Cover
Titel
Wir waren wie Maschinen. Die bundesdeutsche Linke der siebziger Jahre


Autor(en)
Hinck, Gunnar
Erschienen
Berlin 2012: Rotbuch Verlag
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
€ 19,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Sonnenberg, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Sein neues Buch über die westdeutsche Linke der 1970er-Jahre hat Gunnar Hinck nach rund drei Jahren Recherche geschrieben. Gleich in der ersten Zeile betont der 1973 geborene Publizist, er habe mit den 1970er-Jahren „keine Rechnung offen“. Seine Leitfrage lautet: „Warum entschieden sich von 1968 an bis in die frühen achtziger Jahre hinein insgesamt einige Hunderttausend junger Leute für den Gang in Organisationen, die den linksrevolutionären Umsturz der Bundesrepublik oder zumindest die langfristige Umgestaltung der Gesellschaft in eine kommunistische anstrebten?“1 Zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Geschichte der bundesdeutschen Linken trägt seine Arbeit indes nur bedingt bei, und als „angenehm unaufgeregt“ kann das Buch auch nicht charakterisiert werden.2

Hincks Auseinandersetzung beginnt mit dem großen „Rätsel 70er Jahre“, das auf die ambivalenten „1968er-Jahre“ mit ihren ebenso humorvollen wie befreienden Seiten gefolgt sei – mit einer „Kontinuität im Schlechten“ und einem „Riss im Guten“ (S. 11-49). Eng angelehnt an Gerd Koenens Struktur und Grammatik des „roten Jahrzehnts“3 beschäftigt sich Hinck in zehn weiteren Kapiteln unter anderem mit individuellen Brüchen in der Familie, verschiedenen Ein- und Ausstiegen zur „Neuen Heimat Kommunismus“, Fragen von Macht und Gewalt sowie nicht zuletzt mit der Eskalation zwischen Staat und linken Gruppen in der „lieblosen Republik“ (Dieter Lattmann) unter der Kanzlerschaft Helmut Schmidts. Hincks zentrale These lautet, dass soziale Gruppendynamik und frühe, auch kriegs- und nachkriegsbedingte biographische Brüche als kollektive Erfahrungen in Richtungsstreits der konkurrierenden linken Strömungen stärker gewirkt hätten als ideologische bzw. politisch-rationale Erwägungen. Gekonnt zeigt er dieses Verhältnis in kontingenten Situationen auf, etwa während des mit harten Bandagen ausgetragenen Ringens um die Ausrichtung der Zeitschrift „Rote Pressekorrespondenz“ 1969/70 (S. 140ff.). In seiner Argumentation verknüpft er die (hier nicht so benannte) „vaterlose Gesellschaft“ mit den 1968er-Revolten und stellt dabei konsequenterweise zugleich eine Verbindung mit den „Halbstarkenkrawallen“ der 1950er-Jahre her. Wenn der Autor aber die Radikalisierung der Linken nach 1968 und die relative Festigkeit ihres damals so bezeichneten „Gegenmilieus“ auch mit einem „Muster von Muttersöhnchen“ (S. 98) bei einigen tonangebenden Personen zu erklären sucht, überspannt er seinen psychoanalytischen Bogen deutlich.

Mit Fleiß hat sich Hinck in den archivalischen Berg der K-Gruppen hineingearbeitet. Er führte Gespräche mit (zum Teil führenden) Akteuren der KPD/AO (4), des KBW (3), der DKP (2) sowie mit je einem früheren Mitglied des KB, der „Bewegung 2. Juni“ und einer spontaneistischen Gruppe. Wie leider viel zu oft ist diese Zusammensetzung zur Charakterisierung der westdeutschen Linken ungleich gewichtet: Das Sozialistische Büro beispielsweise wird im Buch mit keinem Wort angesprochen; Bewegungen, nicht im Rampenlicht stehende Netzwerke und insgesamt dem Marxismus-Leninismus der 1970er-Jahre kritisch gegenüberstehende Gruppen werden kaum beachtet. Nehmen wir nur den Rotbuch Verlag, in dem Hincks Studie erschienen ist – ein Buch, das indirekt auch die Herkunft dieses Verlags behandelt: Damalige linke Verleger und Buchhändler verstanden sich als politisch wirkende Akteure. Wie selbstverständlich mischten sie sich in ihren Programmen und mit Vor- oder Nachworten in die Debatten ein. Im vorliegenden Fall wäre eine solche Stellungnahme nun ebenfalls wünschenswert gewesen. Rotbuch entstand 1973 als eigenständiger Verlag genau im Untersuchungszeitraum. War das damalige Verlagskollektiv auch „wie Maschinen“ (S. 49) „ins Irreale“ (S. 47) marschiert, mit Diktatoren verbrüdert (S. 289-320), und frönte es dem „Terror der Worte“ (S. 321-343)? Die zuletzt von Friedrich Christian Delius (Mitbegründer und bis 1978 hauptberuflicher Lektor des Verlags) publizierten Erinnerungen lassen davon nichts erahnen. Vielmehr beschreibt er, wie sehr sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Verlag selbst ausbeuteten, um sowohl Bücher zu machen als dabei auch „[d]em Mainstream und den drei dummerweise als links geltenden Strömungen Moskau-Mao-Meinhof zu widerstehen“.4

Binnendifferenzierungen oder innere Widersprüche dieser Art sind Hincks Sache jedoch nicht. Wichtiger als die Unterschiede erscheinen ihm die Gemeinsamkeiten „aller Gruppen, Parteien, Komitees und Organisationen […], dass ihre Mitglieder und Sympathisanten für sich keine Zukunft im ‚System‘ Bundesrepublik sahen und ebenso keine Zukunft für dieses System selbst“ (S. 14). Der Staat sei für sie alle ein Unterdrückungsapparat gewesen, und am Ende ihres Weges sollte eine klassenlose Gesellschaft stehen. Weil sie in ihren „Vorstellungen über das Endziel“ nicht weit auseinander gelegen hätten (ebd.), werden bei Hinck alle oben genannten Gruppen in einen Topf geworfen.

Neben dieser im Kern bereits zweifelhaften Vorgehensweise ist das Buch auch in anderer Hinsicht ein Ärgernis: So flüssig es geschrieben wurde, fast wie ein kurzweilig geschnittenes Radio-Feature, so peinlich ist es stellenweise zu lesen, wenn Hinck sich als Nachgeborener, ausgerüstet mit vermeintlich überlegenem Wissen, über die Protagonisten seiner Studie erhebt. Abseits ihrer informativen und aufschlussreichen O-Töne werden sie vorgeführt, wird sich über sie lustig gemacht und verhält sich Hinck respektlos selbst jenen Menschen gegenüber, die sich in Gesprächen seinen Fragen stellten. Reich an Fakten gesättigte Passagen des Buches werden ertränkt in gegenwartsbezogenen Anklagen oder durch Hincks mitunter recht kühnes Stochern in einzelnen Familiengeschichten. So sei ein von ihm in Brigitte Mohnhaupts Hosentasche nur vermutetes Mao-Bändchen Zeichen einer verschlüsselten politischen Kommunikation mit ihrem seit Jahren getrennt von der Familie lebenden Vater, allein weil dieser einmal beruflich an der Herstellung eines (gar kritischen!) Mao-Bändchens beteiligt gewesen war (S. 71f.). Der Mutter Alexander von Platos unterstellt der Autor, sie habe sich Ende der 1960er-Jahre nur deshalb als Sozialistin gesehen und mit der Studentenbewegung sympathisiert, weil das auch die „Ansichten ihres Sohnes waren“ (S. 101). Und der Mutter Andreas Baaders hält er allen Ernstes vor, ihren Sohn noch verteidigt zu haben, als dieser schon im Gefängnis saß und obwohl er „in seinem Leben keine einzige nennenswerte kreative oder praktische Leistung erbracht“ habe, außer „virtuos Autos zu knacken und mit Sprengstoff und Handfeuerwaffen umgehen zu können“ (S. 98).

Auch wenn es noch so ironisch verpackt wird: Enthüllen ist kein Analysieren und fördert nicht automatisch historische Erkenntnis zutage. Hier scheint Hincks Arbeit Teil eines grundsätzlich problematischen Trends auf dem Sachbuchmarkt für jüngste deutsche Geschichte zu sein. Demgegenüber wurde mehrfach gefordert, eine Historisierung kulturrevolutionärer Auf- und Umbrüche, mithin der Fundamentaloppositionen der 1960er- und 1970er-Jahre, habe sich von selbstgerechten Zeitzeugendarstellungen wie auch von der Nur-Erregung darüber zu verabschieden. Dem hier aufgeführten Gestus aber muss die Vergangenheit ebenso versperrt bleiben. Einem solchen Zugriff entzieht sie sich, bleibt fremd und unverständlich. Nicht zufällig lauten in der Studie häufig gebrauchte Vokabeln „vermutlich“, „paradoxerweise“ oder „merkwürdigerweise“. Das anfangs entworfene „Rätsel 70er Jahre“ versucht Hinck gar nicht erst zu lösen.

Wohin die Reise geht, wird stattdessen im abschließenden Kapitel des Buches klar („30 Jahre danach. Untergetaucht, gescheitert, angepasst“, S. 344-427). Offenbar interessierte sich der Autor von vornherein nicht primär für die westdeutsche Linke der 1970er-Jahre. Die betrachteten Akteure hätten sich unter anderen zeithistorischen Umständen auch bei Scientology engagieren können (S. 425). Auf den Wegen der Desillusionierung, der Mäßigung, des Verdrängens oder Konvertierens – so Hincks abschließender Ausblick – hätten sie zur Diskreditierung alternativen Denkens in der Bundesrepublik beigetragen, obwohl dieses in marktradikalen und krisenhaften Zeiten heute nötiger sei denn je. Das ist ein wichtiger und engagierter Gedanke. Über diesen (hier nicht erwähnten) „neue[n] Geist des Kapitalismus“ ist auch an anderer Stelle trefflich nachgedacht worden.5 Zum zeithistorischen Verständnis des westdeutschen Linksradikalismus der 1970er-Jahre ist die damit eingenommene Perspektive aber nicht unbedingt hilfreich.

So bleibt die Lektüre des vorliegenden Buches letztlich enttäuschend. Gunnar Hinck hat eine Arbeit mit (positiv formuliert) viel Verve und zum Teil bislang unerschlossenen Quellen geschrieben; die Bezüge zum angekündigten Thema müssen aus den Vorverurteilungen des Autors jedoch mühsam destilliert werden.

Anmerkungen:
1 <http://www.gunnarhinck.de/das_buch.html> (12.9.2012).
2 So aber die Einschätzung in der Rezension von Christian Böhme, Lieber Mao als Willy, in: Tagesspiegel, 2.7.2012, S. 27, auch online unter URL: <http://www.tagesspiegel.de/kultur/lieber-mao-als-willy/6820718.html> (12.9.2012); kritischer hingegen Winfried Sträter, Gebrochene Bürgerkinder im Sog der K-Parteien, 17.7.2012, online unter URL: <http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/1813972/> (12.9.2012), sowie Markus Mohr, Furor Teutonicus, in: Junge Welt, 30.7.2012, S. 13, auch online unter URL: <http://www.jungewelt.de/2012/07-30/007.php> (12.9.2012).
3 Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Köln 2001.
4 Friedrich Christian Delius, Als die Bücher noch geholfen haben. Biografische Skizzen, Berlin 2012, S. 150.
5 Luc Boltanski / Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch