D. Schefold (Hrsg.): Hugo Preuß, Gesammelte Schriften, Bd. 2

Titel
Gesammelte Schriften. Zweiter Band: Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie im Kaiserreich


Autor(en)
Preuß, Hugo
Erschienen
Tübingen 2009: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
X, 891 S.
Preis
€ 84,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arthur Schlegelmilch, Lehrgebiet Neuere Deutsche und Europäische Geschichte, FernUniversität in Hagen

Hugo Preuß – ein moderner Preuße, der Preußen (und Deutschland) den Weg in die parlamentarische Demokratie bereitete – dies ist der Grundtenor eines von Detlef Lehnert unlängst herausgegebenen Sammelbandes.1 Nicht viel anders lässt sich die Essenz der hier zu besprechenden Edition einschließlich Dian Schefolds instruktiver Einleitung zusammenfassen. Denn in der Tat drängt sich bei der Lektüre der juristischen Arbeiten Preuß’ aus dem Zeitraum von 1889 bis 1917 der Eindruck auf, dass sich der 1860 geborene Staatsrechtler wie kaum ein anderer seiner Zunft der Überwindung des wilhelminischen „Obrigkeitsstaats“ verschrieben hatte. Mit seinen Auffassungen, die in letzter Konsequenz inkompatibel mit der in „Einigungskriegen“ erzwungenen Reichsverfassung waren, stellte er sich nicht nur in Gegensatz zu dem von Paul Laband angeführten Rechtspositivismus als dominierender Staatsrechtslehre, sondern auch zur überwiegenden Mehrheit der Wissenschaftselite seiner Zeit, die sich arrangierte oder sich von der Notwendigkeit einer eigenständigen rechtlichen Ausformung des innerlich und äußerlichen Nationalstaats in der Mitte Europas überzeugt erklärte.

Preuß’ „revolutionäre“ Grunddisposition zeigt sich bereits in Bezug auf die ursprünglich eher gemäßigte Auffassung vom Staat als Organismus. Er verdankte sie seinem Lehrer Johann Caspar Bluntschli, der aus der Vorstellung des Staats als eines biologischen Organismus zu einer spezifischen Staatspersönlichkeitsvorstellung gelangt war, die sich freilich gegen das abstraktere Modell des Staats als juristischer Person nicht hatte durchsetzen können. Bluntschlis Konstrukt bezog alle Staatsorgane, auch die Krone, in die Verantwortung ein, beließ es ansonsten aber bei einer relativ statischen und hierarchischen Herrschaftsauffassung. Hier setzte Preuß an, indem er vom Staat als einem substantiellen und leibhaftigen organischen System ausging. Dieses konnte sich nach seiner Auffassung nur dann als lebens- und entwicklungsfähig erweisen, wenn alle Organe als prinzipiell gleichbedeutend und gleichwertig für das Ganze anerkannt wurde. Wenn es auch verbindlicher Rechtsregelungen bedurfte, um die notwendige Ordnung im Verhältnis der „Organpersonen“ herzustellen, handelte es sich folglich nicht um ein Herrschafts-, sondern um ein Komplementaritätsverhältnis.

Die zweite bedeutende Referenzquelle stellte Otto von Gierke dar. Wie dieser, begriff Preuß den Staat als reale Verbandspersönlichkeit und das öffentliche Recht als Umformung des ursprünglicheren Sozialrechts. Im Gegensatz zu Gierke wandte er sich jedoch von der Idee der Souveränität des Staats ab und sah im Staat nur eine von mehreren (im Prinzip gleichwertigen) Gebietskörperschaften. Hieraus ergab sich die Schlussfolgerung mehrerer Souveränitäten, deren Zusammenwirken den Staat zu einer „zur Einheit organisirten Vielheit“2 und damit zu einer wirklichen (nicht nur fiktiven) Staats- und Verbandsperson machte.

