Titel
Magnus Hirschfeld and the Quest for Sexual Freedom. A History of the First International Sexual Freedom Movement


Autor(en)
Mancini, Elena
Reihe
Critical Studies in Gender, Sexuality, and Culture
Erschienen
New York 2010: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
204 S.
Preis
€ 76,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norman Domeier, Historisches Institut, Universität Stuttgart

Nach jahrelangen politischen Querelen hat die Bundesregierung im Herbst 2011 die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld errichtet.1 Da zu ihren drei Kernaufgaben neben der Erinnerungs- und Bildungsarbeit die Förderung der historischen Forschung gehört, wird sie in Zukunft ein wichtiger Kooperationspartner für Historikerinnen und Historiker sein, die auf dem Feld der (Homo-)Sexualitäten arbeiten. Bereits vor der zu Recht erfolgten Namensgebung der neuen Bundesstiftung war Magnus Hirschfeld allerdings nicht mehr der „große Unbekannte“, als den ihn Elena Mancini in ihrer Dissertation darstellt. In der angelsächsischen Welt ist er vielleicht sogar bekannter als im deutschsprachigen Raum, wo die damnatio memoriae der Nazis bis in die 1960er-Jahre wirkte. Hirschfeld ist inzwischen nicht allein Objekt zahlreicher Fachartikel und Aufsätze, sondern wird auch in einem guten Dutzend Monographien und Sammelbänden gewürdigt; in der Populärkultur ist er unter anderem durch Rosa von Praunheims Spielfilm „Der Einstein des Sex“ von 1999 bekannt.

Mancinis Positivdeutung der historischen Leistung Hirschfelds – substantiell bietet ihre Studie nichts Neues – fügt sich in eine generelle Neubewertung des bedeutenden deutschen Sexualwissenschaftlers, Sexualreformers und Sexualpolitikers des 20. Jahrhunderts ein. Nach einer skeptisch konnotierten Wiederentdeckung Hirschfelds in den 1960er- und 1970er-Jahren folgte bis vor kurzem eine Phase starker Kritik, rekurrierend auf seine im sozialistischen Zeitgeist verortbaren eugenische Ideen, einige gescheiterte Umoperationsversuche von Homosexuellen in seinem berühmt-berüchtigten Berliner Institut für Sexualwissenschaft und, innerhalb der Schwulenbewegung, vor allem auf seinen Essentialismus, demzufolge Homosexualität angeboren und nicht erworben ist.2

Erst seit wenigen Jahren erscheint Hirschfelds Bild wieder in milderem Licht. Insofern bringen die Namensgebung der Bundesstiftung und die hagiographische Interpretation Mancinis das aktuelle, sehr positive Verständnis Hirschfelds zum Ausdruck. Mancini sieht in ihm nicht nur einen Gründungsvater der Sexualwissenschaft, sondern einen der großen Humanisten der klassischen Moderne (S. XVI), der zwei Epochen, das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik, politisch und kulturell prägte. Mehr noch: Hirschfelds sexualpolitische und sexualkulturelle Ideen und Konzepte sind für Mancini noch heute für westliche Demokratien richtungsweisend. Trotz seiner Nähe zur Sozialdemokratie sei Hirschfeld ein klassischer Liberaler gewesen, der optimistisch und zukunftsgläubig an die evolutionäre Durchsetzung einer sexuell befreiten und erst dadurch demokratisierten Gesellschaft glaubte. Jeder konsensuale Ausdruck von Sexualität unter Erwachsenen, der nicht in die Rechte anderer Bürger eingreift, könne mit Hirschfeld als Affirmation notwendiger Normen begriffen werden. Dass Hirschfeld jedoch überhaupt an Normen festhielt (mit völliger Selbstverständlichkeit gebrauchte er den Begriff des „Normalsexuellen“), macht ihn für postmoderne Normativitätskritiker nach wie vor zu einer Reizfigur. Dabei, darauf weist Mancini zu Recht hin, harren viele der Hirschfeldschen Grundideen auch heute noch ihrer Popularisierung, insbesondere seine Zwischenstufentheorie, die er in einem gewissen Spannungsverhältnis zu seinem bekannteren Konzept von Homosexualität als Drittem Geschlecht entwarf: Männlichkeit und Weiblichkeit stellen demnach nur idealtypische Pole auf einer Skala quasi unendlicher sexueller Zwischenstufen dar; jeder Mensch besitzt weibliche und männliche Dispositionen in einem individuellen Mischungsverhältnis. Eine so verstandene komplexe Persönlichkeit möglichst ohne soziale Einschränkungen ausleben zu können, kann bis heute als Messlatte für die sexuelle Freiheit in offenen Gesellschaften angesehen werden.

So plausibel Elena Mancinis Sicht auf Magnus Hirschfeld als einen weit über die Sexualwissenschaft hinaus wirkenden Gesellschaftsreformer ist, so bedauerlich ist die Qualität ihrer Studie. Nicht nur bleibt die Rekonstruktion zu dünn, die Analyse zu oberflächlich, beinahe jede der 147 Seiten strotzt vor faktischen und sachlichen Fehlern, die viele Einzeldeutungen unglaubwürdig machen. Es sind dabei nicht nur gravierende Übersetzungsfehler aus dem Deutschen zu nennen, worauf bereits andere Rezensenten hingewiesen haben, sondern auch unzählige auf Unkenntnis beruhende Irrtümer und Entstellungen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Hirschfeld, stets auf bürgerliche Respektabilität bedacht, hätte seinem Werk „Berlins Drittes Geschlecht“ von 1904 niemals den (postum hinzugefügten) Untertitel „Schwule und Lesben um 1900“ gegeben (S. 95).

Bis zu einer umfassenden, kritischen Biographie, die insbesondere auch die Aneignungen, Neu- und Umdeutungen seiner Person und seines Werkes nach 1945 mitberücksichtigt, wird die Arbeit von Charlotte Wolff von 1986 das Standardwerk zu Magnus Hirschfeld bleiben.3 Nicht zuletzt durch die Forschungsförderung der neuen Bundesstiftung Magnus Hirschfeld werden wir jedoch in den nächsten Jahren mit spannenden neuen Arbeiten zu einer der schillerndsten und wirkungsmächtigsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts rechnen können.

Anmerkungen:
1 Internetpräsenz der Stiftung unter: <http://mh-stiftung.de> (08.10.2012).
2 Vgl. etwa Volkmar Sigusch, 50 Jahre danach, in: Sexualmedizin 12 (1983), S. 252; Martin Dannecker, Vorwort, in: Wolfgang Johann Schmidt (Hrsg.), Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen. Auswahl aus den Jahrgängen 1899–1923, Frankfurt am Main / Paris 1983, S. 10.
3 Charlotte Wolff, Magnus Hirschfeld. A Portrait of a Pioneer in Sexology, London 1986.

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