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Titel
Theatraler Protest und der Weg Polens zu 1989. Zum Aushandeln von Öffentlichkeit im Jahrzehnt der Solidarność


Autor(en)
Szymanski, Berenika
Reihe
Postcolonial Studies 43
Anzahl Seiten
303 S.
Preis
€ 32,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Saskia Fischer, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld

Die performativen Dimensionen von Kultur, Geschichte, Gesellschaft und Politik erfreuen sich seit einigen Jahren verstärkter interdisziplinärer Aufmerksamkeit. Dieses Interesse gründet auf der Annahme, dass sich Kultur im Allgemeinen nicht ausschließlich über ihre Texte, das heißt von „einem kulturell privilegierten semiotischen und hermeneutischen Modell“1 her verstehen lässt, sondern dass sie wesentlich auch Vollzug ist und sich durch ihre Praktiken konstituiert. Kultur wird gemacht und gelebt, auf ganz unterschiedliche Weisen. Das scheint für alle sozialen Teilsysteme zu gelten, wenn auch nicht gleichermaßen intensiv. Besonders das Politische bedarf der Darstellung und der Inszenierung. Für die politische Kommunikation ist die Vergegenwärtigung und Vermittlung in den Medien und der Öffentlichkeit unabdingbar. Die Politik muss sich zeigen, um gesehen und gehört, im Idealfall auch, um verstanden zu werden. Hierin gründet die zentrale Bedeutung des Performativen für den Bereich des Politischen. Die Kategorie der Theatralität als ästhetisch elaborierter kultureller Handlungstyp ist für die Beschreibung dieses Zusammenhangs in den letzten Jahren zunehmend häufiger verwendet worden und hat sich, unter anderem durch die Arbeiten der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte, zu einem zentralen kulturhermeneutischen Begriff entwickelt.

Mit der vorliegenden Studie schließt Berenika Szymanski an diese in den Geistes- und Sozialwissenschaften geführten Diskussionen um die Kategorie der Theatralität an. Im Zentrum ihrer Arbeit, die einen geschichtswissenschaftlichen mit einem theaterwissenschaftlichen Ansatz zu verbinden sucht, stehen der revolutionäre Umbruch der politischen Ordnung in Polen im Jahr 1989 und seine Vorgeschichte. Diese beginnt für Szymanski mit der Entstehung der Gewerkschaftsbewegung Solidarność im Jahr 1980. Ziel der Untersuchung ist es, zu zeigen, dass „die theatrale Dimension“ des öffentlichen Protests gegen das kommunistische Regime „zu den konstitutiven Faktoren“ des politischen Wandels in Polen gehörte (S. 259). Die theatralen Protestformen der politischen Opposition der Zeit, worunter Szymanski sowohl Streiks, verbotene Gedenkfeierlichkeiten als auch Happenings fasst, wertet die Autorin als Modus und als wesentliche Strategie, die der in der Öffentlichkeit dominierenden Meinung der Partei eine kritische Stimme gegenüberstellte. Für Szymanski wurde „der Zeitraum von 1980 bis 1989, von der Entstehung der Solidarność bis zur erneuten Legalisierung der zwischendurch verbotenen Gewerkschaftsbewegung“ wesentlich durch ein „permanentes Aushandeln von Sicht- bzw. […] Unsichtbarkeit der opponierenden Kräfte im öffentlichen Raum“ geprägt (ebd.). An dieser Stelle sei bemerkt, dass der Begriff des ‚Aushandelns‘ im Kontext dieser Studie vielleicht nicht immer treffend ist. Der aus der Ökonomie stammende Terminus legt eine bestimmte Handlungslogik nahe, die der besonderen Spezifik theatralen Handelns nicht unbedingt bzw. nicht immer gerecht wird. Es ist dann auch kein Begriff im wissenschaftstheoretischen Sinn, sondern eine erkenntnisleitende Metapher, deren Implikationen in manchen Zusammenhängen nicht unproblematisch sind.

Durch den theatral geformten und damit öffentlichkeitswirksamen Protest beanspruchten die zivilgesellschaftlichen Initiativen Polens Partizipation am politischen Diskurs. Im Rückgriff auf die Theorien von Nancy Fraser zur Herstellung von ‚Gegenöffentlichkeit‘ und dem Politikbegriff von Jacques Rancière folgt Szymanski einem konstruktivistischen und akteurszentrierten Verständnis des Politischen. Dieses ist seit Längerem für eine kulturorientierte Politikgeschichte leitend, wie sie in den letzten Jahren unter anderem in Bielefeld verfolgt wurde.2 Das Politische ist damit nicht auf Entscheidungen, Institutionen und Strukturen beschränkt. Vielmehr steht das, was das Politische sein und leisten soll, immer auch zur Disposition. In dieser Perspektive wird das Politische als fortwährender Kommunikationsprozess verstanden, der sich im Prinzip in jedem Bereich des gesellschaftlichen Lebens vollziehen kann.

