A. Bauerkämper: Das umstrittene Gedächtnis

Cover
Titel
Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945


Autor(en)
Bauerkämper, Arnd
Erschienen
Paderborn 2012: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
520 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kerstin von Lingen, Cluster of Excellence „Asia and Europe in a Global Perspektive“, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg in Europa sind immer noch in vielen Ländern der Dreh- und Angelpunkt des Gedächtnisses. Seit Jahren haben daher Studien zur Erinnerungspolitik nach 1945 Konjunktur, und so war es nur eine Frage der Zeit, bis einmal eine monographische Gesamtschau die Forschungen der letzten Jahre zusammenführen würde. Es ist daher sehr zu begrüßen, dass es nach handbuchartigen Sammelbänden zu Mythen und Kriegserinnerungen in Europa1 sowie zu einzelnen Erinnerungsräumen wie Skandinavien2 oder Osteuropa3 nun eine Synthese gibt, die grenzüberschreitenden Bezügen folgt und sich an den „Erinnerungsknoten“ Zweiter Weltkrieg und Holocaust abarbeitet.

Arnd Bauerkämper (Freie Universität Berlin) hat seine jahrelange Lehr- und Forschungserfahrung auf dem Gebiet der Erinnerung, insbesondere der Erinnerung an den Nationalsozialismus, mit anregenden transnationalen Fragen verknüpft. Er hat wichtige analytische Schneisen in das Dickicht aus Länderstudien geschlagen und bisherige Forschungsergebnisse gekonnt verflochten. Kenntnisreich diskutiert er Begriffe und Konzepte der Gedächtnisforschung, Kontexte und Konstellationen, gibt einen Überblick über justizielle Aufarbeitung, politische Machtkämpfe und soziokulturelle Erinnerungskonflikte (etwa in der Frage von Entschädigungen), um zuletzt für eine „Geschichte der Erinnerungspraxis“ zu plädieren.

Der Autor konzentriert seine Studie auf typologische Differenzierungen unter den politischen und gesellschaftlichen Trägern von Erinnerungen. Er betont nicht nur deren Partikularinteressen und den Kontext des Diskurses, sondern stellt die Konflikthaftigkeit und Dynamik der historischen Gedächtnisbildung in den Mittelpunkt. Das ist nicht neu, allerdings für einen transnationalen Ansatz besonders wichtig, greifen doch die vielschichtigen nationalen Diskurse auch in diachroner Perspektive ständig ineinander und verlaufen mitnichten parallel, wie oft fälschlicherweise angenommen wird. Insbesondere trennte der Kontext des Kalten Kriegs Europa in zwei polare Erinnerungsräume.

Gleich zu Beginn grenzt sich Bauerkämper gegenüber den Vorgängerwerken ab, insbesondere aber gegenüber den Theorien Aleida Assmanns, der er ein statisches Gedächtnisverständnis unterstellt, das „Dissonanzen und Widersprüche unterbelichtet“ gelassen habe (S. 14). Sieht man einmal davon ab, dass Assmann in ihren umfangreichen Arbeiten immer wieder auf die Prozesshaftigkeit von Erinnerungen sowie dabei insbesondere auf die Aushandlungsprozesse und Konflikte zwischen divergierenden Gruppen eingegangen ist – so dass dieser Vorwurf etwas verfehlt wirkt –, ist Bauerkämpers These sehr ergiebig, dass die zeitgeschichtlichen Erfahrungen Europas mit Krieg und Gewalt „ihrerseits durch vorangegangene Erfahrungen präformiert“ gewesen seien. Diese Altlasten seien „jeweils durch das Gedächtnis aktualisiert“ worden (S. 14). Bauerkämper verschiebt den analytischen Rahmen dadurch bis zur Zwischenkriegszeit, vielfach sogar bis zum Ersten Weltkrieg. Zahlreiche Aushandlungsprozesse der Nachkriegserinnerung der 1950er- und 1960er-Jahre lassen sich in der longue durée tatsächlich schlüssiger erklären, und auch die europaweiten „Lern-, Transfer- und Abgrenzungsprozesse“ (S. 22) sind deutlicher zu erkennen. Problematisch ist dagegen, dass der Autor schon zu Anfang betont, aus methodischen Gründen die Aufarbeitung des Stalinismus nicht mit einbeziehen zu können (S. 19). Spätestens seit Timothy Snyders breit rezipierter und diskutierter Studie zu „Bloodlands“4 in Osteuropa weiß man, dass gerade die Überlagerung nationalsozialistischer und stalinistischer Verbrechensbezüge die europäischen Erinnerungen so konfliktträchtig macht.