Schließlich sollte als dritte Hauptreferenz das kommunale Selbstverwaltungsprinzip genannt werden, das von Preuss dahingehend „revolutioniert“ wurde, dass die Gemeinde nicht länger (wie bei Rudolf von Gneist) dem Staat als interessensgeleiteter Teilverband entgegengestellt wurde und lediglich über „von oben“ übertragene Hoheitsrechte verfügte, sondern kraft eigenen Rechts als teilsouveräne „Gliedperson“ mit autonomen Hoheitsrechten firmierte.

Hugo Preuß’ besondere Wertschätzung der kommunalen Selbstverwaltung verband sich mit der historischen Ableitung seiner Genossenschaftstheorie aus der Tradition der mittelalterlichen Stadt. Hieran anknüpfend sah er die große Leistung der Steinschen Städteordnung darin, dass die durch den Absolutismus zwischenzeitlich usurpierten gemeindedemokratischen Traditionen wiederbelebt und Preußen damit auf den Weg in die Moderne zurückgeführt wurde. Da aber die Ausweitung auf die Landgemeinden bekanntlich am junkerlichen Widerstand gescheitert und das genossenschaftliche Prinzip weder auf Provinzial- noch auf Staatsebene zum Durchbruch gekommen war, konstatierte Preuß für Preußen wie auch für das preußisch geführte Reich eine „ungelöste Dissonanz heterogener Organisationsprinzipien“.3 Deren Zusammenfügung auf genossenschaftlich-parlamentarischem Fundament und damit die Ausscheidung aller wesensfremden Herrschaftselemente galten ihm mithin als historische Verpflichtung und Gegenwartsaufgabe.

An diesem Punkt weicht die Perspektive des Rezensenten (als Historiker) vom Grundtenor des Bandes bzw. seiner Einleitung ein Stück weit ab. Denn so sehr Preuß durch die spätere Entwicklung bestätigt scheint und seine Rolle bei der geistigen Vorbereitung und Entstehung der Weimarer Reichsverfassung gewürdigt zu werden verdient, so ist andererseits doch auch festzuhalten, dass er für eine evolutionäre Reformierung des „deutschen Konstitutionalismus“ keine entscheidenden Impulse zu setzen vermochte. Dies mag einerseits auf die systembedingte Immobilität dieses eigentümlichen Verfassungssystems zurückzuführen sein, andererseits aber auch damit zusammenhängen, dass Preuß die historische Fundierung des Absolutismus in Preußen, Österreich und den Einzelstaaten sowie die Virulenz, Akzeptanz und Attraktivität des Anstaltsstaats nicht ausreichend gewichtet hat und auch nicht frei von deterministischen Geschichtskonstrukten operierte.

Um es nochmals zu verdeutlichen: Edition und Einleitung erbringen sehr überzeugend den Nachweis, dass Hugo Preuß seit 1889 mit bemerkenswerter Konsequenz auf ein Staatsmodell nach Art der Weimarer Reichsverfassung zuarbeitete, in seiner Progressivität zum Teil sogar darüber hinaus wies. In Anbetracht des genossenschaftlich-demokratischen Grundzugs seiner Konzeption wird zudem verständlich, dass der linksliberale Rechtsdenker für die von Friedrich Ebert angeführte Mehrheitssozialdemokratie der gegebene und richtige Partner gewesen ist – nicht zuletzt, weil beide, Ebert wie Preuß, darin übereinstimmten, keinen „verkehrten Obrigkeitsstaat“ zu wollen. Betrachtet man die Dinge hingegen unter dem „historistischen“ Gesichtspunkt einer etwaigen Reformierung des „deutschen Konstitutionalismus“, so vermitteln dieselben Texte eher den Eindruck von Perspektivlosigkeit. Wenn Preuß in seiner Habilitationsschrift von 1889 optimistisch gemeint hatte, dass die staatsrechtliche Theorie nicht nur an „die realen Grundlagen der wirklichen Verhältnisse“ anzuknüpfen habe, sondern „andererseits durch deren gedankliche Ausgestaltung der thatsächlichen vorarbeiten“ sollte4, so musste er schließlich feststellen, auf diesem Weg keine entscheidenden Fortschritte erzielt zu haben. Den Grund sah er in der allgemeinen Schwäche und den gravierenden Dissonanzen der politischen und konstitutionellen Kultur, die es so gut wie unmöglich erscheinen ließ, die erwünschte demokratische und parlamentarische Ausgestaltung aller Ebenen des staatlichen Lebens auf reformerischem Wege zu gewährleisten. Was blieb, war die Hoffnung auf den „großen historischen Moment“ wie er einst zu Steins und Hardenbergs Zeiten unter dem Druck einer katastrophalen militärischen Niederlage über das Land gekommen war.