In ihrer Studie verfolgt Szymanski nicht nur die Aktivitäten der Gewerkschaftsbewegung Solidarność, sondern nimmt auch andere oppositionelle Gruppierungen wie die Orangene Alternative in den Blick. Dieser misst sie für das Erreichen des politischen Wechsels in Polen zentrale Bedeutung zu. Im Unterschied zu den religiös-patriotisch ausgerichteten Protestformen der Gewerkschaftsbewegung nahmen die Aktionen der Orangenen Alternative mehr humorvoll-ironischen Charakter an. Ihr Protest sei dabei weniger von einer politisch eindeutigen Botschaft geprägt als vielmehr darauf aus gewesen, die Absurdität im kommunistischen Alltag zu veranschaulichen, wie Szymanski festhält. Die Orangene Alternative bildete somit wiederum auch zur Solidarność ein deutliches Pendant. Durch diese Differenzierung gelingt es der Autorin, ein komplexes Bild des vermeintlich mehr oder minder ausschließlich von der Gewerkschaftsbewegung angeleiteten politischen Protests zu zeigen. Vielleicht ist es auch diese verschiedene Lager übergreifende Solidarität gegen das kommunistische System, auf die der Untertitel von Szymanskis Studie anspielt.

Einerseits wird in der vorliegenden Untersuchung deutlich, wie stark Nationalgefühl und Glaube in einem Land wie Polen ineinander übergehen. Die katholische Kirche bildete in der von Okkupation, Teilung und Auflösung bestimmten Geschichte des Landes immer den Ort, an dem die eigene, nationale Identität gepflegt werden konnte. Eben dadurch trugen das religiöse Liedgut und die sakral geprägten rhetorischen, theatralen und rituellen Formen dazu bei, dem Protest in entscheidender Weise Prägnanz und Evidenz zu verleihen. So ist es nur plausibel, wenn in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre die Gottesdienste für die Nation, die der Priester Popiełuszko anleitete, zu einer zentralen Form des öffentlichen Protests wurden. Allerdings betont Szymanski, dass „immer mehr, auch ungläubige Menschen den Weg in die Kirche“ fanden, da „Versammlungen im Rahmen der Kirche vom Versammlungsverbot des Militärischen Rates ausgenommen waren“ (S. 262).

Andererseits stellt Szymanski heraus, dass gegen Ende der 1980er-Jahre die „zwischen nationalen und religiösen Elementen“ changierenden Protestakte der Solidarność allmählich ihre Wirksamkeit verloren (ebd.). An diesem Punkt entwickelten sich die Happenings der Orangenen Alternative zu einem „wichtigen Motor für neue Proteste, die den Verlust von Ängsten vor der Miliz anzuregen und Menschen zum Erscheinen in der Öffentlichkeit zu ermutigen vermochten“ (S. 263). Mehr noch: Die bislang in der Forschung eher vernachlässigte Orangene Alternative wirkte, so eine zentrale These Szymanskis, der zunehmenden Resignation unter den Oppositionellen entgegen und trug entscheidend zum Wiedererstarken der Gewerkschaftsbewegung bei. Für die Autorin war es diese Gruppierung, die „den Nährboden für den Runden Tisch unter der Federführung der Solidarność-Elite“ bereitete (ebd.).

Szymanski gelingt es überzeugend, ihr eingangs formuliertes Vorhaben umzusetzen. Die Arbeit zeigt, dass die theatralen Protestformen nicht nur Ornament des politischen Umbruchs sind. Vielmehr wird durch sie die politische Mobilisierung für einen Systemwandel erst vollzogen. Ein kleiner Einwand bleibt jedoch: In ihrem Kapitel zur „Etablierung von Bühnenräumen“ (S. 67-77) sucht Szymanski die implizite Frage des Kapitels zu beantworten, wie die Akteure der Gewerkschaftsbewegung bei ihren Streiks mit theatralen Mitteln den öffentlichen Raum erobert haben. Szymanski weist in diesem Zusammenhang wiederholt darauf hin, dass „nicht nur Bagger, sondern auch Elektrokarren, Tische, Stühle, aber auch die Schultern von Kameraden“ zur „Bühne“ wurden (S. 69). An solchen Stellen allerdings verliert der Theatralitätsbegriff seine deskriptive und analytische Kraft. Es wäre wünschenswert gewesen, hätte die Autorin in diesem Kapitel systematisch grundlegender argumentiert. Insgesamt leistet die Arbeit jedoch einen wichtigen Beitrag dafür, dass das Ästhetische als wesentlicher Faktor politischer Kommunikation überhaupt angesehen werden muss.

Anmerkungen:
1 Wolfgang Braungart, Transgressivität als kulturästhetisches Prinzip, in: Neue Beiträge zur Germanistik 5 (2006), Heft 1, S. 11-39, hier S. 14.
2 Vgl. u. a. dazu Ute Frevert / Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt am Main 2005, vgl. die Rezension von Gabriele Metzler, in: H-Soz-u-Kult, 29.10.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-4-064> (28.08.2012). Kritisch dazu: Bernd Weisbrod, Das Politische und die Grenzen der politischen Kommunikation, in: Daniela Münkel / Jutta Schwarzkopf (Hrsg.), Geschichte als Experiment. Studien zu Politik, Kultur und Alltag im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2004, S. 99-112.

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