S. Günther: Unpolitische Kommunalpolitik?

Titel
Unpolitische Kommunalpolitik?. Die Deutsche Volkspartei in der Weimarer Republik


Autor(en)
Günther, Stephanie
Reihe
Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum-Verlag, Reihe Geschichtswissenschaft 14
Erschienen
Anzahl Seiten
313 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniela Gasteiger, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

In der Forschung zur Weimarer Republik wird die Frage, warum eine längerfristige politische Systemstabilisierung in der Zwischenkriegszeit ausblieb, eng mit Beobachtungen zur Schwäche und Auflösung des organisierten politischen Liberalismus und seiner Rolle im Parteiensystem verknüpft. Stephanie Günther greift in der vorliegenden Studie, die auf einer bei Andreas Wirsching in Augsburg entstandenen Dissertation beruht, neuere Anregungen auf: Durch einen Perspektivenwechsel auf die Ebene der Kommunalpolitik will sie die These vom Niedergang der liberalen Parteien und des Liberalismus in der Weimarer Republik einer differenzierenden Revision unterziehen (S. 11f.).1 Als Untersuchungsgegenstand wählt sie die Deutsche Volkspartei (DVP) mit Fokus auf der Rheinprovinz. Im Rheinland und in Westfalen, wo bereits die Nationalliberalen fest verankert gewesen waren, lebte fast die Hälfte der Parteimitglieder (S. 90). An diesem organisatorischen Kristallisationspunkt der Volkspartei macht sich die Autorin auf die Suche nach dem Verbleib der starken liberalen Selbstverwaltungstradition des 19. Jahrhunderts.

Die Erschließung des Themas soll über „prägende Strukturen, Persönlichkeiten und Inhalte“ (S. 12) erfolgen. Im ersten Teil werden zunächst ausführlich die allgemeinen Rahmenbedingungen der Kommunalpolitik in der Weimarer Republik besprochen (S. 23–65). Institutionell war die Selbstverwaltung in Artikel 127 der Weimarer Reichsverfassung garantiert. Als Ursache der allgegenwärtigen Wahrnehmungen einer „Krise der Selbstverwaltung“2 identifiziert Stephanie Günther deren materiell umstrittene Integration in die neue Staatsform: In staatsrechtlichen Konzeptionen einer zentralistischen Demokratie galt die Ebene der kommunalen Selbstverwaltung als störend, ein Standpunkt, gegen den die Kommunalpolitiker ihren Handlungsraum verteidigen mussten. Kommunalpolitische Interessenvertretungen auf Reichs- und Länderebene wie der Deutsche Städtetag sollten die Verflechtung von nationaler und gemeindlicher Ebene sichern.

Im zweiten Teil der Arbeit wendet sich die Verfasserin der DVP und ihrer Haltung zur Kommunalpolitik zu. Günther argumentiert, dass sich die Volkspartei auf diesem Gebiet als Erbin der „ideellen Vorstellungen und Prinzipien“ der nationalliberalen Partei erwies (S. 93–100). Diese habe nur ansatzweise innerparteiliche Strukturen hinsichtlich ihrer kommunalpolitischen Arbeit entwickelt. In der Republik wirkte die persistente Sehnsucht bürgerlicher Honoratioren nach einer vom Parteienstreit unberührten „unpolitischen Regelung von Sachfragen“ (S. 94) und dem damit verbundenen liberalen Ideal der unabhängigen Politikerpersönlichkeit mit universalem Vertretungsanspruch stark nach. Dies schwächte sich jedoch nach Beobachtungen der Autorin Mitte der 1920er-Jahre ab, als die Partei sich den veränderten Gegebenheiten in der Republik anpasste. Das nun auch auf kommunaler Ebene eingeführte Verhältniswahlrecht begünstigte Parteien statt Persönlichkeiten. 1923 entstand in der DVP schließlich ein kommunalpolitischer Reichsausschuss, 1925/26 gründete sich die kommunalpolitische Vereinigung der DVP Rheinprovinz (S. 133–174). Letztere hielt große Arbeitstagungen zu kommunalpolitischen Themen ab mit dem Anspruch, innerhalb der Partei ein Bewusstsein für die Selbstverwaltung zu schaffen. Günther legt nahe, dass diese organisatorische Entwicklung nicht zuletzt reaktiv war: Das Zentrum beispielsweise verfügte seit 1917 über eine kommunalpolitische Zentralstelle in der Partei und wurde nach dem Wegfall des Dreiklassenwahlrechts ein starker Gegner in den Städten der Rheinprovinz.

