R. Behrens u.a. (Hrsg.): Der ärztliche Fallbericht

Titel
Der ärztliche Fallbericht. Epistemische Grundlagen und textuelle Strukturen dargestellter Beobachtung


Herausgeber
Behrens, Rudolf; Zelle, Carsten
Reihe
Culturae 6
Erschienen
Wiesbaden 2012: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
XIV, 314 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maria Dorothee Böhmer, Europäisches Hochschulinstitut Florenz

Was ist ein Fall? In Zedlers Universallexikon liest man, „bey denen Medicis“ heiße „Casus“ „so viel als eine ganze Beschreibung und historie einer Kranckheit“.1 Der anzuzeigende Sammelband geht dieser Bedeutung des Fallberichts in der Medizin auf den Grund. Er vereint die Beiträge einer interdisziplinären Tagung, die vom 18. bis zum 20. Juni 2009 an der Ruhr-Universität Bochum stattfand.

Gemäß dem Vorwort hatte die Tagung zum Ziel, den „ärztlichen Fallbericht der Neuzeit“ im Zeitraum von circa 1800 bis zur Gegenwart in den Blick zu nehmen und seine „Scharnierposition […] zwischen Empirie und Wissen, Beobachtung und Darstellung“ (S. VIII) genauer zu beleuchten. Dafür konzentrierte sich die Tagung vor allem auf „die Spannungslagen, die sich aus dem Umstand ergeben, dass die konträren Pole konkreter empirischer Beobachtung und zunehmend ausdifferenziertem kanonisierten Wissen […] letztlich durch rhetorische Mittel der Plausibilisierung zueinander in Relation gesetzt werden“ (S. VIII). Vereinfacht ausgedrückt ging es also um die Frage, auf welche Weise und zu welchem Zweck ärztliche Fallberichte in historisch und medial spezifischen Kontexten geschrieben wurden oder heute noch geschrieben werden, und inwiefern erzählerische Mittel eine wissenskonstitutive Rolle dabei spielen.

Mit diesem Erkenntnisinteresse reiht sich der Band in eine Forschungsdiskussion über Fälle, Fallgeschichten und Fallstudien ein, die seit einigen Jahren in verschiedenen Disziplinen geführt wird. Seit 2009 sind weitere richtungweisende Arbeiten zum Thema erschienen, darunter einige von Autoren dieses Bandes. Die jüngsten Publikationen untersuchen den Fallbericht aus literaturwissenschaftlicher2, medizin- und wissenschaftshistorischer3 sowie gattungsgeschichtlicher Perspektive.4 Insofern beschreitet der in diesem Jahr publizierte Sammelband kein Neuland; aber er trägt mit anregenden Impulsen und differenzierten Analysen zu einem dynamischen Forschungsgebiet bei, das inzwischen zwar unterschiedliche, aber doch klar voneinander abgrenzbare Zugangsweisen zur Erforschung des ärztlichen Fallberichts gefunden hat.

Der Band ist in vier Sektionen unterteilt, die zentrale Aspekte des ärztlichen Fallberichts beleuchten. Im Folgenden werden diese Sektionen vorgestellt, indem jeweils nur zwei ausgewählte Beiträge beispielhaft angesprochen werden. Diese Präferenz folgt dem Eindruck der Rezensentin, dass diese Beiträge besonders konsequent auf die „epistemische[n] Grundlagen und textuelle[n] Strukturen dargestellter Beobachtung“ fokussieren. Den drei Beiträgen der ersten Sektion: „Beobachten, Sammeln, Schreiben“ ist die Frage gemeinsam, wie medizinisches Wissen durch Fallberichte hergestellt und kommuniziert wird und welche praktischen Verfahren dabei von Bedeutung waren oder in der heutigen Medizin sind. Anhand konkreter Textbeispiele zeigt etwa Nicolas Pethes, dass die Unterscheidung von „literarischen“ und „wissenschaftlichen“ Fallberichten im 18. und 19. Jahrhundert problematisch ist, da sich beide derselben „epistemischen Schreibweise“ bedienen und auf den individuellen Fall fokussieren: Sowohl für die Literatur als auch die Wissenschaften vom Menschen ist das Erzählen in Fällen in dieser Zeit konstitutiv. Einem speziellen Typus des ärztlichen Fallberichts, den sogenannten „Visa reperta“ des 17. und 18. Jahrhunderts, widmet sich hingegen der Beitrag von Irmgard Müller u.a. Dabei handelt es sich um Protokolle über die körperliche Versehrtheit in Rechtsfällen, welche Wundärzte seit dem 16. Jahrhundert verfassten. Die Autoren zeichnen den Formalisierungsprozess vom ursprünglichen Wundschein zum detaillierten Obduktionsbericht nach und zeigen dabei, wie die Darstellungsmethoden der „Visa reperta“ den Blick auf die Organe im Sinne der anatomischen Pathologie schärften.

