Cover
Titel
Virtuelles Erinnern. Kriege des 20. Jahrhunderts in Computerspielen


Autor(en)
Bender, Steffen
Reihe
Histoire 23
Anzahl Seiten
261 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lutz Schröder, Hans-Bredow-Institut für Medienforschung an der Universität Hamburg

Die Prägung von Erinnerungen ist kein Privileg der (Geschichts-)Wissenschaft, sondern findet besonders durch mediale Aufbereitungen statt. Im Gegensatz zu massenmedial vermittelten Bildern in Film, Fernsehen, Radio, Buch und anderen Formaten ist eine weitere sehr populäre Unterhaltungsform, das Computerspiel, jedoch zumindest in der Geschichtswissenschaft bislang kaum auf Interesse gestoßen. Dies überrascht, weil digitale Spiele seit rund drei Jahrzehnten die aktive Teilhabe an simulierten Vergangenheiten bieten und allein in Deutschland von ca. 25 Millionen Menschen genutzt werden.1 Die Monografie des Historikers Steffen Bender zu Darstellungen von Kriegen des 20. Jahrhunderts in Computerspielen verdient daher besondere Aufmerksamkeit. Bender fragt darin, inwieweit Spiele Geschichtsbilder generieren bzw. bestätigen können, und betrachtet dazu, „welche inhaltlichen Schwerpunkte die Spiele bei ihrer Geschichtsdarstellung setzen“. Er untersucht, ob dabei „erinnerungskulturelle Konjunkturen“ aufgegriffen werden und inwieweit die Darstellungen an die „Konventionen und Spezifika von Computerspielen gebunden sind“ (S. 24). Damit wählt Bender eine erfreulich offene, nicht normativ vorbestimmte Herangehensweise.

Den Einstieg bildet die Kontroverse um die von Jens Stober erstellte Modifikation2 „1378 (km)“ für den Shooter „Half-Life 2“ (Sierra Entertainment 2004). An einer nachgestellten innerdeutschen Grenze können die Spieler in die Rolle von Republikflüchtlingen oder Grenzsoldaten der DDR schlüpfen; sie müssen entweder fliehen oder die Flucht verhindern. Bender erläutert präzise die Auslöser und den Verlauf der Debatte, die stark von generellen Vorurteilen gegenüber Spielen geprägt war. Ausgehend von diesem Beispiel diskutiert er Defizite der bisherigen Forschung zu Historienspielen im Bezug auf Erinnerungsaspekte und zeigt Herausforderungen auf, die mit der Erschließung dieses Mediums einher gehen. Auch beschreibt er die große Bandbreite der Erwartungen, die an das Medium herangetragen werden: vom Anspruch möglichst großer Authentizität der Darstellungen bis zur bloßen spannenden Unterhaltung innerhalb einer virtuellen Vergangenheit. In diesem vor allem methodisch geprägten ersten Teil des Buchs kategorisiert Bender darüber hinaus verbreitete Erzählweisen von Historienspielen. Neben der „Kontrafaktizität“ und den „Secret Histories“ nennt er die „alternative Wirklichkeit“ und die „phantastische Kontrafaktizität“ (S. 65–68, S. 131).

Gerade die „Geheimgeschichten“, die sich nicht selten an bekannte Verschwörungstheorien aus anderen populären Medien anlehnen, seien häufig in Spielen vertreten und könnten als Indikator dafür dienen, wie sehr Spiele in bestehenden Bildern der Vergangenheit verankert seien. So fänden sich in Historienspielen zum Zweiten Weltkrieg oft (angebliche) Nazi-Wunderwaffen, während beim Kalten Krieg aufgrund fehlender direkter militärischer Konfrontationen zwischen USA und UdSSR stärker auf Spionageeinsätze zurückgegriffen werde. Die in Historienspielen ebenfalls häufig enthaltenen Ansätze kontrafaktischer Geschichtsschreibung stellten hingegen bewusst Was-wäre-wenn-Fragen und griffen dazu Ereignisse aus der Realität heraus, die so ummodelliert würden, dass sie zwar weiterhin als Themen der Vergangenheit erkennbar seien, jedoch für neue, oft als spannend beworbene Narrative nutzbar würden.3

Ein weiterer sehr lesenswerter Abschnitt im ersten Teil des Buchs behandelt die crossmediale Verwertung bekannter Bilder: Besonders aus Filmen werden bedeutungsschwere Szenen entnommen und in Spielen reproduziert. Bender hebt damit die große Wirkungsmacht von Filmen hervor, die ihrerseits Vorstellungen der Vergangenheit generieren, bevor sie von Spiele-Entwicklern aufgriffen und fortgeschrieben werden.

Im zweiten der beiden Hauptteile des Buchs widmet sich Bender der Darstellung ausgewählter Konflikte des 20. Jahrhunderts. Angesprochen werden Erster und Zweiter Weltkrieg, Kalter Krieg und Golfkrieg, bevor schließlich die asymmetrischen Kriege der jüngsten Vergangenheit betrachtet werden, die vor allem durch den US-amerikanischen „War on Terror“ Bekanntheit erlangten. Der Autor arbeitet die jeweiligen Besonderheiten der Konflikte heraus und erläutert stringent, wie sich Genrekonventionen auf die Darstellungen auswirken. Ein Verdienst ist es zudem, dass er die gerade in den Geschichts- und Erziehungswissenschaften verbreitete Annahme widerlegt, die historischen Konflikte seien lediglich Kulisse und hätten keine Auswirkungen auf die Darstellung der simulierten Vergangenheit.

