M. Haller u.a. (Hrsg.): Der Mythos vom Niedergang der Intelligenz

Titel
Der Mythos vom Niedergang der Intelligenz. Von Galton zu Sarrazin. Die Denkmuster und Denkfehler der Eugenik


Herausgeber
Haller, Michael; Niggeschmidt, Martin
Erschienen
Anzahl Seiten
212 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norbert Finzsch, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Dies ist ein sachliches Buch, dies ist ein überfälliges Buch. Michael Haller und Martin Niggeschmidt haben als Herausgeber in hervorragender Weise dafür gesorgt, dass Expertinnen und Experten aus verschiedenen Disziplinen sich der verqueren Thesen Thilo Sarrazins annehmen und sie sachgerecht tranchieren. Unter den Beiträger/innen finden sich illustre Namen wie Peter Weingart und Sander L. Gilman, Diethart Tautz und Thomas Etzemüller, aber auch die beteiligten jüngeren Wissenschaftler/innen gefallen durch sachliche Kritik und wohlfundiertes Urteil.

Das Buch ist in drei etwa gleich lange Abschnitte geteilt. Im ersten Abschnitt beschäftigen sich Peter Weingart, Claus-Peter Sesin und Andreas Kemper mit dem „Missbrauch der Wissenschaft“ durch Sarrazin. Das Missbrauchslabel ist irreführend. Es insinuiert, es gäbe so etwas wie einen akzeptablen Gebrauch der Wissenschaft, der aber auch pervertiert werden könne. Wissenschaft im Sinne von „science“ und „humanities“ ist aber zu allen Zeiten gebraucht worden, um Macht zu etablieren und zu stützen, wie auch die gleiche Wissenschaft sich der Macht immer wieder widersetzt hat. Wissenschaft ist Teil des Wissen/Macht-Dispositivs und als solche immer schon (miss)gebraucht. Ihre Standortgebundenheit und ihr ideologischer Gehalt offenbaren sich oft erst in der historischen Analyse, während Zeitgenoss/innen sich schwer darin tun, die Macht erhaltende und Macht generierende Seite der Wissenschaft zu orten. Peter Weingart weiß um diese Problematik. Er kann die Frage, ob Sarrazin ein Eugeniker sei, mit einem klaren Ja beantworten. Sesin setzt sich mit den US-amerikanischen Quellen Sarrazins auseinander, unter anderem dem ominösen Buch von Richard Herrnstein und Charles Murray „The Bell Curve“, das schon viele der Argumente Sarrazins enthält und auf das sich letzterer implizit und explizit bezieht. Andreas Kemper schließlich analysiert die deutschen Quellen Sarrazins, zu denen zum Entsetzen des Rezensenten auch der Bremer Soziologe Gunnar Heinsohn gehört, aber auch Wissenschaftler, die aus dem Dunstkreis der neonazistischen Szene stammen.

Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit dem weiteren Kontext des Buches von Thilo Sarrazin, dem unterstellten Zusammenhang von Intelligenz, Bildung und Genetik. Sander Gilman, der Universalgelehrte aus Atlanta, der sich mit seinem Buch „Die schlauen Juden. Über ein dummes Vorurteil“1 schon lange vor Sarrazins antisemitischen Ausfällen zur angeblichen intellektuellen Überlegenheit von Jüdinnen und Juden positioniert hatte, beantwortet die Frage, „Sind Juden genetisch anders?“. Leonie Knebel und Pit Marquardt gehen dem Problem der Intelligenzforschung nach. Sie zeigen, wie standortgebunden die Debatte um IQ-Tests war und auch heute noch ist und wo die blinden Flecken der IQ-Messmethoden liegen. Diethart Tautz, Direktor des Max-Planck-Instituts für Evolutionsbiologie, zeigt, wieso es beim Menschen keine monogenetische Eigenschaft gibt, die sich aus den Mendelschen Vererbungsgesetzen erklären ließe. Damit ist auch die Vorstellung erledigt, die Intelligenz der Einwohner Deutschlands könne durch „Gegenauslese“ à la Sarrazin absinken. Besonders begeistert hat den Rezensenten der Beitrag Coskun Canans, der die These von der Bildungsunfähigkeit und Bildungsferne muslimischer Migrant/innen und muslimischer Deutscher ad absurdum führt. Beim Bildungserfolg komme es nicht auf Religionszugehörigkeit, sondern vielmehr auf sozio-strukturelle Faktoren an.

Der dritte Abschnitt thematisiert den Hintergrund der Causa Sarrazin, das heißt den Streit um die „natürliche“ Ordnung der Gesellschaft. Der Streit um den „Abstieg“ wird immer wieder in gesellschaftlichen Krisensituationen geführt, egal ob durch Robert Malthus, Friedrich Burgdörfer, Herwig Birg oder die Theoretiker des Natalismus in Frankreich nach der Niederlage im franko-preußischen Krieg von 1870/71. Der kürzeste und in meinen Augen wegen seiner Knappheit enttäuschendste Beitrag von Fabian Kessl widmet sich dem Gerede von der „neuen Unterschicht“, zu dem auch prominente Berliner Historiker und Kanzlerinnenberater beigetragen haben. Nicht sozialstaatliche Leistungen hätten zum Ansteigen der Armut in Deutschland geführt, vielmehr sei der Abbau des sozialen Netzes an der Entstehung neuer Armut schuld. Dieses Argument hätte einer ausführlicheren Exposition und einer materialreicheren Durchführung bedurft, um wirklich überzeugend zu sein. Rainer Geißler beschließt den Band mit einem Ausblick auf die ausstehende Reform des deutschen Bildungssystems, das, wie unabhängige Studien gezeigt haben, schlechte soziale Startbedingungen nicht eliminiert, sondern ihre Wirkung als strukturelle Benachteiligung vertieft.

Ein Wort der Kritik sei gestattet: Man kommt Sarrazin und Konsorten mit dem Ansatz der „Denkfehler“ nicht bei. Es geht ja hier nicht (nur) um Ideologiekritik. Immerhin unterstützte die Mehrheit der deutschen Befragten die Thesen Sarrazins, ohne sich mit dem wissenschaftlichen Gehalt der Eugenik beschäftigt zu haben. Eine stärkere diskurstheoretische Durchdringung hätte dem vorliegenden Band eine angemessenere Berücksichtigung des Faktors „Macht“ erlaubt und unterstrichen, warum Sarrazin kein Einzelfall war und bleiben wird. Dennoch: Dies ist ein sachliches Buch, dies ist ein längst überfälliges Buch.

Anmerkung:
1 Gilman, Sander L., Die schlauen Juden. Über ein dummes Vorurteil. Aus dem Amerikan. V. Brigitte Stein, Hildesheim 1998.

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