Cover
Titel
The King Invites. Performing Power at a Courtly Dining Table


Autor(en)
De Vooght, Daniëlle
Reihe
European Food Issues / Europa Alimentaria / L’europa Alimentare
Anzahl Seiten
285 S.
Preis
€ 44,34
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mario Kliewer, Institut für Geschichte, Technische Universität Dresden

Aus Sicht der klassischen Sozialgeschichtsschreibung verschwanden die europäischen Königshöfe nach 1789 in der Bedeutungslosigkeit. Bis zu ihrem endgültigen Untergang 1918 verlor der europäische Hochadel als Sozialformation stetig an politischem und kulturellem Einfluss. Die Gegenthese dazu wäre die, dass sich die alten Eliten trotz der einschränkenden konstitutionellen Rahmenbedingungen und trotz der Konkurrenzsituation zu den neuen wirtschaftlichen und politischen Eliten des 19. Jahrhunderts politisch und kulturell neu ausrichteten.

Die belgische Historikerin Daniëlle de Vooght knüpft an diese Diskussion an. In ihrer Dissertationsschrift untersucht sie soziale Netzwerke und kulturelle Muster der Machtausübung am belgischen Hof während der Regierungsperioden Leopolds I. (1831–1865) und Leopolds II. (1865–1909). Ihre Vorgehensweise skizziert de Vooght in einer konzisen Einleitung. Nach den notwendigen theoretischen und methodischen Vorüberlegungen sowie historischen Kontextualisierungen analysiert sie auf Basis von Gästelisten verschiedener am belgischen Königshof abgehaltener Tafeln zunächst die sozialen Netzwerke, die anlässlich solcher Ereignisse entstehen konnten (S. 31). Die daraus resultierenden Ergebnisse verbindet die Autorin mit einer qualitativen Analyse von Menükarten, wobei ihr Fokus auf dem sozial distinktiven Charakter verschiedener Niveaus der belgischen Hofküche liegt.

De Vooght verortet ihre Studie im Rahmen der soziologischen Debatte um die Dichotomie zwischen individuellem Handeln und sozialen Strukturen. Ausgehend von einer Kritik an Anthony Giddons Strukturierungstheorie sowie der Figurationssoziologie von Norbert Elias konstatiert sie, dass für die Darstellung von Machtverhältnissen am belgischen Königshof beide Dimensionen berücksichtigt werden müssen. Soziale Beziehungen und individuelle Handlungsfähigkeiten hält sie für gleichermaßen relevant (S. 43). Überzeugend legt sie dar, dass Macht am belgischen Hof sowohl ein strukturimmanentes Moment als auch die Folge individuellen Handelns war. Indem sie Schlüsselfiguren an den Hoftafeln identifiziert, zeigt de Vooght beispielsweise, dass die jeweiligen belgischen Außenminister zu den beliebtesten Gästen zählten (S. 148).

De Vooghts Methode zur Rekonstruktion dieser sozialen Netzwerke ist innovativ im Rahmen der Sozialgeschichtsschreibung. Die von der Autorin ausgewerteten Gästelisten werden mit Hilfe einer computergestützten sozialen Netzwerkanalyse (SNA) untersucht. Die soziale Gruppe, die sie damit in den Fokus nimmt, umfasst somit alle Gäste an den königlichen Tafeln während der Regierungsjahre Leopolds I. und Leopolds II. Die erstellten Soziogramme werden anschließend hinsichtlich verschiedener Fragen ausgewertet. Wie viele Gäste waren jährlich direkt oder indirekt miteinander verbunden? Wer bewegte sich eher im Kern des Netzwerkes, also möglichst nah beim König, wer eher in der Peripherie (S. 66ff.)? Der Grad der Zentralität eines Akteurs im Netzwerk, so ihre These, impliziere eine größere Nähe zum König. Dadurch verbesserten sich die Einflussmöglichkeiten und der Zugang zu politischen Informationen am Hof. Auch wenn dabei weiterhin nur theoretische Möglichkeiten verhandelt werden – welche Informationen ausgetauscht wurden, ließe sich so schwerlich rekonstruieren – sind de Vooghts Ergebnisse weitaus besser empirisch verankert, als die aufgrund mangelnder technischer Möglichkeiten oft noch sehr spekulativen Modelle klassischer Autoren. So argumentiert de Vooght zurecht, dass Elias den Spalt zwischen Fakten und Theorie nur unzureichend schließen konnte (S. 39).

Welche Rolle spielt nun das Essen, das auf den königlichen Tafeln serviert wurde? Anhand der historischen Ernährungsdiskurse des 19. und 20. Jahrhunderts erläutert die Autorin den Zusammenhang zwischen Ernährung und sozialem Status (S. 43ff.). Sie vergisst dabei am Ende auch nicht den mittlerweile obligatorischen Hinweis auf die kulturelle Wende in den 1980er-Jahren. Diese brachte in der Sozialgeschichte der Ernährung zahlreiche neue Untersuchungskonzepte hervor. Essen wird nun auch vor dem Hintergrund von Konzepten wie symbolischem Kapital (Weber, Bourdieu), Prestige oder sozialem Ranking untersucht (S. 48). Allein der Konsum einer Mahlzeit erzeugt somit bereits Statusrelationen. „[F]ood touches everything“ (S. 51) schlussfolgert de Vooght indem sie Counihan und Van Esterik zitiert. Ihr zweites Forschungsfeld ist damit eröffnet.