So eigne sich der vom langanhaltenden Stellungskampf geprägte Erste Weltkrieg kaum für Spiele aus dem First-Person-Shooter- oder Strategiespiel-Genre, obwohl diese Genres sonst häufig militärgeschichtliche Themen aufgriffen. Da die typische Narration in solchen Genres von steten, vorwärts gerichteten Angriffsbewegungen geprägt sei – was von den Nutzern auch erwartet werde –, eigneten sie sich nicht für Simulationen des Ersten Weltkriegs. Stattdessen thematisierten Computerspiele zu diesem Ereignis insbesondere die Luftschlachten; sie griffen dabei auf populäre Bilder von „Fliegerassen“ und scheinbar ehrenvollen Duellen am Himmel zurück. Nach den „Geheimgeschichten“ belegt Bender damit in einem weiteren Fall, wie Spiele an populäre Bilder anknüpfen, die bereits zu Lebzeiten der Piloten entstanden waren und in den nachfolgenden Jahrzehnten medial weiter modelliert wurden.

Daneben hebt er jedoch ein auffälliges Defizit von Historienspielen hervor, die Kriege simulieren: Die Zivilbevölkerung fehle fast gänzlich. Sie komme nur dann vor, sofern die narrative Struktur einen konkreten Anlass dafür biete – etwa in Spielen zum Vietnam-Krieg, wenn der Schutz der Dorfbevölkerung vor einer Bedrohung dargestellt werde. Auch beim virtuellen Zweiten Weltkrieg sei diese Lücke zu beobachten. Hier weist Bender zudem auf eine Besonderheit der deutschen Gesetzgebung hin: Da es verboten ist, die Symbole verfassungsfeindlicher Organisationen zu verwenden, finden sich in Historienspielen auf dem deutschen Markt keine direkten Bezüge zum Nationalsozialismus. Dies geht nach Benders Erkenntnissen sogar so weit, dass auch Namen und Abbilder von NS-Größen entfernt oder zumindest verfremdet werden. Damit stellt er zu Recht die Absurdität einer Gesetzeslage dar, die dazu führt, dass die meist ohnehin geringe politische Rahmung von Weltkriegsspielen und dem militärischen Kampf gegen das NS-Regime noch weiter reduziert werden muss.

Das Buch bietet zusammengefasst viele interessante und weiterführende Beobachtungen und Thesen; allerdings sind auch einige Kritikpunkte zu nennen. So erscheinen manche Aussagen zu Spielinhalten, etwa zu Frauenrollen oder zur häufigen Thematisierung militärischer Spezialeinheiten, zwar schlüssig, doch fehlen die Belege zur Verbreitung derartiger Inhalte ebenso wie eine Aufschlüsselung in verschiedene Genres (hier bestehen durchaus Unterschiede). Zudem wäre eine stärkere Anbindung an die Game Studies lohnend gewesen, um das methodische Vorgehen bei den Spielbetrachtungen klarer zu machen und die zahlreichen wichtigen Aussagen präziser einordnen zu können.

Dies wäre auch wegen des sehr knappen Fazits sinnvoll gewesen. Dort erläutert Bender noch kurz, warum er auf empirische (Rezeptions-)Studien und die Perspektive der Spiele-Entwickler verzichtete. Beides hätte sicher weitere Erkenntnisse erlaubt. Für die Präzisierung der Fragestellung hat sich das gewählte Vorgehen jedoch als sinnvoll erwiesen, weil der Autor auf diese Weise detailliertere Analysen der Spieleinhalte vornehmen konnte. Das Ziel des Buchs, „eine erinnerungskulturelle Perspektive an Computerspiele anzulegen [und] nach den Möglichkeiten zu fragen, die ihnen zur Verfügung stehen, Geschichte darzustellen“ (S. 225), ist eindeutig erreicht worden.

Ungeachtet kleinerer Mängel hat Steffen Bender eine Studie vorgelegt, in der er nicht nur einige zentrale Defizite bei der wissenschaftlichen Erschließung von Historienspielen angeht, sondern die behandelten Spiele über offenkundig vorhandene praktische Kenntnisse auch präzise beschreibt. Zudem ist das Buch stilistisch ansprechend geschrieben und klar strukturiert, wodurch es auch für Leserinnen und Leser verständlich sein dürfte, die sich bisher nicht näher mit Computerspielen befasst haben.

Anmerkungen:
1 Zahlen des Bundesverbands Interaktive Unterhaltungssoftware (BIU): <http://www.biu-online.de/de/fakten/gamer-statistiken/gamer-in-deutschland.html> (23.01.2013).
2 Modifikationen sind von Spielern programmierte Veränderungen bzw. Erweiterungen. Sie erlauben unter anderem die Entwicklung gänzlich neuer Inhalte und Spielformen, die mit dem Ausgangsspiel bisweilen nichts mehr zu tun haben.
3 Ein Beispiel: „Es gibt die Amerikanische Revolution, bekannt aus den Geschichtsbüchern. Und dann gibt es die Revolution, in der Du kämpfst. Letztere ist sehr viel realistischer, düsterer und lebendiger, als ein Geschichtsbuch jemals sein könnte.“ Zitat aus der Werbung für „Assassin’s Creed 3“ (Ubisoft 2012): <http://assassinscreed.ubi.com/ac3/de-DE/gameinfo/info/index.aspx#setting> (23.01.2013).