S. Friedrich: Soziologie des Genozids

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Titel
Soziologie des Genozids. Grenzen und Möglichkeiten einer Forschungsperspektive


Autor(en)
Friedrich, Stefan
Reihe
Genozid und Gedächtnis
Erschienen
Paderborn 2012: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
VI, 351 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Gudehus, Universität Flensburg

Titel und Untertitel des Buches sind ernst zu nehmen. Stefan Friedrich untersucht nicht konkrete Genozide oder, etwas genereller formuliert, Ereignisse kollektiver Gewalt, sondern referiert kritisch soziologische Zugänge zum Feld. Er benennt deren Schwächen und Versäumnisse, um schließlich ein – allerdings sehr allgemein gehaltenes – handlungstheoretisches Modell zu präsentieren, das er als wesentlichen Beitrag für ein verbessertes Verständnis des Gegenstands vorstellt. Dieses Modell soll den zuvor für defizitär erklärten Ansätzen insofern überlegen sein, als es der Komplexität multifaktorieller Ursachen von Genozidprozessen (vgl. S. 147) gerecht wird. Denn dies, und das breitet Friedrich kenntnisreich, detailliert, aber dennoch zuspitzend und in der Regel überzeugend auf den ersten 274 Seiten Dissertation aus, gelingt seiner Auffassung nach keiner der soziologischen Gewalt, Genozid bzw. den Nationalsozialismus behandelnden Theorien.

„Leitthese hierbei ist, dass eine soziologische Analyse von Völkermord(en) nicht nur auf der Strukturebene verbleiben darf, sondern die Kultur- und Handlungsdimension des Sozialen gleichberechtigt in die Analyse mit einbeziehen muss.“ (S. 14) Diese ob ihrer Allgemeinheit unbedingt zustimmungsfähige Feststellung findet sich bereits in der Einleitung und sie durchzieht in zunehmend komplexer werdenden Formulierungen das Buch.

Am Beispiel der Theorieentwürfe von Talcott Parsons und Ralf Dahrendorf legt Friedrich zunächst dar, dass in beiden seiner Einschätzung nach sehr einflussreichen Modellen genozidale Gewalt keinen systematischen Platz haben kann. So verstehe Parsons Handeln „nur noch als ein an Normen angepasstes Verhalten“ (S. 56), was zu Problemen führe. Die Herausbildung von Normen oder Regeln werde nicht untersucht, genauso wenig wie die kreative (Hans Joas) Aneignung solcher Muster. Entsprechend kann eine sich dynamisch über vielfache Aneignungsprozesse vermittelte Gemeinschaft wie der historische Nationalsozialismus nur als Betriebsunfall, als vom Ideal abweichendes Moment, studiert und somit nicht adäquat verstanden werden. „Kollektivgewalt kann infolgedessen nicht als genuiner sozialer Tatbestand innerhalb einer Soziologie gedacht werden, die nur dann ein Handeln als sozial verstehen kann, wenn es der Bestandserhaltung einer Gesellschaft dient und somit den Gleichgewichtszustand dieser auf Dauer stellt.“ (S. 59f.)

Ebenso unzureichend erscheinen Friedrich dem Frustrations-Aggressions-Paradigma verpflichtete Erklärungsweisen. Diese der Psychologie entstammende Deutung entspricht letztlich einer Psychologisierung gesellschaftlicher Verhältnisse: Individuelle Frustrationserfahrungen, ausgelöst etwa durch soziale Ungleichheit bzw. schnellem, soziale Desintegration hervorbringendem gesellschaftlichem Wandel, erhöhen die Gewaltwahrscheinlichkeit. Woran es erneut fehle, ist der Blick auf die vermittelnde Rolle von Kultur im Sinne von Traditionen, Mythen, Mentalitäten etc. Warum also ist Gewalt eine Handlungsoption? Wie werden Gegner oder Opfer definiert? Wie wird ein Deutungszusammenhang hergestellt, in dem die Zerstörung sozialer Gruppen als eine sinnvolle, sinnstiftende und richtige Praxis gesehen und auch tatsächlich ausgeübt wird? Die Fragen beinhalten bereits die Antworten: Weil es eben, wie es Friedrich nennt, instituierte Deutungsweisen der Welt gibt, in der die wertende Unterscheidung von Gruppen bereits angelegt ist. Er spricht auch von „die Wahrnehmung und Deutung gesellschaftlicher Wirklichkeit präfigurierende[n] sowie Täter-Opfer-Beziehungen konstituierende[n] Weltanschauungsmuster[n]“ (S. 201) und holt somit in überraschender Verbindung mit auf Performanz orientierten Theorieelementen politische Ideologien als wichtigen Faktor genozidaler Gewalt in die Diskussion zurück.

Überraschend ist dies, weil die praxeologisch ausgerichtete Forschung angetreten war, nicht nur Strukturen, sondern auch Ideologien als zentralen Ursachenkomponenten solcher Gewalt gerade die Beschäftigung mit den Handlungen entgegenzusetzen. Friedrich diskutiert auch die einschlägigen Autoren, vor allem Trutz von Trotha und Wolfgang Sofsky, die, so eine inzwischen feststehende Formulierung, sich weniger für das ‚Warum‘ der Gewalt als für das ‚Was‘ und ‚Wie‘ interessieren. Damit wenden sie sich, fast wie Friedrich, gegen die Untersuchung der immer gleichen makrostrukturellen Ursachenzusammenhänge bzw. gegen den Blick auf die politischen, ökonomischen oder ideologischen Ziele der Täter (vgl. S. 258) und fordern die Fokussierung auf die konkrete Handlungssituation. Das jedoch führe dazu, so Friedrich, dass Gewalt selbst zu einem „extrasozialem Metasubjekt“ (S. 260, Jörg Hüttermann) würde. Als Konsequenz sind die Akteure, schon wie in den strukturfunktionalistischen Zugängen Parsonscher Prägung, zwar nicht dabei, lediglich Rollen auszufüllen, aber doch nur noch Ausführende einer als Subjekt beschriebenen Dynamik. So kritisiert Friedrich auch hier die mangelnde Berücksichtigung von an Werten orientierten Handlungsmotivationen.

Als Konsequenz formuliert Friedrich nun keinesfalls eine allgemeine Theorie kollektiver Gewalt. Er referiert vielmehr zwei Theoriestränge, die ein sehr generelles Modell der Erklärung menschlichen Handelns entwickeln. Zunächst erfolgt der Verweis auf Max Webers Konzept von Institutionen, in denen diesen zentrale Bedeutung bei der Herausbildung und Festigung kollektiver Wissensordnungen und Sinnsysteme zukommt und „auf deren Grundlage sich die Akteure ihre Welt als sinn- und bedeutungsvoll erschaffen und infolgedessen sowohl handlungsanleitend als auch -beschränkend wirken“ (S. 283). Dem folgt mit Blick auf die Sozialtheorie Cornelius Castoriadis die Feststellung, dass es eben die „instituierten und dadurch dem Handeln Gestalt und Richtung gebenden Sinn- und Bedeutungshorizonte einer Gesellschaft sind“ (S. 307f.), die eine Bevölkerungsgruppe als Bedrohung und somit zu bekämpfend konstituieren. Und schließlich: „Wie mit Weber und Castoriadis dargelegt und mit jüngeren Ergebnissen der historischen Forschung zum Nationalsozialismus belegt wurde, sind es zuvorderst kulturelle Sinnzusammenhänge und darin inkorporierte Wissens- und Weltanschauungsmuster in ihren institutionellen Ausgestaltungen, die die zu erklärenden politischen Prozesse und Strukturen der Ingangsetzung eines Genozids erst konstituieren.“ (S. 311f.)

Ich lasse Friedrich in dieser für Rezensionen ungewöhnlich ausführlichen Länge zu Wort kommen, um so zu verdeutlichen, wie knapp und sich stets wiederholend das Ergebnis nach 300 in weiten Teilen scharfsinniger und durchaus beeindruckender Theoriearbeit ist. Was dieses Ergebnis aus Sicht der Gewaltforschung unbefriedigend erscheinen lässt, sind vor allem zwei Aspekte. Erstens bezieht sich der Verweis auf die jüngere historische Forschung unter anderem explizit auf Arbeiten von Michael Wildt und Ulrich Herbert, die beide stellvertretend für Ansätze stehen, in denen die von Friedrich vermisste Vermittlung von Struktur und Kultur bzw. von Struktur und Handlung (vgl. S. 266) stattfindet. Er liefert gewissermaßen nachholend eine soziologische Theorie für eine inzwischen breite Tradition kulturwissenschaftlich-geprägter Gewaltforschung. Zweitens ist die Diskussion der Klassiker und deren Linien selbst zentrales Moment soziologischer Theoriearbeit. Mit anderen Worten: die eigentliche Leistung von Friedrichs Arbeit liegt in der auf eine bestimmte Fragestellung hin zugeschnittenen kritischen Lektüre theoretischer Schriften. Die Kritik Friedrichs, dass diese Schriften aufgrund ihrer Anlage Gewalt nur unzureichend thematisieren können, ist ebenso zutreffend wie sein Beharren auf die handlungsleitende Bedeutung sozialer Normengefüge. Insofern handelt es sich um einen herausragenden und vor allem für eine Dissertation äußerst materialreichen Beitrag zur soziologischen Theoriediskussion. Zugleich erscheinen fast im Monatstakt interessante Studien, die den Herstellungsprozessen gewalthaltiger sozialer Praxen auf verschiedensten Ebenen in unterschiedlichen zeitlichen und örtlichen Räumen und mit einer breiten epistemologischen und methodologischen Vielfalt nachgehen. Entsprechend bedarf es aus meiner Sicht einer Zusammenschau solcher Studien und Ansätze sowie der Theoretisierung konkreter Aneignungs- und Konstruktionsprozessen sozialer Realität. Mir scheint ein zugleich tiefgehendes und umfassendes Verständnis kollektiver Gewalt eben nicht über die Formulierung allgemeiner Zusammenhänge von beispielsweise Werten und Handeln erreichbar zu sein, sondern in der möglichst genauen Analyse der tatsächlichen Vermittlungsvorgänge von Handlung und Struktur. Solche Kritik trifft jedoch weniger den Autor der Studie als vielmehr die Logik der Reputationsgewinnung in Teilen der Soziologie.

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