Nach knappen biografischen Porträts über die prägenden Figuren der Kommunalpolitischen Vereinigung der DVP Rheinprovinz, Otto Most, Fritz David Gustav von Hansemann und Karl Jarres (S. 161–174) beginnt Günther mit der Erläuterung der kommunalpolitischen Inhalte der DVP. 1928 verabschiedete die Kommunalpolitische Vereinigung der DVP Rheinprovinz „Richtlinien“ für ihre Arbeit: Dezentralisierung, Schutz des Mittelstands und Schutz der Beamten und die Förderung des privaten Engagements in der Sozialpolitik waren zentrale Punkte dieses programmatischen Vorstoßes. Am Beispiel der Protokolle der Stadtverordnetenversammlung von Duisburg handelt die Autorin anschließend einige damit zusammenhängende Politikfelder ab: Verwaltungs- und Verfassungsreform, Finanzpolitik, Sozialpolitik, Kultur- und Bildungspolitik, Wirtschaftspolitik, Eingemeindungspolitik (S. 198–275). Der Abschnitt über die Finanzpolitik (S. 209–228) zeigt die Duisburger Stadtverordneten der DVP wie auch der anderen Parteien hin- und hergerissen zwischen der Notwendigkeit, dem kommunalen Haushalt Einnahmen zu bescheren, und dem Unbehagen, dadurch beispielsweise den Mittelstand mit Abgaben zu belasten. In der Wirtschaftspolitik (S. 254–260) vertraten die Abgeordneten der DVP den Standpunkt, dass die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinde nicht in Konkurrenz zu ansässigen Unternehmen treten dürfe und nur in Ausnahmefällen wie der Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung aktiv werden solle.

Insgesamt ist die Autorin bemüht, Einblick in ein möglichst weites Spektrum von Themenfeldern zu geben. Diese Vorgehensweise und die Fokussierung der Studie auf übergeordnete parteiliche Vereinigungen für Kommunalpolitik und Körperschaften wie die Duisburger Stadtverordnetenversammlung limitieren jedoch die inhaltliche Vertiefung. Einige Beispiele aus der kommunalpolitischen Praxis der Städte und Gemeinden hätten dazu beitragen können, die zahlreich zitierten offiziösen Verlautbarungen zu konkretisieren und deren politische Sprache analytisch zu durchdringen. Damit wäre der Blick auch stärker darauf gelenkt worden, dass es in der DVP eine Kontinuität kommunalpolitischer Arbeit jenseits der nur zögerlich entstandenen einschlägigen Vereinigungen innerhalb der Partei gab: Zahlreiche liberale Bürgermeister blieben nach 1918 im Amt (S. 95) und versahen weiter ihren Dienst. Im Bereich der kommunalen Wirtschaftspolitik hätte beispielsweise die Frage, welchen spezifischen Begriff des Mittelstands Vertreter der DVP in den regionalen Kontexten und Konflikten der Zwischenkriegszeit entwickelten, zusätzliches Erklärungspotential besessen. Welche Positionen wurden dabei als genuin „liberal“ verstanden? Den Wunsch nach einer „unpolitischen Politik“ teilten die Liberalen beispielsweise mit einem Teil der Konservativen, eine Haltung, die eher als lagerübergreifendes Merkmal der politischen Kultur denn als ausschließlich nationalliberales Erbe beschrieben werden müsste.

Stephanie Günther hat bisher in der Forschung unbeachtete organisationsgeschichtliche Aspekte der kommunalpolitischen Vereinigungen innerhalb der DVP gut aufgearbeitet. Friedrich Naumann klagte jedoch 1906: „… von allen politischen Richtungen aber ist der Liberalismus am schwersten organisierbar.“3 Möglicherweise wäre die Autorin ihrem Anspruch, einen aktiven Liberalismus in der Zwischenkriegszeit zu porträtieren, näher gekommen, wenn sie ihren Blick über die schwach ausgebildeten formalen Strukturen der Partei hinaus auf informelle Netzwerke in den Städten und Gemeinden selbst gerichtet hätte.

Anmerkungen:
1 Andreas Wirsching, Zwischen Leistungsexpansion und Finanzkrise. Kommunale Selbstverwaltung in der Weimarer Republik, in: Adolf M. Birke / Magnus Brechtken (Hrsg.), Kommunale Selbstverwaltung – Local Self Government. Geschichte und Gegenwart im deutsch-britischen Vergleich, München, 1996, S. 37–64; Karl Heinrich Pohl, Der Liberalismus im Kaiserreich, in: Rüdiger vom Bruch (Hrsg.), Friedrich Naumann in seiner Zeit, Berlin u.a. 2000, S. 65–90, hier S. 68.
2 Zu den zeitgenössischen Krisenwahrnehmungen Wirsching, Leistungsexpansion, S. 54–64.
3 Friedrich Naumann, Erneuerungsprobleme, in: Ders., Freiheitskämpfe, Berlin 1911, S. 63–77, hier S. 73. Bei dem Text handelt es sich um den Wiederabdruck eines Artikels aus der Zeitschrift „Die Hilfe“, 12. Jahrgang, 1906, Nr. 35–37.

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