Die divergierenden Erfahrungen und Gedächtnisse werden in einem Länderquerschnitt untersucht, den Bauerkämper ausführlich begründet: Er behandelt Täter, besetzte, unterjochte und neutrale Staaten – in seiner Auswahl Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich, Norwegen, Dänemark, die Sowjetunion (bzw. Russland), Polen, Tschechoslowakei (bzw. Tschechien und Slowakei), Ungarn, Rumänien, Spanien, Schweden und die Schweiz. Man ist gespannt, wie die unterschiedlichen nationalen Narrative historisch-komparativ analysiert werden können, ohne andererseits aber deren Eigengewicht zu unterschätzen. In seinem Querschnitt arbeitet sich Bauerkämper an den drei beherrschenden Erinnerungsfiguren ab, die sich in jedem nationalen Diskurs wiederfinden lassen und die den konkurrierenden Erinnerungen gleichsam einen Rahmen geben: Sieger, Opfer und Märtyrer (S. 370).

Die Konzentration auf den Unterschied zwischen „kommunikativem“ und „kollektivem Gedächtnis“, die der Autor stark betont, erweist sich als konzeptionelle Leitlinie hinsichtlich der Differenzierung in verschiedene Gruppierungen und Akteure, die ihrerseits unterschiedliche „Gedächtnisregime“ herausgebildet haben. Dies greift frühere Studien auf, wonach sich in jeder Gesellschaft „Codes der Erinnerung“ formieren, die der Externalisierung anderer (Erinnerungs-)Gruppen dienen. Demnach haben der Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis, der mit der Ablösung der Kriegsgeneration seit den 1960er-Jahren einherging, sowie die Vermittlung der Geschichte durch die Medien insbesondere seit den 1980er-Jahren überall in Europa zu Dissonanzen geführt, die maßgeblich zu einem Umbruch der Erinnerungskulturen beitrugen (S. 372). Diskursprägend war in allen Ländern der Sinn, den demokratische wie diktatorische Machteliten durch Rekurs auf die Erinnerung an Krieg und Besatzung herstellen wollten und den Bauerkämper mit dem Konzept des Präsentismus erläutert (S. 38, S. 382). Allerdings ist der Preis des transnationalen Zugriffs eine – vielleicht unvermeidbare – Nivellierung des Unterschieds zwischen Demokratien und Diktaturen in Bezug auf ihren Umgang mit der Geschichte.

Ein analytischer Kern der transnationalen Perspektive ist der mögliche Erkenntnisgewinn für das heutige Europa und damit die Frage, ob es unter diesen Voraussetzungen gelingen kann, eine identitätsstiftende europäische Erinnerung zu gestalten.5 Solchen politischen Utopien erteilt Bauerkämper auf fundierter Grundlage (die jedoch mehrheitlich auf Westeuropa fokussiert ist) eine klare Absage: Zwar seien die Bausteine inzwischen überall in Europa vorhanden, aber sie würden noch immer sehr unterschiedlich akzentuiert und im national-politischen Diskurs verschieden instrumentalisiert. Abschließend konstatiert der Autor, dass eine negative Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust nicht geeignet sei, den europäischen Einigungsprozess voranzutreiben; hierzu sei vielmehr eine positive Identitätsbildung vonnöten. Zudem bestehe in der Universalisierung des Holocaust die Gefahr, den Judenmord aus seinem Kontext zu lösen. Daher fordert Bauerkämper schlüssig, die kulturellen Kohäsionskräfte, die das Zusammenwachsen Europas begleiten, nicht zu sehr mit politischen Rekursen auf die gemeinsame Gewaltgeschichte aufzuladen (S. 393). In der genauen Beobachtung und Empathie für die Geschichte anderer europäischer Länder sei eher ein „dialogisches Erinnern“ wünschenswert (S. 399; übrigens ebenfalls ein Begriff, den Aleida Assmann geprägt hat). Bauerkämper warnt jedoch davor, Empathie mit Emotionalisierung zu verwechseln – vielmehr solle eine „interaktive Vergegenwärtigung der Vergangenheit“ angestrebt werden, die auf Wissen gründe (S. 383).

