L. Aron: Roads to the Temple

Cover
Titel
Roads to the Temple. Truth, Memory, Ideas, and Ideals in the Making of the Russian Revolution, 1987–1991


Autor(en)
Aron, Leon
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 483 S.
Preis
$ 40.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Walter Sperling, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Es gibt Bücher, die sind erbaulich. Die Bibel, zum Beispiel. Oder Heinrich August Winklers Zweibänder über Deutschlands langen Weg in den Westen. Leon Aron, Politologe an einem Think Tank in den USA, hat ebenfalls ein solches Buch schreiben wollen – „a history in which the human spirit appears from the highest point of view“ (S. 7). Es geht ihm um das Ende der Sowjetunion, das er als eine Romanze erzählt – als einen Aufbruch des Kollektivhelden, dem es trotz Widrigkeiten gelingt, über seinen eigenen Schatten zu springen. In einer Romanze, daran erinnerte uns Hayden White in seinem Buch über die Meistererzählung in der Geschichtswissenschaft, wirft der Held die verhassten Ketten ab. Dann ist er frei, dann stehen ihm die „Wege in den Tempel“ der Glückseligkeit offen.

Wie es das Genre des Erbaulichen verlangt, geht es in Leon Arons Buch um Werte. In den Wertvorstellungen, wie sie zwischen 1985 und 1991 zirkulierten, sieht Leon Aron die treibende Kraft der letzten „großen“ Revolution des 20. Jahrhunderts. Deshalb hat er zusammen mit einem Rechercheteam nahezu alle beachtenswerten hauptstädtischen Printmedien jener Zeit ausgewertet. Dabei wurde ein Quellenkorpus von über 8.000 Seiten zusammen getragen, auf den der Autor in ähnlicher Weise zurückgreift, wie Helmut Altrichter, dessen Buch jedoch eine kürzere Zeitspanne überblickt.1

Die Studie von Leon Aron gliedert sich in vier Teile. Im ersten Teil wird eingeleitet und zusammengefasst, was die Politik von Glasnost und Perestroika einzulösen versprach. Der zweite und, mit neun von insgesamt 18 Kapiteln, der längste Teil rückt die Selbstbefragung und -zerlegung der sowjetischen Öffentlichkeit in den Mittelpunkt. Die beiden letzten Teile greifen die „klassischen“ Sinnfragen der russischen Geschichte auf: „Wer ist schuld?“ und „Was tun?“ Darin will der Autor den Bewusstseinswandel dokumentieren und die Genese von neuen Handlungsimperativen nachzeichnen, an der die Intelligenzija maßgeblich beteiligt gewesen sein soll. Dass die Visionen des Neuen sich nicht in die Wirklichkeit umsetzen ließen, weiß der Autor. Doch dies ist ihm nicht wichtig, denn am Scheitern des Aufbruchs seien die „spoiled juices“ (S. 298) schuld, die die sowjetische Vergangenheit hinterlassen habe. Das ‚vergiftete’ Erbe aber, davon geht der Autor aus, werde seine zersetzende Wirkung früher oder später verlieren.

In Leon Arons Buch steht nichts, was wir nicht schon aus der Sekundärliteratur wissen. Daher stellt sich die Frage, warum man dieses Buch lesen soll? Ein Buch, das zwei Jahrzehnte nach dem Zerfall der Sowjetunion als Großmacht und Gesellschaftsprojekt nichts neu erklären will? Ein Buch, das sich unkritisch auf die Verheißungen der Aufklärung beruft und uns die Mähr von der friedlichen Revolution erzählt?2 Was sollen wir mit einem Buch, das Gegenstimmen ausblendet und Ereignisse verschwiegt, um am Ende den Triumph der neoliberalen Moral feiern zu können?

Keine Frage, Leon Aron hat ein Sonntagsbuch geschrieben. Vielleicht kann man ihm dennoch etwas abgewinnen. Denn es erinnert uns daran, dass die Moral in den gesellschaftlichen Selbstverständigungen der späten Sowjetunion eine zentrale Rolle gespielt hat. Dabei geht Leon Aron nicht davon aus, dass die Menschen in der Sowjetunion schon immer gewusst haben, dass sie in einer amoralischen Gesellschaft leben, dass die Mythen, auf die sie sich berufen, nichts seien als große Lügen der Partei. Stattdessen versetzt er seine Leser in die Situation von möglichen Zeitungslesern in der Sowjetunion, vor deren Augen sich die „weißen Flecken“ der sowjetischen Geschichte als finstere Kapitel des Stalinismus entpuppten. Tag für Tag wurden neue Missstände aufgedeckt. Tag für Tag wurden die Idealvorstellungen der Sowjetbürger mit den Zerrbildern der Wirklichkeit konfrontiert. Bald glaubte kaum jemand mehr, dass alle gleich sind, dass die Arbeit sich lohnt, dass niemand ausgebeutet und dass ein jeder so versorgt wird, wie er es verdient. Und irgendwann war der Sozialismus zerredet, irgendwann war er reduziert auf das Hegemonialstreben, die Politökonomie und die Zwangskultur der Sowjetunion. Irgendwann war die Sowjetunion jenseits jeder Moral. Für viele jedenfalls.

Leon Aron ruft nochmals in Erinnerung, dass die festgefügte Gesellschaft der Sowjetunion sich dank Glasnost von ihren Denkgeboten befreit hat. Doch die Gesellschaft hat dabei auch ihren Halt verloren. Dies haben dieselben Intellektuellen in den 1990er-Jahren bitterlich bedauert, die zuvor die Erneuerung beschworen hatten. Davon erfährt man bei Leon Aron allerdings nichts.

Anmerkungen:
1 Helmut Altrichter, Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München 2009. Vgl. die Rezension von Walter Sperling in: H-Soz-u-Kult, 03.06.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-2-170> (20.9.2013).
2 Vgl. etwa Thomas de Waal, Black Garden. Armenia and Azerbaijan through Peace and War, new edition, New York 2013.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension