen Zusammenhang zur Rahmenhandlung stehen. Damit liefert sie einen wichtigen Beitrag zur Beurteilung der historiographischen Kunst Ammians sowie seiner Bedeutung als Geograph und Ethnograph. Es finden sich in diesem Buch zwar gewisse Vereinfachungen und Fehlinterpretationen, trotzdem bildet Vergins Monographie insgesamt eine wertvolle Studie, von der die Ammianforschung zweifelsohne profitieren kann.

Anmerkungen:
1 Vgl. insbesondere Frank Wittchow, Exemplarisches Erzählen bei Ammianus Marcellinus. Episode, Exemplum, Anekdote, Leipzig 2001 und Gavin Kelly, Ammianus Marcellinus. The Allusive Historian, Cambridge 2008.
2 Fabrizio Feraco, Ammiano geografo. La digressione sulla Persia (23,6), Napoli 2004; ders., Ammiano geografo. Nuovi studi, Napoli 2011.
3 Vgl. dazu Dariusz Brodka, Die Romideologie in der römischen Literatur der Spätantike, Frankfurt am Main 1998, S. 60f.

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