Wie der Verfasser unterstreicht, gibt es diverse europäische Forschungslücken: zum einen die „partikularen Aneignungsstrategien“ insbesondere der Holocaust-Erinnerung (S. 25), oder die Verflechtungen von Familien- und Kleingruppenerinnerungen (S. 36), die Harald Welzer auch im Hinblick auf Europa in die Diskussion eingeführt hat.6 Zum anderen bieten die Auswirkungen von europäischen Städtepartnerschaften, Gedenkstättenpolitik sowie der Rolle von Opferverbänden und Suchdiensten (S. 374) noch genügend Forschungsfelder für die transnationale Verflechtungsgeschichte. Darüber hinaus konnten die globalen Dimensionen, insbesondere die Erinnerungskulturen in asiatischen Ländern, in diesem Buch nur sehr kurz angerissen werden – auch hier besteht weiterer Forschungsbedarf (S. 402ff.). Aber insbesondere die Befunde zu osteuropäischen Staaten und deren konflikthafter Gedächtnisformierung in kommunistischer Zeit sowie die Aushandlungsprozesse um eine neue Holocausterinnerung nach dem Ende des Kalten Kriegs sind ergiebig für vertiefende Fragen.

Vieles am Duktus von Bauerkämpers Werk erinnert an Tony Judts Monographie „Postwar“.7 Doch „Das umstrittene Gedächtnis“ ist in erster Linie die – sehr verdienstvolle – synoptische Zusammenschau vieler bisheriger, oft sehr umfangreicher Forschungen zu 14 verschiedenen Ländern in Europa (sofern man die beiden deutschen Staaten und die Sowjetunion jeweils als ein Land rechnet, was natürlich eine Vereinfachung ist). So muss sich der Autor, der vor allem deutsch- und englischsprachige Literatur rezipiert hat, bei vielen Länderstudien mangels Sprachkompetenz auf die Expertise der jeweiligen Kollegen verlassen. Dies macht jedoch ein sehr engmaschiges Fußnotensystem notwendig, und das ist nicht überall gelungen. Insbesondere sind manche Anmerkungen, die oft erst am Ende eines längeren Abschnitts stehen, der mehrere Länder in Beziehung setzt, zu kurz geraten oder unvollständig: Häufig taucht das zuerst genannte Land nicht mehr in den Belegen auf. Etwas ärgerlich ist zudem die verlegerische Entscheidung für Endnoten – wer spezielle Länderinformationen sucht, muss nun ständig blättern und findet dann oft summarische, zu knappe oder gar keine Belege (insbesondere dort, wo viele Zahlen präsentiert werden); hier sei die Lektüre der früheren Sammelbandbeiträge als Ergänzung angeraten. Für Studierende birgt der Band daher Fallstricke. Für Doktoranden und etablierte Forscher, die die Ausgangsstudien kennen und sie mit neueren Einzelstudien in Beziehung setzen, bietet das Werk dagegen einen kenntnisreichen Überblick, gepaart mit anregenden Querschnittsanalysen und konzeptionellen Fragen, insbesondere zu den soziokulturellen Erinnerungskonflikten.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Monika Flacke (Hrsg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Katalog zur Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin, Mainz 2004; Kerstin von Lingen (Hrsg.), Kriegserfahrung und nationale Identität in Europa nach 1945. Erinnerung, Säuberungsprozesse und nationales Gedächtnis, Paderborn 2009.
2 Vgl. Robert Bohn / Christoph Cornelißen / Karl Christian Lammers (Hrsg.), Vergangenheitspolitik und Erinnerungskulturen im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Deutschland und Skandinavien seit 1945, Essen 2008.
3 Vgl. etwa Regina Fritz / Carola Sachse / Edgar Wolfrum (Hrsg.), Nationen und ihre Selbstbilder. Postdiktatorische Gesellschaften in Europa, Göttingen 2008; Katrin Hammerstein u.a. (Hrsg.), Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit, Göttingen 2009.
4 Timothy Snyder, Bloodlands. Europe Between Hitler And Stalin, New York 2010.
5 Als Diskussionsbeiträge zu dieser Frage siehe u.a. Helmut König / Julia Schmidt / Manfred Sicking (Hrsg.), Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationalen Erinnerungen und gemeinsamer Identität, Bielefeld 2008; Claus Leggewie / Anne Lang, Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011; Aleida Assmann, Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur?, Wien 2012.
6 Harald Welzer (Hrsg.), Der Krieg der Erinnerung. Holocaust, Kollaboration und Widerstand im europäischen Gedächtnis, Frankfurt am Main 2007.
7 Tony Judt, Postwar. A History of Europe Since 1945, London 2005.