Für den belgischen Hof müsse Essen nach Mauss als „totale[s] gesellschaftliche[s] Phänomen“1 angesehen werden. De Vooght unterstreicht dies, indem sie ihren Fokus nicht nur auf Festbankette, sondern auch auf Alltagstafeln legt. Die Differenzierung der höfischen Mahlzeiten ermöglicht einerseits die Rekonstruktion sozialer Distinktionsmechanismen am belgischen Hof. Andererseits ermöglicht sie eine Untersuchung der Exklusivität des Essens sowie der höfischen Essgewohnheiten. De Vooght verortet die belgische Hofküche somit im Rahmen der europäischen Esskultur des 19. Jahrhunderts. Dass sie mit ihrer oft zitierten Annahme, Eliteessen orientiere sich im 19. Jahrhundert hauptsächlich an der französischen Küche (S. 91), unhinterfragt dem aktuellen Forschungskonsens folgt, ist hinnehmbar. Für de Vooghts qualitative Analyse hat diese Aussage ohnehin nur eine geringe Relevanz. Zudem trägt die Autorin durch ihre Untersuchung letztlich zu einer Relativierung dieser Position bei.

De Vooghts qualitative Analyse der Menükarten ist ähnlich umfassend wie die des sozialen Netzwerkes. Der These folgend, jede Mahlzeit am belgischen Königshof sei kodifiziert gewesen, entwickelt die Autorin vier Untersuchungskriterien (S. 71ff.): (1.) Die Anzahl der servierten Gänge war bis ins späte 19. Jahrhundert maßgebend für den Reichtum einer Küche. (2.) Die Zahl der servierten Fleischgänge sagt etwas über die Exklusivität einer herrschaftlichen Tafel aus. (3.) Ebendiese Exklusivität wurde aufgrund ihrer oft aufwendigen Zubereitung seltener Zutaten auch durch das Servieren von Desserts unterstrichen. (4.) Ob es sich um ein Mittag- oder ein Abendessen handelte, gibt schließlich Auskunft über die Wichtigkeit eines Anlasses. Abendessen waren nach de Vooght die wichtigste Mahlzeit im 19. Jahrhundert (S. 73). Für alle vier Kriterien wurde die jährliche Veränderung berechnet. Und schließlich wurden alle Mahlzeiten als „ordinary“, „average“, „distinguished“ oder „exclusive“ eingestuft (S. 241).

Auch wenn sich der belgische Königshof im 19. Jahrhundert neben anderen Institutionen behaupten musste, blieb er zumindest, mit den Worten de Vooghts ein „locus of (cultural) power“ (S. 243). In den Wochen nach ihrer Krönung beispielsweise luden sowohl Leopold I. als auch sein Sohn zu zahlreichen Tafeln am Hof, um in In- und Ausland Vertrauen für ihre politischen Positionen aufzubauen (S. 239). Auch für den weiteren Verlauf ihrer Regierungszeiten spiegeln die Gästelisten stets die politischen Interessen der Könige wieder. Neben Angehörigen der königlichen Familie setzte der innere Kern sich vor allem aus Ministern, Offizieren, prominenten Senats- und Parlamentsangehörigen, Diplomaten, Angehörigen der Gerichtshöfe und sonstigen Würdenträgern aus Politik und Gesellschaft zusammen (S. 241). Die Mahlzeiten, die zu diesen Anlässen serviert wurden, waren nicht immer exklusiv. Seltene Gäste, wie ein Angehöriger der US-Regierung oder verschiedene Angehörige des europäischen hohen Adels bekamen oft bessere Mahlzeiten serviert als regelmäßige Gäste (ebd.). De Vooght fasst zusammen, dass der Hof auch im 19. Jahrhundert ein Ort blieb, an dem man Kontakte knüpfen konnte. Von einem Verlust des politischen Einflusses kann somit kaum die Rede sein. Was jedoch sank, war der kulturelle Einfluss. Die belgische Hofküche im 19. Jahrhundert zeichnete sich zwar durch ihre hohe Qualität aus, sie war jedoch kein Trendsetter. Der Hof war ein Zentrum der Verbreitung kultureller Muster, ein Zentrum kultureller Deutungshoheit war er nicht.

„The King invites“ ist eine sehr interessante, mit allen gängigen Formalia ausgestattete Studie, die vor allem durch ihr hohes theoretisches Reflexionsniveau beeindruckt. Leider wirkt sich dies an einigen wenigen Stellen auch auf die Lesbarkeit der Studie aus. Sätze wie: „The king and queen […] obtained closeness centrality higher than 0.90, while the lord chamberlain scored only 0.79 […]“ (S. 142) führen dazu, dass Leser oft blättern müssen, wollen sie die Geheimnisse dieser Zahlen lüften. Ein wenig mehr interpretatorische Hilfestellung hätte hier sicher nicht geschadet. Überaus hilfreich sind hingegen die zahlreichen informativen Diagramme und Tabellen, mit denen de Vooght ihre Analysen verdeutlicht. Nicht nur deshalb lässt sich unterm Strich uneingeschränkt festhalten: Für die Sozialgeschichte europäischer Königshöfe des 19. Jahrhunderts setzt de Vooghts Studie neue Maßstäbe.

Anmerkung:
1 Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1990, S. 17.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension