M. v. Lehn: Westdeutsche und italienische Historiker als Intellektuelle?

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Titel
Westdeutsche und italienische Historiker als Intellektuelle?. Ihr Umgang mit Nationalsozialismus und Faschismus in den Massenmedien (1943/45–1960)


Autor(en)
vom Lehn, Marcel
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 206
Erschienen
Göttingen 2012: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
375 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christof Dipper, Institut für Geschichte, Technische Universität Darmstadt

Wissenschaftler werden zu Intellektuellen, wenn sie mit Hilfe von Massenmedien an die Öffentlichkeit gehen und versuchen, mit ihren beruflich erlangten Erkenntnissen die Gesellschaft zu steuern. Sie betreten dazu „Kampfzonen“ (Gangolf Hübinger), die anderen argumentativen und rhetorischen Gesetzen gehorchen als die der Wissenschaft, und riskieren unwillkürlich ihr soziales Kapital, können aber natürlich auch in ganz anderer Weise die Selbstvergewisserung und Selbstdeutung der Gesellschaft beeinflussen als vom Katheder aus. Im 19. Jahrhundert war in Deutschland der ‚politische Professor’ eine bekannte Figur – nicht von ungefähr gilt die Paulskirche als Professorenparlament –, aber vermutlich hängt es mit der Umgestaltung der Universität zu einer Forschungsanstalt zusammen, dass dieser Typus hierzulande selten wurde. Anders verhält es sich in Italien, wo mit dem Wirtschaftswissenschaftler Mario Monti derzeit (wieder einmal) ein Universitätsprofessor das Land regiert, weil der Wechsel zwischen Lehrstuhl, Parlamentssitz und Redaktion vielfach geübte Praxis ist – nicht nur bei Ökonomen und Juristen, sondern auch bei Historikern. Der 1994 gestorbene Giovanni Spadolini war Italiens erster Professor für Zeitgeschichte, außerdem 1981 auch der erste Regierungschef des Landes, der nicht der „Democrazia Cristiana“ angehörte, und viele Jahre lang leitender Redakteur, unter anderem beim angesehenen „Corriere della Sera“.

Dies wissend, wird man Marcel vom Lehns Berliner Dissertation mit Interesse zur Hand nehmen, weil er die Geschichte unserer Disziplin aus ungewöhnlicher Perspektive beleuchtet und sich auch noch dem mühsamen transnationalen Vergleich unterzieht. Er untersucht je zehn bekannte Historiker beider Länder, die nach Kriegsende in den Massenmedien die jüngste Vergangenheit zu erklären versuchten. Von diesen zwanzig Professoren geraten aber weniger als die Hälfte permanent in den Blick; die anderen waren zu jung und/oder hatten andere Sorgen, um mehr als sporadisch präsent zu sein. Auf deutscher Seite ragt – erwartbar – Gerhard Ritter heraus, auf italienischer nicht minder erwartbar Benedetto Croce. Dabei war dieser gar kein Professor, und damit sind wir schon bei den prägenden kulturellen Unterschieden. Bei den Italienern war nicht nur der berufliche Werdegang disparater – von den zehn Historikern hatten drei das Fach gar nicht studiert, Croce hatte überhaupt nie eine Universität besucht –, sondern auch das politische Spektrum breiter; es gab dort bekanntlich richtige Kommunisten. Auch die Medienlandschaft war (und ist) anders beschaffen: Die Redakteure waren weniger professionalisiert, die Zeitungsverlage gehörten Industriekonzernen oder Parteien, ein der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vergleichbares Leitmedium gab es (und gibt es bis heute) nicht. Nach wie vor ist es in Italien auch Usus, dass Professoren in Leitartikeln zu politischen Gegenwartsfragen Stellung nehmen, während hierzulande Michael Stürmer bei vielen Kollegen seinen Ruf vollends ruinierte, als er Berater Helmut Kohls und fest engagierter Leitartikler von Zeitungen wurde.

Diese sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen sorgen dafür, dass auf weiten Strecken zwei sehr disparate Geschichten erzählt werden. Wenn vom Lehn in Kapitel II.1 nacherzählt, was von den zehn deutschen Historikern zwischen 1945 und 1960 zur ‚deutschen Katastrophe’ in den Massenmedien gesagt und geschrieben worden ist, wiederholt er im Grunde, was insbesondere Winfried Schulze vor mehr als 20 Jahren in seinem Buch über die „deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945“ berichtet hat, denn (west)deutsche Professoren behandelten in den Medien nichts anderes als in ihren wissenschaftlichen Arbeiten, und sie formulierten es auch weithin identisch. Für ihre italienischen Kollegen gilt das Gegenteil (Kapitel II.2). Erstens konnten sie sich zum Faschismus bis über 1960 hinaus fast überhaupt nur in den Massenmedien äußern, zweitens setzten sie dort ihre parteipolitischen Auseinandersetzungen fort (die Katholiken hielten sich auffallend zurück), und drittens wussten sie die Medien adäquater zu nutzen als die deutschen Kollegen, die dem Publikum als Professoren gegenübertraten, nicht als journalistische Intellektuelle. Zielgruppenorientierte Meinung versus objektiver Wahrheitsanspruch – darauf lassen sich letzten Endes alle Unterschiede zurückführen, einschließlich der totalen Humorlosigkeit deutscher Ordinarien und anderer Bestandteile öffentlicher Streitkultur.

Dennoch gibt es „transnationale Ähnlichkeiten“ (S. 318) – sie seien der Tatsache geschuldet, dass die Professoren beider Länder gerade in den Massenmedien auf die noch schwache Fundierung der Demokratie Rücksicht nehmen mussten. Deshalb hätten sie die erhebliche Zustimmung der Bevölkerung zu den Regimen und auch zu deren Verbrechen verschwiegen und stattdessen die Rolle des Widerstandes überzeichnet. Auch wenn hier das Argument der Nationalpädagogik privilegiert wird – gegenüber der Prüfung, was man damals überhaupt wissen konnte –, sind die Einzelbefunde wichtig. Vom Lehns vielleicht größtes Verdienst ist aber der Nachweis, dass das Medium auf die Botschaft zurückwirkt. Den Medienfachleuten ist das sicherlich bewusst, uns Historikern jedenfalls weniger.

Ansonsten fällt das Buch durch Begriffe auf, die jedenfalls beim Rezensenten Stirnrunzeln auslösen. Das beginnt beim Leitbegriff „Intellektuelle“. Vom Lehn kapriziert sich auf einen vergleichsweise unbekannten Wortgebrauch von Foucault – den „spezifischen Intellektuellen“ – und handelt sich mit dieser Entscheidung unentwegt Schwierigkeiten ein, die am Ende dazu führen, dass er den Italienern den Status von „allgemeinen Intellektuellen“ zuerkennt (S. 313). Die Deutschen aber hätten es rundheraus abgelehnt, sich als Intellektuelle bezeichnen zu lassen – nicht nur wegen der hierzulande lange Zeit üblichen negativen Bewertung, sondern weil sie in der Rolle als Intellektuelle gerade nicht auftreten wollten. Das eben ist ja eines der (wenig überraschenden) Hauptergebnisse vom Lehns, der insoweit seine eigenen Erkenntnisse missachtet. In die Irre führen auch Kapitelüberschriften, in denen vom „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ oder von der „Wissensgesellschaft“ die Rede ist, denn im Text geht es weder um das eine noch um das andere. Und nur noch den Kopf schütteln kann man, wenn man liest, wie der Autor die faschistische und die nationalsozialistische Diktatur bezeichnet: Niemals so, sondern immer nur als „Zäsur“, und das in einem Buch, das lang und breit die befremdlichen Wortschöpfungen „Irrweg“ oder „parentesi“ (Klammer) diskutiert. Muss man denn einem Zeithistoriker sagen, dass es 1945 keine ‚Stunde Null’ gegeben hat, von 1922 oder 1933 ganz zu schweigen? Dass umso mehr die Juden den Nationalsozialismus als Zäsur erlebt haben?