Die zweite Sektion versammelt vier Beiträge zur „Poetik und Ästhetik des Fallberichts“. Sie nehmen französische Fallberichte aus dem Zeitraum des 19. Jahrhunderts in den Blick und zielen auf die rhetorischen und visuellen Strategien ab, die zur Erzeugung von Evidenz bei der schriftlichen oder ikonographischen Darstellung von Krankheiten eingesetzt wurden. So geht es Rudolf Behrens in seinem Beitrag um die Rhetorizität einer prominenten Gattung des ärztlichen Fallberichts, der französischen „observation clinique“ im frühen 19. Jahrhundert. Anhand von normativen Schriften, die zum Verfassen solcher Fallberichte anleiteten, zeigt er die rhetorischen Mittel der Plausibilisierung und Evidenzerzeugung auf, die zum Erreichen des Ideals einer naturgetreuen Abbildung der Beobachtung eingesetzt wurden. Den Mehrdeutigkeiten der Textsorte der „observation“ widmet sich auch Eva Siebenborns Beitrag: Sie nimmt eine dekonstruierende Lektüre eines Fallberichts aus dem späten 19. Jahrhundert über eine „Hystérie pulmonaire“ vor, in dem ein Fall von Schwindsucht als Hysterie entlarvt wird. Dabei zeigt sie die komplexen Strategien der Evidenzerzeugung auf, die dazu dienten, die Beobachtung des Nicht-Beobachtbaren in der „observation“ vorzugeben.

In der dritten Sektion geht es um „Die Stimme des Anderen“: Hier sind drei Beiträge zusammengeführt, die in den Bereichen von Psychiatrie, Psychologie und Psychoanalyse der Frage nachgehen, welche Bedeutung der Erzählweise von Patienten/Patientinnen in Falldarstellungen Ende des 19. Jahrhunderts sowie in der gegenwärtigen psychoanalytischen Traumforschung zugemessen wird. Yvonne Wübben untersucht psychiatrische Lehrbücher aus dem frühen und späten 19. Jahrhundert daraufhin, wie die Fallerzählungen im Lehrbuch die Stimmen – sowohl jene der Psychiater-Autoren als auch die der Kranken – konstituieren und inszenieren. Mit einer besonderen Form der Patientenäußerung, nämlich dem Bericht von Patienten über die eigenen Träume, befasst sich Marie Guthmüller. Sie zeigt, inwiefern die Konzentration auf die Organe, die seit der Jahrhundertmitte in der psychopathologischen Forschung zum leitenden Paradigma wurde, die präfreudianische Traumforschung geprägt hat: In Abgrenzung von der Tradition metaphysischer Traumauffassungen wurden Traumberichte primär als Zeichen des Wahnsinns gelesen und als solche in Fallberichte integriert.

Die vierte Sektion: „Kulturelle Hybridisierungen“ unterscheidet sich insofern von den vorausgehenden, dass es hier nicht um einen bestimmten Aspekt des ärztlichen Fallberichts geht sondern darum, den Blick über Europa hinaus zu lenken. Claudia Preckel thematisiert zum Beispiel die Verwandtschaft von Fallbericht und biographischem Schreiben, indem sie persönliche Krankheits- und Todesbeschreibungen in den Memoiren muslimischer Herrscherinnen von Bhopal in Zentral-Indien Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts untersucht. William S. Sax’ Beitrag liegt wiederum eine andere Art von Fallbeschreibung zu Grunde: Als Ethnologe ermunterte er einen Heiler im Himalaya-Gebiet zur Niederschrift bedeutender Fälle aus dessen Heilertätigkeit. Diese veranschaulichen das komplexe Heiler-System in einer traditionellen Gesellschaft, innerhalb derer die Kompetenzen von Orakel und Gurus gleichermaßen beansprucht werden.

Insgesamt führen die dreizehn Beiträge des Sammelbandes ein breites Spektrum an historischen und gegenwärtigen Kontexten vor Augen, in denen Fallberichte als zentrales Medium der Repräsentation und der Kommunikation von medizinischem Wissen fungier(t)en. Insofern hält der Band, was er verspricht, nämlich ein „interdisziplinäres Gespräch“ über „das Verhältnis des neuzeitlichen ärztlichen Fallberichts zu epistemischen Strukturen des Wissens sowie narrativen und medialen Darstellungsvoraussetzungen“ (S. IX) abzubilden. Diese chronologische und methodologische Breite ist eine Stärke, weil der Band damit dem Umstand Rechnung trägt, dass der Fallbericht von jeher ein Instrument verschiedener Wissensbereiche ist. Somit wird der Band auch Leser aus unterschiedlichen Disziplinen ansprechen und davor bewahren, das Schreiben von Fallgeschichten in der Medizin als etwas ausschließlich historisches oder der westlichen Medizin Eigenes, oder aber umgekehrt als eine moderne Praxis ohne Geschichte zu begreifen: Die Zusammenschau der Beiträge macht sinnfällig, dass „der ärztliche Fallbericht“ in dieser eindeutigen Form gar nicht existiert, sondern seine vielfältigen Darstellungsweisen stets historisch spezifisch sind und dem Wandel unterliegen.

Andererseits liegt in der methodologischen Breite auch ein Problem der vorliegenden Publikation: Eine Tagung ermöglicht es unter Umständen, Brücken zwischen den Disziplinen zu schlagen und die Klammer herzustellen, welche heterogene Beiträge zusammenhält. Eine Tagungsdokumentation in Form eines Sammelbandes leistet dies nicht per se. Umso wünschenswerter wäre eine stärkere Problematisierung der Tatsache gewesen, dass nicht nur die behandelten Fallberichte verschiedener Natur sind, sondern eben auch der Umgang der Autoren mit diesen Fallberichten als Quelle: Wie deutlich geworden ist, zielen einige Beiträge auf die Natur und das jeweilige Genre des Fallberichts selber ab, während in anderen Beiträgen Fallberichte ganz unterschiedlicher Art als Quelle für andere Erkenntnisinteressen benutzt werden. Dadurch stehen sehr spezifische und historische Auffassungen vom ärztlichen Fallbericht neben eher allgemeinen Verwendungen des Begriffs „Fallbericht“, etwa summarisch „als wissenschaftliche Texte, die Beobachtungen am Einzelfall darstellen oder in ihre Darstellung integrieren“ (S. 171, Anm. 2). So liefern zwar alle Beiträge interessante Ergebnisse im Hinblick auf die Rolle des Fallberichts in verschiedenen medizinischen Kulturen, doch tragen einige nur wenig dazu bei, die Erforschung des ärztlichen Fallberichts stärker zu systematisieren.

Diese Monita schmälern jedoch nicht die Qualität der einzelnen Beiträge und den positiven Eindruck des Bandes insgesamt, der zudem durch seine Ausstattung mit einigen Schwarzweiß-Illustrationen und Farbtafeln ansprechend gestaltet ist.

Anmerkungen:
1 Art. „Casus, ist eben ein Zufall“, in: Johann Heinrich Zedler, Großes vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, 64 Bde. und 4 Erg.bde., Halle/Leipzig 1732–1754, Bd. 5, Sp. 1392.
2 Sheila Dickson / Stefan Goldman / Christoph Wingertszahn (Hrsg.), „Fakta, und kein moralisches Geschwätz“. Zu den Fallgeschichten im „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ (1783–1793), Göttingen 2011.
3 Vgl. zum Beispiel Volker Hess / J. Andrew Mendelsohn, Case and Series: Medical Knowledge and Paper Technology, 1600–1900, in: History of Science 48 (2010), S. 287–314.
4 Vgl. die Arbeiten von Gianna Pomata, zum Beispiel Dies., Observation Rising: Birth of an Epistemic Genre, ca. 1500–1650, in: Lorraine Daston / Elizabeth Lunbeck (Hrsg.), Histories of Scientific Observation, Chicago 2011, S. 45–80.

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