Selbstkritische Reflexionen über mögliche Schwächen der eigenen Theorie und ihrer historischen Ableitung finden sich bei Hugo Preuß nur selten. Anlass hierzu hätte es durchaus gegeben, neben der bereits angesprochenen Überschätzung des genossenschaftlichen Geschichtsarguments etwa beim Verdikt des „Obrigkeitsstaats“, wie es sich mehr oder weniger explizit in manchen seiner Schriften findet. Es beschreibt nach Auffassung des Rezensenten nur unzureichend die Verfassungsordnung des Kaiserreichs und verstellt den Blick auf systemimmanente Entwicklungsmöglichkeiten, beispielsweise im Hinblick auf die sukzessive Verstärkung der parlamentarischen Kontrolle über die Reichsregierung.

Die Edition umfasst 49 Texte aus der Feder Hugo Preuß’ aus dem Bereich des öffentlichen Rechts und der Rechtsphilosophie und deckt den Zeitraum 1889 bis 1917 ab. Der Quellenteil wird über eine vierteilige Systematik („Theoretische Grundlagen“, „Einzelfragen des Völker-, Staats- und Verwaltungsrechts“, „Zur Verwaltungsreform“, „Kleinere Rezensionen“) grob vorgegliedert und durch gründliche Namens- und Sachregister erschlossen. Ein umfassender Erläuterungsteil rundet das Werk ab, das ohne jeden Zweifel eine Fundgrube ersten Ranges für einschlägig interessierte Juristen und Historiker darstellt und zudem den Zugang zu Hugo Preuß als liberalem und demokratischem Staatsrechtslehrer auf eindrucksvolle Weise ermöglicht. Dies gilt umso mehr, da sich der Band in die große fünfbändige Ausgabe der „Gesammelten Schriften“, die seit 2007 unter Federführung der Hugo-Preuß-Gesellschaft entsteht, nahtlos einordnet.5

Anmerkungen:
1 Detlef Lehnert (Hrsg.), Hugo Preuß, 1860–1925. Genealogie eines modernen Preußen (Historische Demokratieforschung. Schriften der Hugo-Preuß-Stiftung und der Paul-Löbe-Stiftung, Bd. 2), Köln u.a. 2011.
2 Hugo Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften. Versuch einer deutschen Staatskonstruktion auf Grundlage der Genossenschaftstheorie, Berlin 1889, S. 217.
3 Hugo Preuß, Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveränität, Tübingen 1908, S. 230.
4 Hugo Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften. Versuch einer deutschen Staatskonstruktion auf Grundlage der Genossenschaftstheorie, Berlin 1889, S. 295. Hervorhebung im Original.
5 Erschienen sind Band 1 (Politik und Gesellschaft im Kaiserreich [2007)], der hier besprochene Band 2 [2009], sowie Band 4 (Politik und Verfassung in der Weimarer Republik [2008]); in Vorbereitung sind Band 3 (Verfassungsentwürfe, Verfassungskommentare, Verfassungstheorie), sowie Band 5 (Kommunalwissenschaft und Kommunalpolitik).

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